Das Schweigen zwischen sich als friedliche Übereinkunft, als ein unzerreißbares Band, und alle Worte und Bilder der Jugend für immer ausgelöscht." Das wünscht sich Jens, sonst wäre er nicht zurückgekommen in den kleinen Ort seiner Kindheit unmittelbar an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, aber das mit dem Auslöschen funktioniert nicht. Jedenfalls nicht bei ihm, einer der Hauptfiguren in Jan Böttchers Roman Nachglühen. Ich schaff das, wir schaffen das, hatte er zu seiner Frau gesagt und sich in den Umbau des elterlichen Gasthofs gestürzt. Geschleppt und gebaut und neu möbliert und die Frau überzeugt, alles in Göttingen hinzuschmeißen und in diesen kleinen Winkel zu ziehen, der nach der Wende plötzlich wieder zu Niedersachsen gehören will. Aber schon die Rede zur Wiedereröffnung der kleinen Kneipe bringt er nur aufs Papier, über die Lippen muss sie Anna kommen, der neuen Wirtin, seiner Frau, die den Deichkrug schmeißen soll.
Der 1973 in Lüneburg geborene Böttcher siedelt seine Geschichte über die Nachwendezeit in einem Dörfchen namens Stolpau an, überschaubar groß, die Elbdeiche in unmittelbarer Nähe, da, wo der Fluss einen kleinen Bogen schlägt. Aber auch 18 Jahre nach der Wende lässt sich keine Geschichte erzählen, die das Leben vor der Wende aussparen könnte. An diesem Ort sowieso nicht. Das Ost-West-Thema ist offenbar noch lange nicht ausgereizt, wie oft passiert schon was, das jeden Bürger betrifft und zu Reaktionen zwingt. Die unmittelbare Grenznähe bestimmte eben das Leben, das Denken und das Spiel der Kinder selbstverständlich auch. Wer damals nicht wegzog oder "vorsorglich ausgesiedelt" wurde, musste "harsch, wortkarg, schwierig" sein. Absolut erdverbunden und bereit, den Blick über die Elbe zu meiden, (ein kleines Dachfenster ist der einzige Ort, an dem der grüne Saum des anderen Ufers geahnt werden kann), die Geräusche der Grenze (Grenzposten fahren hin und her, manchmal der dumpfe Knall einer explodierenden Mine - kein Mensch ist betroffen, ein Tier) als alltäglich zu akzeptieren, die Stille dazwischen zu ertragen.
Höhepunkte schafft man sich selbst oder es gibt sie nicht, sogar die Kneipe muss schließen. Jens Lewin und Jo Brüggemann, ungefähr gleich alt, wachsen dort auf. Es gibt nicht viele Kinder, also sind sie Freunde. Als sich die Dorfbewohner mit Bolzenschneider und Zangen im Herbst ´89 auf die Grenzzäune stürzen, ist aber nur einer dabei - Jo. Jens Lewin, der Mann, der siebzehn Jahre später den Gasthof seiner Eltern übernehmen wird, fehlt, weil er im Gefängnis gelandet ist.
Böttcher erzählt die Geschichte in erinnerten Episoden. Jeder Spaziergang heute hat eine Entsprechung damals. Jede Begegnung hat eine Bedeutung. Jedes Feld kann erzählen, jeder Turm. Dörfer speichern offenbar anders als Städte, was in ihnen passiert. Niemand kann ausweichen, die Wurzeln in vorausgegangene Jahrzehnte halten fest. Wer sich einmal gelöst hat, tut gut daran wegzubleiben. Denn Menschen sind lebendige Gefäße, sie nehmen auf, stellen Verbindungen her, fügen hinzu, manchmal verschütten sie etwas, gelegentlich vergessen sie, was einmal hinein gefüllt wurde. Neues fällt auf immer anders zusammengesetzten Boden.
