Landpartie in Lettland

Reisebericht Unterwegs im Norden Lettlands. Störche, Birken und glasklare Flüsse. Tante Mudīte erzählt aus ihrer kargen Kindheit. Danach feiern wir mit den Toten: Kapu Svētki

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ein Fluß in Naukschen
Ein Fluß in Naukschen

Bild: Sirenen und Heuler

Die Idee nach Naukschen in Lettland zu fahren, entstand in der Weihnachtszeit. Ich war beim Plätzchenbacken. Genauer mache ich baltische Speck-Piroggen. Ich knete Mehl, Butter und Quark ganz schnell zu einem feinen Teig. Da kommt Kaspars in die Küche und sagt “Speck-Piroggen, machen wir in Lettland ganz anderes nur mit Mehl, Hefe und Ei. Was ist das für ein komisches Rezept?“

“Das Rezept kommt von meiner Freundin Else Natalie“, erwidere ich, “sie entstammt einer uralten, adeligen baltdeutschen Familie und weiß ganz bestimmt, wie echte Speck-Piroggen gehen“. Als ich die Füllung für die Piroggen mache aus Speck, Zwiebeln, Rosinen und Pfeffer, protestiert Kaspars erneut. Denn in eine Speck-Pirogge gehören nur Zwiebeln und Speck.

Viele Köche verderben bekanntlich den Spaß, deswegen müssen wir diesen schwelenden Piroggen Konflikt erst einmal beilegen. Wir lösen dieses weltanschauliche Küchen-Palaver elegant mit einer klitzekleinen sozial-anthropologischen Analyse. Die im Ergebnis besagt, dass Kaspars die Speck-Piroggen für die einfachen Leute in Lettland kennt aus Hefeteig, Speck und Zwiebeln. Ich Piroggen aber nach einem baltischen Oberschichts-Rezept herstelle. Mit all den richtig guten, schmackhaften Zutaten, die den armen lettischen Bauern vorenthalten waren. Weswegen sie keinen Eingang in die lettische Küche gefunden haben.

Von Adel und Leibeigentum

Die Familie von Else Natalie kam über Bremen nach Riga. Kaiserin Maria Theresia hat aus ihren Vorfahren im 18. Jahrhundert echte Adelige gemacht. Wie es sich für baltdeutsche Aristokraten gehört, haben sie die Gewinne aus Handelsgeschäften in Riga reinvestiert und zwar in Grund und Boden. Die weitverzweigte Familie hatte große Güter in Estland: Carolen und Kawershof und im lettischen Livland das Gut Lemburg und eben Naukschen.

Als Kaspars “Naukschen“ hört, sagt er: “Naukšēni? Da kommt die Familie meiner Mutter her. Mein Urgroßvater war noch Leibeigener auf dem Gut in Naukschen.“ So überschneiden sich zur Weihnachtszeit in meiner Berliner Küche zwei Lebenserzählungen einander fremder Menschen. Sie teilen Erinnerungen an eine lang zurück liegenden Vergangenheit, als es noch Sklaverei in Europa gab und baltische Adelige auf großen Gütern Speck-Piroggen aßen. An diesem mehlbestaubten Nachmittag erblickt der Plan, nach Naukschen zu reisen, das Licht der Welt.

Es dauert noch, bis es los geht. Wir fahren am ersten August Wochenende nach Naukschen. Zu Kapu Svētki, einer Art Allerseelen oder Ewigkeitssonntag unter heidnisch, praller Sonne, mitten im Sommer. Samstags Nachmittag brechen wir in Riga auf. In einem alten Audi fahren wir gute 3 Stunden nach Nordosten, Richtung Estnische Grenze. Es geht durch die flache lettische Landschaft. Birken, Fichten, abgeerntete Felder und grüne Wiesen.

