Matera: Urlaub bei den Höhlenmenschen

Reisebericht Matera in Süditalien. Der Autor Carlo Levi und Pier Paolo Pasolini waren hier. Was hat diese berühmten Künstler in die ländliche Einöde des Mezzogiornos verschlagen?

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Die Höhlensiedlungen genannt Sassi in der Altstadt des süditalienischen Matera gehören zum Weltkulturerbe
Die Höhlensiedlungen genannt Sassi in der Altstadt des süditalienischen Matera gehören zum Weltkulturerbe

Foto: imagebroker

Übernachten in einer Höhle. Hört sich nach Steinzeit und Überlebenstraining an. Muss aber nicht sein. Es gibt auch richtig chice Höhlen mit Federkernmatraze, Pay TV und fließend warmen Wasser. Genauso wie bei Fred Feuerstein. Ich habe meine Höhle in der Locanda di San Martino bezogen. Mitten in den Sassi von Matera.

Das Hotel hat viele Sterne und der Survival Faktor tendiert gegen Null. Trotzdem ist die Locanda ein ungewöhnliches Hotel. Nichts hier ist Nullachtfuffzehn. Denn früher waren alle Zimmer Wohnhöhlen der armen Bevölkerung Materas. Heute sind sie individuell hergerichtet. Meine Höhle liegt zum Beispiel unter der Straße. Nachts höre ich die Autos über mir rumpeln. Immerhin rieselt aber kein Kalk von der Decke ins Bett. Entschädigt werde ich durch einen kleinen Vorplatz vor dem Zimmer. Hier steht ein Olivenbaum und schon morgens scheint die Sonne. Ein idealer Platz um etwas zu lesen.

Ich habe das Buch “Christus kam nur bis Eboli” von Carlo Levi dabei. Levi, ein Arzt aus Turin in Norditalien, wurde von den Mussolini Faschisten in die Nähe von Matera verbannt. Unvorstellbar: noch vor 70 Jahren waren Matera und die Basilikata der Gulag Italiens. Der Stadtmensch Levi berichtet in seinem Buch von den fremden Lebenswelten der Menschen des Mezzogiorno. Er ist konfrontiert mit ihrem ewigen Elend, ewiger Armut und ihrem archaischem Aberglauben. Als seine Schwester ihn besucht, beschreibt er Matera. Hier der erste Eindruck, den sie bei der Ankunft hatte:

“Ich hatte in dem Führer gelesen, daß Matera eine malerische Stadt ist, die einen Besuch verdient, daß es dort ein Museum antiker Kunst und merkwürdige Höhlenwohnungen gibt. Aber als ich aus dem modernen und recht luxuriösen Bahnhof kam und mich umblickte, suchte ich mit den Augen vergebens die Stadt. Die Stadt war nicht da. Ich stand auf einer Art öder Hochebene, ringsum kahle Hügelchen aus grauer mit Geröll besäter Erde.”

Christus kam nur bis Eboli war gestern! Was ist heute?

Heute kann ich diese Beschreibung nicht mehr nachvollziehen. Der luxuriöse Bahnhof ist durch eine scheußliche, unterirdische Bahnstation ersetzt. Auf der öden Hochebene wächst eine moderne Kleinstadt mit Universität und Musik Konservatorium. Überhaupt ist Matera ganz anders als in der Erzählung Carlo Levis. In den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts kommen ihm die Sassi und Höhlenwohnungen von Matera wie die Hölle Dantes aus der Göttlichen Komödie vor.

Levi schildert Häuser als stinkende, schwarze Löcher, in denen Familien gemeinsam mit Hunden, Schafen, Ziegen und Schweinen wohnen. Er erzählt von abgemagerten Frauen und halbnackten, unterernährten Kindern. Er berichtet von Malaria, Ruhr und Kala Azar, tropische Krankheiten, die es heute in Europa nur noch selten gibt. 20.000 Menschen haben bis Mitte der 50er Jahre in dieser abartig, unmenschlichen Situation in Matera gelebt. Am Rand Europas und am Rand der Zivilisation.

Die Sassi das sind der Sasso Caveoso und der Sasso Barisano. Zwei Schluchten vom Wasser des Gravina Fluss aus dem weichen Kalkstein gewaschen; geformt wie Trichter oder Canyons. Über Jahrhunderte haben die Bewohner Materas unzählige, übereinander gestapelte Höhlenwohnungen in die Wänden dieser Kalkstein Schluchten geschabt. Abschüssige Sträßchen und ausgetretene, unregelmäßig geformte rutschige Treppen aus weißem, glattpolierten Stein führen hinunter in diese Quartiere. Häuser mit rostigem Blech verammelt oder ohne Fenster und Türen. Manche verfallen. Wenige sind aufwändig renoviert.