Jens Lewin arbeitet als Journalist in Göttingen, glaubt sich zu kennen. Nachglühen aber beschreibt das Konglomerat in ihm, das Unwägbare, das, was so gut verdeckt war, das es in der Fremde nicht mehr da zu sein schien, nach der Rückkehr indes eine Melange ergibt, die nicht beherrschbar ist. "Kein Mensch", dachte Jens, "kann seinen Alltag nach Jahren einfach so abstreifen, jeder trägt dieses Gerade-noch mit sich herum, jede Wunschvorstellung entspringt der Vergangenheit."
Jo Brüggemann lebt als Polizist in Hamburg, besondere Vita zunächst nicht erkennbar. Der eine kommt zurück, weil er den Großvater pflegen muss, der andere, weil ihn der Gasthof reizt. Für beide ist die Rückkehr an den Ort ihrer Kindheit der Katalysator, der das Leben in taugliche und untaugliche Abschnitte teilt.
Der Autor hat diesen Stoff in der Erzählung "Freundwärts" schon einmal verarbeitet und dafür beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2007 den Ernst-Willner-Preis erhalten (Freitag 27/28/2007). Nun stellt er seine Fragen über Vertrauen, Verantwortung, Verrat, über die Art, wie man leben sollte zwar an alle, spitzt sie aber auch in der größeren Form auf die zwei Jugendfreund-feinde zu. Bei dieser Konstellation wäre es einfach für ihn, Gut und Böse überschaubar und politisch korrekt auf Jens und Jo zu verteilen. Er entscheidet sich anders und lässt vor allem Jens Lewin, dem sein Tun von damals heute Ehre einbrächte, der der Geschädigte ist, in Schweigsamkeit versinken. Nicht nur denen gegenüber, die am Ort geblieben sind, vor allem gegenüber seiner völlig neutralen, weil aus ganz anderen Zusammenhängen kommenden Ehefrau und öffnet damit einem zweiten Verrat Tür und Tor.
Die Entscheidung, wo Schuld ist, wo der Verrat beginnt, trifft nicht der Autor. Er erklärt überhaupt nicht, er erzählt und hat sich erzählen lassen. Böttcher, der deutsche und skandinavische Literatur studierte und heute auch als Songschreiber und Werbetexter arbeitet, führt seine Figuren fast wertfrei ein, lässt ihnen Raum. Niemand ist nur böse oder nur gut. Jablonski zum Beispiel, der unangepasste Kauz, der in einer Bude hauste und Tiere mit selbst gebastelten Kameras immer ein bisschen unscharf fotografierte, lebt inzwischen in London, ist nicht nur anerkannt, sondern gefeiert und merkwürdig distanziert. Das Dorf erwartet nichts von ihm. Die Jungen aber, die er beeinflusst hat, sie wüssten gern das eine oder andere und blitzen ab. Schuld? Gleichgültigkeit? Jo, dieser unattraktive Mann mit langweiligem Beruf, umgibt sich mit einer interessanten Geschichte, in der er der Aktive ist, der den Freund verführt. Verrat? Jens, der aufgeweckte, kritische Jugendliche mit bösen Erfahrungen versinkt nach siebzehn erfolgreichen Jahren in krankhafter Lethargie. War er Initiator oder nur der Unglückliche, der sich erwischen ließ?
Aus dem scheinbar eindeutigen Ost-Nachwende-Aufarbeitungs-Drama schält sich ein ländlich geprägtes Freiluftirrenhaus, das Anna verzweifelt nach Normalität rufen lässt und zum Aufgeben zwingt. Denn Nachglühen erzählt von etwas Wesentlichem, das auf der Strecke geblieben ist und doch in dieser Gesellschaft sonst so ungebremst zu wuchern scheint: die Fähigkeit zur Kommunikation und damit zur Konfliktbearbeitung. Lähmung dominiert, über die Zeiten hinweg. Sprachlosigkeit. Kein schöner Ort, für niemanden. Und doch ein Ort der Sehnsucht..
Jan Böttcher Nachglühen" target="_blank">Nachglühen. Roman, Rowohlt Berlin, Berlin 2008, 256 S., 19,90 EUR
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