Die Schande

Begegnungen zwischen Frauen aus Ravensbrück und Abgesandten von Daimler-Benz, jetzt DaimlerChrysler

Vor einigen Wochen trafen sich in einem Hotel nahe der Gedenkstätte des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück etwa fünfundzwanzig alte Frauen und zwei Abgesandte des Konzerns Daimler-Benz AG.

Dies war nicht das erste Treffen, die Begegnung der Frauen aus Polen und Ungarn mit den Herren aus Süddeutschland hat eine lange Vorgeschichte.

Genaugenommen fand die erste Begegnung schon im Oktober 1944 statt, natürlich nicht in solch einem Hotel, sondern im Lager Ravensbrück selbst. Die polnischen Frauen waren damals junge Mädchen aus dem zerstörten Warschau, die man von der Straße weg geholt und verschleppt hatte, die Ungarinnen waren Jüdinnen aus Budapest. In Ravensbrück waren die Baracken wegen der großen Transporte aus Osteuropa überfüllt und die Frauen lagen in einem riesigen Zelt auf dem Boden. Viele starben schon in den ersten Tagen nach der Ankunft.

Die erste Begegnung mit der Daimler-Benz AG fand in diesem Spätherbst 1944 auf dem Appellplatz statt, nackt mußten die Frauen im Kreis gehen, »wie Pferde im Zirkus«, erinnert sich Alicja Kubecka, damals 17 Jahre alt. Ein Ingenieur der Daimler-Benz AG suchte gemeinsam mit dem SS-Lagerkommandanten, der eine Reitpeitsche dazu benutzte, die kräftigsten Mädchen heraus. Diese blieben nicht alle am Leben, aber ihre Arbeitskraft war wertvoll, sie wurden in einem »nationalsozialistischen Musterbetrieb« zur Rüstungsproduktion eingesetzt. 1.100 Frauen aus Ravensbrück, darunter auch sowjetische Frauen, slowakische Jüdinnen, französische Widerstandskämpferinnen, Tschechinnen und jugoslawische Partisaninnen kamen im Herbst 1944 ins Flugzeugmotorenwerk Genshagen/Ludwigsfelde, wo neben der deutschen »Gefolgschaft« schon einige tausend »Ostarbeiter« und Kriegsgefangene unter unvorstellbaren Bedingungen wie Sklaven ausgebeutet wurden. Es gab Unfälle, Krankheiten, die Arbeitsunfähigen brachte man ins Hauptlager zurück. Die überlebenden Frauen mußten im April 1945 antreten, einige erschoß man an Ort und Stelle, die anderen wurden ins Konzentrationslager Sachsenhausen getrieben. Die Jüdinnen wollte man noch in Ravensbrück vergasen, aber die Gaskammern arbeiteten nicht mehr und so gingen auch sie auf den Todesmarsch in Richtung Ostsee. Manche fanden ein namenloses Grab am Wegrand, andere liegen in Massengräbern in Neustrelitz, Parchim, Grabow ... Die Überlebenden, krank an Körper und Seele, kehrten nach der Befreiung heim und versuchten, weiterzuleben. Manche gaben diesen Versuch noch nach einem jahrelangen Kampf auf. Die jüdische Bildhauerin Edit Kiss aus Budapest, die mit ihren 40 Jahren eine der ältesten Frauen im KZ-Außenlager Genshagen gewesen war, malte schon im Sommer 1945 einen Zyklus von 30 Gouachen über das Lager (siehe Bild rechts). Sie versuchte, sich die Bilder des Schreckens von der Seele zu malen, aber sie blieben in ihr. 1966 tötete sie sich in einem Pariser Hotelzimmer. Und die Polin Maria Walachowska mit der Häftlingsnummer 8515 sagte noch 1992 einem Filmteam, sie sei keinen einzigen Tag nach ihrer Rückkehr aus Genshagen gesund gewesen. Sie habe nicht einmal genug Geld, um sich die nötigen Medikamente zu kaufen. Sie hasse die Deutschen. Bald darauf starb sie.

Nach einem Urteil des Deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 13. Mai 1996 können ehemalige Zwangsarbeiter ihre Entschädigung individuell nur noch bis zum 13. Mai 1999 einklagen. Zum Jahreswechsel schickte Herr Dr. Ulsamer den »Genshagenerinnen« eine vorgedruckte Karte voller guter Wünsche. Die Warschauerinnen haben jetzt mit einer Gruppe von 60 Männern Kontakt aufgenommen, den Überlebenden von über tausend Zwangsarbeitern, die in einem Außenlager von Daimler-Benz in Mannheim ganz ähnliches erlitten wie die Mädchen damals in Genshagen. Der Sprecher der Männer heißt Eugeniusz Szobski. Seit zehn Jahren kämpft er mit dem Konzern um den Lohn. Die Briefe der Herren vom Vorstand zeigte er Frau Rucin´ska.

Höfliche Briefe, hinhaltende Formulierungen, Versatzstücke, die ihr bekannt vorkamen. Die Männer wollen nicht warten, bis der Termin vorüber ist. Sie erwägen die Klage über einen amerikanischen Anwalt, der schon gegen die Schweizer Banken erfolgreich war. Frau Rucin´ska berät sich mit ihren Gefährtinnen. Warum haben sie sich nicht früher mit den Männern verständigt?

»Unsere Jungs« sagen die Frauen zärtlich. Und sie spüren, daß sie lange, sehr lange gewartet haben, für einige von ihnen zu lange. Aber nun ist ihre Geduld am Ende. Wie die von Agnes, Eva und Judith aus Budapest, wie die der slowakischen Jüdin Edita. Die blieb nach der Befreiung in Deutschland, weil zu Hause alle tot waren. Edita kämpft seit Jahrzehnten gegen die Depressionen. Ihre wunderbare Begabung für Liebe und Freundschaft, für Glanz und Schönheit, ihre bunten Tücher helfen nicht gegen die Alpträume. Sie war 14 Jahre alt, als sie nach Auschwitz kam, mit 16 war sie in Ravensbrück, mit 17 arbeitete sie für Daimler-Benz in Genshagen. Jetzt ist sie über 70 und sie will ihren Lohn. Sie hat es den Herren von Daimler gesagt, bei der letzten Begegnung im November.

Wahrscheinlich hört ein Konzern nicht auf Menschen, nur auf Anwaltskanzleien.

Es gibt ein fast ungebräuchlich gewordenes deutsches Wort, das seit Martin Walsers Rede wieder öfter verwendet wird. Es heißt: SCHANDE.

Gekürzte Online-Fassung. Den vollständige Text enhält die Druckausgabe

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