Heute ist in den Sassi fast niemand mehr zuhause. Außer streunenden Katzen, einem strubbeligen weißen Wachhund und Mauerseglern hoch über mir in der Luft sind keine Tiere weit und breit zu sehen. Es gibt keinen Lärm, kein Geschrei, keine Gestank von Tieren und Kot. Dafür duftet es aus einer Bar nach frischem Caffe und leckeren Brioches. Gleich nebenan eine B& B Unterkunft und etwas weiter das Sassi Hotel. Matera heute ist irgendwie ein leergeräumtes Freilichtmuseum.

Die Sassi von Matera - ein riesiges Freilichtmuseum

Ich beginne meinen Spaziergang durch die Sassi mit dem Aufstieg zum Dom, der mächtig auf einem Felsen oberhalb der Stadt thront. Vom Domplatz soll es eine schöne Aussicht auf den Sasso Barisano geben. Ich stehe in der Morgensonne und eine sehr alte Frau, weißes welliges Haar, schwarzer Mantel und Plastik-Einkaufstüte in der Hand spricht mich an. Sie möchte vom Essen reden. “Heute essen die jungen Leute lauter ungesunde Sachen." Sagt sie. "Wir haben als Kinder eine Woche lang das dunkle Brot von Matera gegessen und dazu Milch getrunken” Auch so lässt sich der Generationen-Konflikt in Italien beschreiben. Ich frage sie, ob sie aus Matera komme und sie zeigt auf irgendein Haus unterhalb von uns in der Sassi Schlucht. “Da bin ich geboren”. Dann wendet sie sich plötzlich weg und steigt eine Treppe hinab.

Ich wende mich zum Dom. Der ist geschlossen und von einem Bauzaun umgeben. Renovierung bis 2017, steht auf dem Bauschild. Also suche auch ich mir eine Treppe. Nach wenigen Schritten treffe ich auf eine Schulklasse auf Klassenfahrt. Die Schüler sitzen diszipliniert auf Treppenstufen und lauschen den Erklärungen der Lehrerin.

Die Signora erzählt, dass Matera UNESCO Weltkulturerbe ist und die Stadt sich als europäische Kulturhaupstadt 2019 bewirbt. Sie berichtet davon, dass die Menschen in den fünfziger Jahren die Sassi verlassen mussten und dass es nun ein Gesetz zur Wiederbesiedlung der Sassi gibt. Familien, die wieder in die Sassi ziehen wollen und ihre Häuser renovieren, bekommen 50% der Kosten vom Staat ersetzt. Dafür müssen die Häuser stilgerecht renoviert werden. Das heißt nichts Individuelles und Modernes wie Balkon, Garage oder bunte Wandfarbe. Nur die originalen Baumaterialien Kalkstein und Tonziegel dürfen verwendet werden.

“Warum stehen dann so viele Sassi leer, wenn der Staat doch 50% bezahlt?” fragt die Lehrerin in die Schülerrunde. Als die nichts sagen, antwortet sie selbst: “Weil die Wohnungen in den Sassi immer feucht sind, da der Kalkstein Wasser zieht. Weil die Sassi für alte Menschen wegen der vielen Treppen unbequem sind. Den jüngeren fehlt schlicht der Parkplatz für das Auto. Außerdem darf man die geförderten Wohnungen nicht weiterverkaufen.”

Das leuchtet ein. Nun weiß ich, warum so viele Sassi verlassen sind. Auch wenn es romantisch aussieht, eine Höhlenwohnung passt ganz einfach nicht zu unseren heutigen Vorstellungen von Wohnkomfort und modernem Leben.

Gute, alte Zeit oder ein bitteres Erbe?

Wie haben die Menschen eigentlich früher in den Sassi gelebt? Die Antwort auf diese Frage finde ich in einer authentisch eingerichteten Höhlenwohnung der Casa Grotta del Casalnuovo. Fünf Höhlen sind zu einer großen Felsenwohnung zusammengewachsen. Dazu noch der Stall und ein Speicher. Alle Räume sind vollgepackt mit Möbeln, Geschirr, Gerätschaften aus der guten alten Zeit. Es ist ziemlich duster, denn Licht kommt nur durch die Eingangstür.

Eine Lautsprecherstimme erklärt, dass die alten Zeiten so gut nicht waren. Das Wasser kam aus einer Zisterne. Die Toilette war einfach eine Grube. In der Küche ein Holzofen und Regale direkt in den Fels gemeißelt. Hinter dem Schlafzimmer gleich der Stall, damit die Wärme der Tiere im Winter die Stube heizt. Unter dem Bett wohnten die Hühner und die Schweine. Im Bett schliefen die Erwachsenen. Über dem Bett hing die Wiege für das Baby und die Schubladen der Kommoden ließen sich in Betten für die Halbwüchsigen verwandeln. Platzsparender geht es nicht.