Störche stehen auf Öko-Frosch

Störche schwanken paarweise mit eckigen Bewegungen durch die Felder. Kaspars erklärt mir, dass die Störche Lettlands ursprünglich deutsche Emigranten sind. Sie wanderten Ende des 18. Jahrhunderts ein, als die Bauern in Deutschland begannen, die Landschaft zu bereinigen und Kunstdünger auf die Äcker zu bringen. Damit verdarben sie den Störchen den Appetit. Auswandern nach Lettland war eine gute Alternative. Dort gab es Frosch noch als Bio-Snack ganz ohne Chemie.

Komisch, dass die Störche so zahlreich sind. Die Landschaft wird beherrscht von Spuren industrialisierter Landwirtschaft. Rostige Lagerhallen ehemaliger sowjetischer Kolchosen, landwirtschaftlicher Großbetriebe, modern mitten in den Feldern vor sich hin. Öde Mehrfamilienhäusern, die sich sonst in schlecht beleumundeten Suburbs finden, ragen am Ende von staubigen Feldwegen wie Beton-Ufos in die Landschaft. “Schau mal“, sagt Kaspars, “dahinten steht ein riesiger Kuhstall. In diesem Plattenbau an der Straße wohnen die Frauen, die die Kühe gemolken haben.“ Trostlose Reste einer gescheiterten Planwirtschaft. Tatsächlich wurden auch die Störche von der Planwirtschaft vertrieben. Erst nach deren Ende sind sie auf die brachliegenden Felder Lettlands zurück gekehrt.

Ankunft in Naukschen

Wir erreichen Naukšēni am frühen Abend. Und schlagen unser Zelt bei Tante Mudīte auf. Auch Mudīte ist zu Kapu Svētki mit ihrer Tochter die 170 Kilometer aus Riga nach Naukschen gefahren. Die Tochter ist sogar aus Litauen angereist. Mutter und Tochter sitzen beim Abendessen auf der Veranda eines einfachen Neubaus. Das Haus ist auf den Kellergewölben von Mudītes Elternhaus erbaut. Es ist ein erstaunliches Haus. Es ist nur dafür da, dass Mudīte und ihre Familie einmal im Jahr, zu Kapu Svētki nämlich, dort übernachten können. Soweit geht die Heimat- und Familienverbundenheit der jetzigen Großelterngeneration.

Dabei kennt Mudīte die Welt. Als Frau eines Diplomaten lebte sie lange in Indien und der arabischen Welt. Sie kochte schon mit exotischen Gewürzen wie Currypulver und Cayenne Pfeffer, als nur Rote Beete und Käsekuchen in Lettland keine Mangelware waren. Kaspars flüstert mir ins Ohr: “Diese Privilegien hatte sie, weil ihr Mann KGB-Geheimagent war.“ Heute arbeitet die alte Dame in Riga als erfolgreiche Strafverteidigerin. Die Verbundenheit zur Heimat ist ihr geblieben.

Tante Mudīte erzählt

Bei dunklem Bier, Roggenbrot und fettem Speck kommt sie in Plauderlaune. Genussvoll zündet sie sich eine Zigarette an, pafft winzige Rauchwölkchen in die Luft und beginnt von damals zu erzählen. Früh morgens brachte sie die Kühe auf die Weide. Oh, das war bitterkalt. Schuhe gab es keine. Die Füße blau gefroren. Sie wartet. Da kackt eine Kuh. Flink steigt sie in den dampfenden Fladen, wärmt die eiskalten Füße auf. Immer wieder. Jeden Morgen dasselbe.

Das geht nicht in meinen Kopf. Eine elegante Dame mit hochgestecktem, weißen Haar, ganz dezentem Makeup, einem schlichten, blauen Etuikleid und schicken Pumps verbringt einen Teil ihrer Kindheit im Kuhfladen. Ihr ist das nicht anzusehen. Nichts hängen geblieben, denke ich. Mudīte lacht, wahrscheinlich freut sie sich über mein staunendes Gesicht und ihre gelungene Geschichte.

