Der Riese Indien räkelt sich, gierig am Tag, zornig in der Nacht. Knirschend bröckeln die alten Gerüste, niemand weiß vorher, wann etwas hält und wann nicht. Gut vierzig Jahre nach der Unabhängigkeit sind die Widersprüche des Landes noch immer riesig, folgt das Leben ebenso vielen uralten Regeln wie modernen Vorgaben. Religion, Kasten, Bildung, Geld bestimmen die Chancen. Und doch beginnt jedes Leben mit den immer gleichen Erwartungen von besserem Leben und Glück, sucht jeder auf seine Weise nach einer Methode, wie er seine Vorstellungen von Zukunft umsetzen kann. Vom Dorf in die Stadt, ist noch immer der gängigste Weg und für viele führt er ebenso arm zurück. Herkunft klebte an ihnen wie zäher Schlamm.
Die Autorin Kiran Desai hat das Gefüge ihres Heimatlandes zum Thema ihres zweiten Romans Erbin des verlorenen Landes gemacht. In dichten suggestiven Szenen beschreibt sie die morbiden Verhältnisse eines ebenso schnell zerbröselnden wie sich regenerierenden Fast-Kontinents, in dem sich die geltenden Normen auflösen, bevor neue entstehen. Für sie ist nicht ausgemacht, wie viel alte Welt geblieben, wie viel neue nötig ist. Freund und Feind lassen sich schwer bestimmen. "Dieses Staatenbilden ... das war der größte Fehler des dummen Nehru. Nach seinen Regeln kann jetzt jeder Haufen von Idioten seinen eigenen Staat verlangen und bekommt ihn auch noch", sagt die Witwe des ehemaligen englischen Verwaltungsbeamten und formuliert damit sowohl Welthaltung wie Vision für das Land, dessen Zukunft sie nicht erkennen kann. Sai, Heldin und eine Art vermittelnder Figur zwischen den verschiedenen agierenden Gruppierungen, bleibt seltsam neutral, offen für viele Optionen, obwohl auch bei ihr von Volksnähe keine Rede sein kann. (Sie spricht nicht mal die Sprache ihrer Umgebung.)
Kalimpong, an den Hängen des Himalaja gelegen, ganz nahe an der Grenze zu Nepal, eigentlich dem anderen Kulturkreis schon zugehörig, - " Indien hatte sich das schmucke Königreich einverleibt, dessen blaue Hügel sie in der Ferne sehen konnten und aus dem die herrlichen Apfelsinen stammten und der Black-Cat-Rum, eingeschmuggelt von Major Aloo", ist das Rückzugsgebiet des Richters Jemu - Großvater von Sai - der als Aufsteiger Eltern, Frau und Tochter verstoßen hatte, die elternlose Enkelin aber nicht abwimmeln kann. England hatte begabte Köpfe aus Unterschichten rekrutiert, an die Universitäten des Mutterlandes geholt. Ärzte, Lehrer, Richter, Verwaltungsbeamte quälten sich durch die englische Ausbildung und die subtilen europäischen Methoden der Diskriminierung, um an die ersten Sprossen der indischen Gesellschaftsleiter zu kommen, sie peu a peu hinauf zu klettern und revanchierten sich mit Angepasstheit, die sie heimlich selbst verachten. Ihre Familien hatten alle Ersparnisse und den gesammelten Ehrgeiz in sie investiert. Und hingen dann - Vater, Mutter, Geschwister - an den wackeren Kletterern wie Ballast. Wer den Aufstieg schaffen wollte, musste sentimentale Bindungen abschütteln. Gründlich. Endgültig. Krachend. Zerstörerisch, so wie Sais Großvater.
Die indischen Pensionäre der englischen Verwaltung leben in Häusern, deren Erbauer längst ins europäische Mutterland entlassen sind. Der Monsunregen tropft durchs Dach und kriecht in die Mauern, es reicht für einen halbwegs sorgenfreien Alltag, Sanierung des Hauses ist nicht inbegriffen. Desai findet wunderbare Bilder, um den Zerfall zu beschreiben, aber es geht nicht um den Charme des Morbiden, es geht darum, was eine nachwachsende Generation mit solcher Hinterlassenschaft anfängt. Noch sind der ehemalige Richter, die Witwe des Verwaltungsbeamten und deren Schwester um ein Vielfaches besser gestellt als die übrigen Bewohner. Ihr bescheidener Wohlstand hebt sie ab von denen, die täglich auf dem Markt feilschen. Sie haben noch Dienstboten, auch wenn die kaum Lohn und noch weniger Anerkennung erfahren und nur bleiben, weil sie kein anderes Zuhause haben. Die Welt dieser grotesken Gesellschaft, deren Liebe nicht Menschen, sondern Hunden gilt, kommt wie ein zerschrammtes Abziehbild englischer Kolonialverwaltung daher, man pflegt die Teatime, hört indische Nachrichten in englischen Sendern, ist stolz auf Karrieren, die längst nicht mehr zählen, versichert sich einer gewissen Bildung und fährt damit klammheimlich ein kleines Taschengeld ein. Der Ton des Richters Jemubhai Popatlal Patel ist noch immer herrisch. " Der Ehrgeiz plagte ihn ... er wusste, dass... sich in der Geschichte nur selten ein Wurmloch auftat, das einen akrobatischen Satz nach vorn erlaubte." Und so klammert er sich an die gehabten Befugnisse, gibt lächerliche Anweisungen, kommandiert einen Koch, dessen Amt die Verwaltung des übertünchten Verfalls ist. Ein Koch gilt wenig in der indischen Hierarchie, der Koch eines abgesetzten Aufsteigers gilt nichts.