Draußen im gleissenden Sonnenlicht steht wieder eine Schulklasse und lauscht. Eine Stadtführerin erklärt den Arbeitsalltag vor über 70 Jahren: Mitten in der Nacht fing die Arbeit an. Gegen halb zwei gingen Männer und Frauen, Kinder, die schon arbeiten konnten und Alte, die noch arbeiten konnten, hinauf zur Piazza Veneto. Dort versuchten sie, sich als Tagelöhner zu verdingen. Dann machten sie sich auf ans Ionische Meer zu den Feldern in der Ebene von Metapont. Ein Weg dauerte gute vier Stunden. Ein zeitiger Rückweg lohnte sich nicht. Deswegen schufteten die Arbeiter mehrere Tage hintereinander auf den Feldern.

“Was passierte mit den Kleinkindern, die ohne Eltern, Geschwister oder Großeltern zu Hause blieben?” fragt die Fremdenführerin und macht eine dramatische Pause während der sie in die aufmerksamen Gesichter ihrer Zuhörerinnen schaut. Dann fährt sie fort: Die Kleinkinder alleine zu Hause bekamen einen Schnuller gefüllt mit Honig und Schlafmohn. Sie wurden mit Opium betäubt und fielen in ein Koma, aus dem sie erst wieder erwachten, wenn die Eltern nach Hause kamen. Unterernährung, Dehydrierung, Verwahrlosung und frühkindliche Schädigungen waren die Folgen. Bis in die 60er Jahre hinein wurde der Opium-Schnuller benutzt. Auch dann noch, als die Eltern nicht mehr als Tagelöhner auf den Feldern arbeiten mussten. Mütter haben ihre Kinder mit dem Schnuller ruhig gestellt, wenn sie in Ruhe einkaufen wollten oder wenn sie einfach mal Ruhe von den Kindern haben wollten.

Dann schließt sie mit dem Satz: “Das sind die bitteren Erinnerungen von Matera. Wir können das nicht vergessen. Das ist unsere Geschichte. Aber wir müssen noch lernen diese Vergangenheit für die Zukunft nutzbar zu machen!” Und das ist wirklich eine gute Überlegung: Welche Zukunft oder besser Gegenwart lässt sich aus dem Weltkulturerbe Matera entwickeln? Einem bäuerlichen und ländlichen Weltkulturerbe, das für die Menschen vor Ort an eine Zeit der Armut, Ausbeutung und Unterentwicklung erinnert.

Pier Paolo Pasolini in Matera

Mit diesen Gedanke im Kopf steige ich die Via Castelnuovo bis zur Piazza Pascoli hinauf. Von hier oben gibt es noch mal einen Panorama-Ausblick der Extraklasse auf die Sassi, pittoresk wie ein Postkartenmotiv. Hinunter auf die Felsenkirche Santa Maria d’Idris und hinüber bis zum Dom.

Die üppig dekorierte Barockfassade des Palazzo Lanfrancos schließt den Platz nach Osten ab. Im Palazzo ist das Kunstmuseum untergebracht. Es gibt besonders viele barocke Bilder und dann eine moderne Abteilung mit Bildern von Carlo Levi. An der Museumskasse weist eine große Ankündigung auf ein besonderes Ereignis hin. Die Aufführung der restaurierten Fassung des Films “Il Vangelo Secondo Matteo” von Pier Paolo Pasolini. Heute Nachmittag um 17:00 Uhr im Teatro Duni. 50 Jahre nach der Uraufführung im Jahr 1964. 50 Jahre nach den Dreharbeiten in den Sassi von Matera.

Am Nachmittag regnet es wie aus Kübeln. Ich mache mich zeitig auf den Weg ins Kino um auf jeden Fall einen Platz zu bekommen. An der Piazza Veneto trinke ich noch einen Espresso in der Bar Lapacina, dann gehe ich weiter. Das Teatro Duni ist eine elegante Architektur von Ettore Stella aus den späten Vierziger Jahren. Das erste Gebäude Materas in Stahlbeton Architektur mit einem Dach über dem Kino Saal, das zu schweben scheint. Architektonisch der Aufbruch in eine neue Zeit nach all den Gebäuden der faschistischen Ära, mit denen das Zentrum von Matera vollgestellt ist.