“Meine ersten Schuhe, die ich kaufte – das kannst Du Dir bestimmt gut vorstellen – sollten etwas ganz besonders Elegantes sein. Lackschuhe!“ Fährt sie fort. Und dann berichtet sie, wie sie auf diese Schuhe sparte, die Lackschuhe kaufte, diese beim ersten Regen den Lack verloren und sich letztendlich in einer Art Pappmaschee auflösen. Schon wieder lacht sie, springt auf und ruft: “ich habe Drogen“. Mudīte ist wirklich ein unterhaltsames, altes Mädchen. Sie geht ins Haus und bringt eine große Schale Henfbutter an den Tisch.

Hanf in Lettland

Henfbutter ist so etwas wie das lettische Nutella. Sie ist sogar im Supermarkt erhältlich. Dennoch wird sie dem Reisenden gerne als etwas unerhört Subversives angetragen. Dessen Verzehr den Konsumenten in ernsthaften Konflikt mit dem Gesetzt bringen kann. Immerhin wird Henfbutter mit gerösteten und zerstoßenen Hanfsamen hergestellt. In Deutschland war deren Besitz lange verboten, jetzt werden Hanfsamen sogar in Ökoläden feilgeboten.

Solche Scherze werden häufig gemacht. Ein Beispiel: Meine lettische Lieblingsschokolade heißt Varveritte. Ziehe ich in Lettland eine Tafel Varveritte aus der Tasche, nimmt mich ein lettischer Freund oder Bekannter zur Seite und raunt mir ins Ohr: “Varveritte heißt eigentlich Eichhörnchen …“ Dann dreht er sich um, kontrolliert, ob keiner zuhört, senkt die Stimme auf eine kaum hörbare, konspirative Flüsterfrequenz und ergänzt giggelnd: “… aber auch Muuuuuschi“. Lach! Prust! Heiterkeit! Kopfnicken!

Von den Wunderwirkungen des Hanfs weiß Mudīte noch folgendes zu berichten. Ihre Mutter hat die Hähne, die sich beim Hahnenkampf verletzt hatten, holterdiepolter in das Hanffeld geworfen. Gesund und munter kamen sie wieder daraus hervor. Hahnensuppe gibt es zu Kapu Svētki. Morgen ist Kapu Svētki. Das wird ein langer Tag. Ab in die Koje. Mudīte steht auf. Nimmt einen alten, rostigen, Schlüssel vom Haken und geht einmal um das Haus den Keller abschließen. Genauso hat das ihre Mutter gemacht und davor deren Mutter. Am Morgen wird der Keller aufgeschlossen. Am Abend wird der Keller wieder zugeschlossen.

In Lettland sind die guten alten Zeiten an manchen Orten noch sehr nah. Es ist ein Land voll gestopft mit kleinen Jungen Abenteuern. Bei Mudīte gibt es zum Beispiel keine Dusche. Deswegen beginnt der nächste Tag mit einem romantischen Landschaftsbild. Mit dickem Kopf und wirrem Blick, das Handtuch unterm Arm schlurfen wir zum Fluss.

Eine kleine Lichtung. Ein flaches Ufer. Weiße Seerosen schweben auf einer blitzeblanken Wasseroberfläche. Binsen pendeln in der leichten Morgenbrise. Schlanke junge Birkenstämme recken sich in den Himmel. Ich prüfe das Wasser mit der Zehenspitze, dann mit dem ganzen Fuß, dem Knie. Ich atme scharf aus. Platsch! Ist das kalt. Es ist so kalt, ich muss prustend loslachen. Hellwach bin ich jetzt auf jeden Fall.

Gut Naukschen in Lettland

Zeit für Gut Naukschen. In Lettland sind die Güter der deutschen Adeligen wirtschaftlich unabhängige Einheiten gewesen. Alles zum Leben notwendige wurde hier produziert. In der Mitte das Gutshaus. Häufig auf einem Hügel, wenn es sich aus einer alten Festung entwickelt hat. Die anderen Gebäude sind locker um das Gutshaus verteilt. Kaspars zeigt mir die Wassermühle mit Sägewerk, die Wodka-Brennerei, die Schmiede, die Molkerei, den Getreidespeicher, das Gasthaus und das Kavaliershaus für die Besucher.