Und so erzählt der rührend aufrichtige Diener eine respektheischende Familiengeschichte, hinter der die Enkelin nur mühsam das Körnchen Wahrheit entdeckt. Um Sais Erziehung, die Eltern hatten vor Jahren in Moskau schon mal den Traum vom Weltraum geträumt, bevor sie bei einem simplen Verkehrsunfall starben, kümmern sich Koch und die Witwen, bis die moderne Technik ihnen Grenzen aufzeigt. Der engagierte Lehrer Gyan lehrt nicht nur Physik und moderne Wissenschaft, jung und schön - wenn auch mit nepalesischem Hintergrund -, kopiert er für das junge Mädchen auch die Welt der nächtens heimlich aufgesogenen englischen Liebesliteratur. Dieses Idyll aber steht von Anfang an auf wackligen Beinen. Die Autorin beginnt ihren Roman mit einem Überfall auf das Haus des Richters, bei dem Gewehre und ein paar Kleinigkeiten entwendet werden, vor allem aber Macht demonstriert und die Bewohner gedemütigt werden.
Schon dieser Auftakt macht klar, es geht der Autorin nicht um Indiens Gegenwart, es geht darum, was eine gespaltene, extrem kontrovers denkende und agierende Jugend mit dem Erbe anfangen wird. Der Roman entwickelt von Anfang an ein internationales Szenarium: Inder, meist illegal im Ausland, erfahren die Welt auf andere, allerdings nicht weniger demütigende Art. Biju, der Sohns des Kochs, bündelt, gleichwertig in der Erzählqualität, die Hoffnungen, Enttäuschungen, Abstürze und kleinen Aufstiege derer, die in den untersten Etagen dieser Welt hart arbeiten, ohne mit Anerkennung rechnen zu dürfen: Wir könnten ihnen den Arsch abwischen und sie würden uns dennoch verachten... ist das Resumee. Kiran Desai, die wahlweise in Amerika, England und Indien lebt, kennt die Verhältnisse genau. Da bleibt kein Raum für Gewissheiten, außer einer: Indien ist wie ein Stehaufmännchen. Irgendwann, irgendwo, mit irgendwem ragt es dann doch senkrecht in die Landschaft.
Kiran Desai erzählt in Rückblenden. Kurze, übersichtliche Kapitel erleichtern das Lesen, die Parallelität der Ereignisse in Indien und Amerika funktioniert wie eine Art Schrittmacher der Geschichte, rastergenaue Zeichnungen der immer doppelbödig angelegten Figuren lassen seltsam ungewöhnliche Blicke zu: "Onkel Potty saß da und blickte hinaus auf Wärme und Glanz, seine Nase schwitzte Fett aus, genau wie die Salami und der Käse. Ein Häppchen Käse, ein Häppchen Salami und einen Schluck eisgekühltes Kingsfisher-Bier. Er lehnte sich zurück, bis sein Gesicht im Schatten lag. Die Welt war im Lot. Die wichtigsten Elemente waren im Gleichgewicht, Hitze und Kühle, Flüssiges und Festes, Sonne und Schatten."
Die Balance aber ist trügerisch. Vor dem Hintergrund des Ghurka-Aufstandes Mitte der achtziger Jahre zerbrechen die glücklichen Momente in tausend winzige Teilchen, die sich nicht wieder zusammenfügen lassen: "Der Zorn hatte sich zu Waffen und Parolen verdichtet ... und ... derselbe Wohlstand, der sie wie eine Schmusedecke eingehüllt hatte, setzte sie der Welt nun ungeschützt aus". Gyan, der Lehrer und Liebhaber, schreit Sai die Parolen der Ghurkas ins Gesicht, voller Hass und Verachtung auf die Schicht derer, von denen er als Lehrer lebt. Die sozialen Gegensätze brauchen nur einen winzigen Funken und die Welt explodiert, die kleine um Sai und Biju und Gyan und die globale auch. Die Erzählerin wertet nicht, sie findet überzeugende Bilder für diese Tatsache und hinterlässt einen nachdenklichen Leser. Zwar ist das bei ihr nicht das Ende der Liebe, aber das Ende der ärmlichen Illusionen. Die Reste ideologischer Abhängigkeiten werden freundlich ironisch ausgespieen. Das, was im Buch kommt, ist weder gerechter, noch freundlicher: Die marodierenden Banden, die dem zurückkehrenden Biju im Wortsinn das Hemd herunterreißen sind lediglich indisch.
Kiran Desai: Erbin des verlorenen Landes. Aus dem Englischen übersetzt von Robin Detje. Berlin, Berlin 2006, 430 S., 19,90 EUR
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