Als ich ankomme ist der Saal nur spärlich besetzt. Ganz erstaunlich, es sind vor allem alte Frauen da. Hängt das damit zusammen, dass der Erzbischof Monsignore Salvatore Ligorio einführende Worte sprechen wird? Auch der Bügermeister, die Leiterin der Denkmalschutzbehörde und viele andere werden vor der Projektion des Films reden. Sie beschwören die Möglichkeit mithilfe des Films Il Vangelio secondo Matteo an die Vergangenheit anzuknüpfen. Auch wenn das schwierig ist, weil zu dieser Vergangenheit eben nicht eine großartiges künstlerisches oder kulturelles Vermächtnis, sondern die Brutalität und Grausamkeit des Landlebens gehört.

Die kulturelle Spaltung Italiens war für mich selten konkreter greifbar als in diesem Moment. Venedig eine stolze Kaufmannsstadt, die ganz Europa mit orientalischen Luxus belieferte und einst die Adria beherrschte. Florenz dessen Einwohner erst das europäisch Bankwesen prägten und dann die europäische Kultur revolutionierten. Rom, Caput Mundi, die Hauptstadt der Welt. Und Matera? Geschichten von Kindern und Opium Schnullern! Wie kann der Süden Italiens mit diesem Erbe kulturell Anschluss an den Norden finden?

Il Vangelo secondo Matteo im Teatro Duni

Als die Filmvorführung beginnt, spielen diese Fragen keine Rolle mehr. Im Kino ist es wahnsinnig kalt. Dauernd gehen die Türen auf. Menschen laufen rein und und schütteln ihre Regenschirme aus oder sie laufen raus. Menschen plaudern, reden, schreien, im Publikum wird gezischt. Die Handys klingeln, es wird telefoniert. SMS piepsen, werden gelesen und geschrieben. Die Projektion läuft auf auf einer welligen Leinwand und nicht nur der Film besonders die Tonspur hätte einer Restaurierung bedurft. Die Musik aus Bachs Matthäus Passion rauscht und kratzt.

Trotz allem entfaltet der Film einen magischen Zauber. Es gibt fast keinen Dialog. Dafür Blicke. Und was für welche: staunende, verführerische, beseelte, gelangweilte, böse, intensive, kalte und feurige Blicke. Diese Blicke sind intim und ziehen den Betrachter in das Geschehen hinein. Gesichter werden in Nahaufnahme gezeigt. Sie sind gefurcht, gegerbt und gefaltet wie die Landschaften, in denen der Film spielt. Sind diese Gesichter die Menschen von Matera? Sind das Gesichter von Landarbeitern, die sich auf den kargen Böden der Basilikata abgerackert haben?

Il Vangelio secondo Matteo wurde nicht nur in Matera gedreht. Ich erkenne Gassen von Ostuni, den Innenhof von Castel del Monte, die Festung Le Castella in Kalabrien. Aber Matera und die Landschaft rund um die Stadt, die Ebene der Murge, sind definitiv die Hauptdarsteller des Films. Die Höhlenstadt war gerade von ihren Einwohnern verlassen. Sie waren auf Dekret in die moderne Oberstadt umgesiedelt worden. Das verlassene Matera wird so zu einem Symbol für den Wandel Italiens von einer agrarisch geprägten Gesellschaft zu einer industriell geprägten Gesellschaft, mit den leeren Versprechen des Consumismo.

Manches kommt mir an dem Film komisch und holzschnittartig vor. Die Kostüme sehen aus wie aus einem Krippenspiel. Sie sind an Renaissance Bildern orientiert. Für die Gewänder der Jünger und besonders die Hüte der hohen Priester mussten Massaccios Zinsgroschen Fresken als Vorbilder herhalten. Die Rüstungen und Helme der Soldaten sind an Bildern von Piero della Franscesca orientiert. So kommt der italienische Norden dann doch in den Süden.

Auf einen Blick:

2019 wird die Höhlenstadt Matera europäische Kulturhauptstadt. Zum UNESCO Weltkulturerbe gehört sie schon. Matera erinnert an eine schwere und düstere Vergangenheit, in der die Menschen einer agraischen Gesellschaft an den Boden und den Großgrundbesitzer gefesselt waren. Sie erinnert an eine magische Kultur, in der Mensch, Natur und Tier auf engstem Raum zusammen lebten. Der Mensch konnte gerade von seiner Hände Arbeit überleben. Künstler und Filmemacher hat diese Stadt inspiriert. Welche Botschaft hat ihre Geschichte für die Gegenwart?

Dieser Artikel wurde am 21.10.2014 auf www.sirenen-und-heuler.de veröffentlicht.

Der Artikel erschien am 21.10.14 auf www.sirenen-und-heuler.de
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