Das Gutshaus Naukschen steht in einem schönen Park hoch über dem Fluss. Es ist ein klassizistischer Bau mit einer überdachten Freitreppe und einer hübschen Gartenfront. Frisch renoviert in schwefeligem Gelb bemalt. Es gehört der Gemeinde. Drin hat sich eine Hochzeitsparty versammelt. Wir spähen durch einen Türspalt ins Innere. Hier ist alles modern, keine Patina, keine Geschichte. Wir wollen nicht stören. Ein paar Fotos. Ein Spaziergang im Park. Weiter geht es nach Rūjiena.

Die Sonne steigt in den blauen wolkenlosen Himmel. Als wir in Rūjiena ankommen ist es schon sehr, sehr warm. Wir parken den Wagen am Stadtrand direkt an der Friedhofsmauer. Glück gehabt mit dem Parkplatz. Denn Rūjiena feiert Kapu Svētki. Eine Art Allerseelen, mitten im Sommer. Andenken an die Verstorbenen. Besuch der lebendigen Familie bei der toten Familie.

Kapu Svētki – feiern mit den Toten

Am Eingang zum Friedhof begrüßt uns der Pastor. Hinter ihm ist ein elektrisches Klavier aufgebaut. Ein Chor singt Choräle aus dem Gesangbuch. Der Friedhof sieht aus wie ein Wald. Mächtige Bäume beschatten den Boden. Scharf umrissene Lichtinseln tanzen über die Gräber und die Grabsteine. Sommer und Friedhof. Für mich passt das nicht zusammen. Kollektives Totengedächtnis gibt es in Deutschland, wenn sich das Jahr zum Ende neigt. Die Tage kürzer werden. Der Nebel steigt. Die Depressionen drohen. Was ist hier los?

Die Gräber sind ordentlich hergerichtet. Der sandige Boden ist sorgfältig mit dem Rächen in komplizierte geometrische Muster gezogen. Wie Teppiche sieht das aus. Frische Blumen sind aufgestellt. Auf kleinen selbstgezimmerten Bänkchen warten die Verwandten der Verstorbenen auf den Besuch der Onkel, Tanten; Cousins und Cousinen; Nichten und Neffen ersten, zweiten und dritten Grades.

Kaspars Mutter ist hier beigesetzt. Tante Mudīte ist mit ihren Töchtern und Enkeln zu dem Grab ihrer Eltern gegangen. Eine Umarmung. Eine freudige Begrüßung. Eine aufmunternde Plauderei. Tröstende Gesten und Updates auf den aktuellen Stand. Vergangenheit, Andenken, Erinnerung und Gegenwart verweben sich zu einer neuen Erzählung für die nächste Generation. Früher kamen die weitgereisten Besucher aus Riga. Heute kommen sie aus aller Welt. Über 200.000 Letten sind in den letzten Jahren ausgewandert. Zu Kapu Svētki kommen sie kurz in die Heimat zurück aus Berlin, aus London oder aus dem Westerwald.

Ein Onkel Kaspars’ lädt uns zu einem kleinen Picknick ein. Etwas frische Milch, Brot, Käse und Salzgurken. Ob wir mit zum Schwimmen an den See wollen. Wir wollen nicht. Kaspars ist ein wenig melancholisch. “Jedes Jahr kommen weniger Menschen zu Kapu Svētki“, sagt er. “Vielleicht war es dieses Jahr zu heiß und die Alten sind zuhause geblieben“, überlegt er. “Oder der Weg von Riga ist einfach zu lang. Außerdem gab es Picknick früher auf dem Friedhof, nicht auf der Autohaube. Mit Hahnensuppe!“

Und langsam glaube ich, das Fest von Kapu Svētki zu verstehen. Es ist ein Ritual, bei dem sich Familien ihrer toten Lieben erinnern. Gleichzeitig wird den Toten ein neuer Platz in der Gemeinschaft zugewiesen. Ihr seid bei uns. Aber wir sind nicht bei euch. Denn wir freuen uns an der Sonne. Wir wollen essen. Und schwimmen gehen wollen wir auch.

Dieser Reisebericht erschien zuerst auf dem Reiseblog Sirenen & Heuler.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden