Neue Kunst in alten Schachteln

Venedig Biennale Zur Biennale öffnen verwunschene Paläste ihre Pforten. Eine tolle Gelegenheit, mal hinter welken Fassaden nachzuschauen, welche irren Geheimnisse diese Palazzi verbergen.

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Der Biennale Pavillon Armeniens in einem armenischen Kloster auf der Insel San Lazzaro ist der Gewinner des Goldenen Löwen 2015
Der Biennale Pavillon Armeniens in einem armenischen Kloster auf der Insel San Lazzaro ist der Gewinner des Goldenen Löwen 2015

Foto: Awakening/AFP/Getty Images

Ankunft in Venedig am Bahnhof Santa Lucia. Also durch die Hintertür vom Festland der terra ferma kommend. 82.000 Reisende nutzen täglich den Bahnhof mit dem tollen Namen. Das sind pro Jahr 30 Millionen Besucher, rechnet die Website der Italienischen Eisenbahn begeistert vor. Was für eine krasse Zahl. Denn Venedig zählt grade mal 59.000 Einwohner.

Also: Venedig ist richtig Massenbums. Da gibt es nichts zu rütteln. Häufig ziemlich billig und nur sehr selten preiswert! Zum Beispiel kostet die 3-Tages-Karte für das Vaporetto, den Wasserbus, schlappe 40 Euro. Als ich das zusätzliche Ticket für das zweite Gepäckstück kaufen möchte, schaut mich der Ticketverkäufer mitleidig an und raunzt: “Gepäck wird nie kontrolliert!” Guter Tipp! Unerwartet spare ich 7 Euro 50.

Venedig auf dem Canale Grande

Eine Welle drängelnder Venedig-Besucher schiebt mich auf das Vaporetto der Linie 1 Richtung Markus-Platz. Der genervte Wasserbus-Schaffner dirigiert die Fahrgäste. Er ruft und gestikuliert wie ein routinierter Dompteur: “Rucksack ab”, “Passage frei machen”, “Gepäck wegverstauen”. Dazwischen immer wieder: “Piazza San Marco … San Marco.”

“San Marco” mit einem hellen “A” und einem langgezogenen, sehnsuchtsvoll schwellenden “O”, als perlte dieses “O” aus einer fein ziselierten Barock-Trompete. Wer hat dem jungen Mann das kleine “O” so schön bloß beigebracht? An der Haltestelle Santa Stae reicht er beim Ausstieg einer älteren Dame mit Terrier den Arm. Das gute, alte Italien: Klare Kante kombiniert mit perfekter Kinderstube!

Wie fantastische Magie. Funktioniert jedes Mal. Die Fahrt auf dem Canale Grande. Das Vaporetto tuckert. Die Sonne scheint. Die Stadt und ihre orientalischen Paläste ziehen langsam an mir vorüber. Das grünliche Wasser der Lagune müffelt süßlich vor sich hin. Die haben irgendwas in dieses Wasser rein getan, denke ich. Denn meine Gedanken verwirren sich. Ich lächle dem idiotischen Touristen, der schon zum 5. Mal einen Panorama-Schwenk über das Bootsdeck macht, milde zu und blende meine aufgedrehte Umgebung komplett aus. Jetzt gibt es nur noch: Venedig und ich. Wie in einem Tagtraum gehört die geheimnisvolle Lagune nur mir. Wirklich wahr!

La Biennale di Venezia

Die 56. Auflage der Kunst-Biennale hat mich nach Venedig gelockt. Diese Ur-Mutter aller Mega-Kunst-Events wuchert über die ganze Stadt. Sie belegt die Giardini, den Stadtgarten; das riesige Werftgelände des Arsenale und unglaublich viele Locations in der Stadt und auf den verstreuten Inseln der Lagune. Klöster, Gärten und Paläste.

Verrostete Gittertore quietschen in den Angeln und modrige Holzportale werden ächzend aufgeschoben. Zerschlissene Seidentapeten werden ausgeklopft und zerbrechliche Interieurs aus dem Weg geräumt. Denn zur Biennale öffnen Venedigs verwunschene und welke Paläste ihre Pforten. Eine tolle Gelegenheit, mal hinter diesen ehrwürdigen, faltigen Fassaden nachzuschauen, welche Geheimnisse diese langsam zerbröselnden Gebäude zu offenbaren haben.

Palazzo Loredan a Santo Stefano

Schon die Namen der Paläste wie ein Traum: Palazzo Loredan a Santo Stefano zum Beispiel. Hier hat sich der portugiesische Pavillon eingerichtet. I Will Be Your Mirror heißt die Ausstellung des Konzeptkünstlers Joao Louro. Nach Untergang der Republik waren hier die französischen und österreichischen Gouverneure zuhause. Dann wurde der Palazzo Carabinieri Kaserne. Darunter hat er ziemlich gelitten. Denn von der prächtigen Ausstattung der Residenz der Dogen-Familie Loredan ist nur noch wenig zu sehen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist im Palazzo Loredan eine Kunstbibliothek untergebracht.

Im Foyer haben sich Porträtbüsten bedeutender venezianischer Künstler und Literaten zum Stelldichein versammelt. Im Obergeschoß dunkle Säle mit alten Schinken in den Regalen. Die venezianischen Leuchter aus Murano Glas sind ganz hübsch. Am Ende der Raumflucht ein Raum mit Rokoko Ausstattung. Viel Rosa und Himmelblau.

In diesem schnuckeligen Boudoir ist eine riesige polierte dunkle Steinplatte aufgestellt. The End ist darauf eingraviert. Eine Besucherin flüstert ihrer Begeleitung zu: “Manchmal sind die Räume interessanter als die Kunst darin.” Aber so richtig nach erhabenem Stil und gutem Geschmack sieht der poppige Stuck an den Wänden des Palazzo Loredan auch nicht aus.

Palazzo Pisani

Auch der Palazzo Pisani, einfach gegenüber auf der anderen Seite des Campo Santo Stefano, wurde umgewidmet. Einst gehörte dieser Palast einer der reichsten und geltungssüchtigen Familie Venedigs. Heute wummern junge Stimmen Verdi und Donizetti aus den geöffneten Fenstern der protzigen Renaissance-Fassade. Irgendwo säuselt ein Piano. Es lässt sich nicht überhören: Im Palazzo Pisani residiert die Musikhochschule. Der zentrale Saal des Hauses, der Portego, ist die elegante Bühne für Künstler aus Angola.

Der Portego ist eine Art Diele, die sich in einem venezianischen Palast einmal quer von der Wasserfront bis zur Straßenseite durch das gesamte Gebäude zieht. Repräsentativ aufgemotzt mit herrlichen Wandmalereien, glitzernden Lüstern und edlem venezianischen Terrazzofußboden. Ich mag es schon, wie sich die angolanische Wellblech-Architektur und der Billigplastik-Turm von dieser verblassenden Serenissima-Pracht absetzen. Dennoch beschäftigt mich eher die Frage, wie dieses viele Blattgold auf das Wandgemälde mit der Beschneidung Christi gekommen ist?

Im säulengeschmückten Innenhof des Palazzo Pisani wird noch schnell der ultramoderne Pavillon des japanischen Edelcreme-Produzenten Sisheido hochgezogen. Eine blaue Welle aus kleinen blauschimmernden und lichtdurchlässigen Plastikdreiecken wuchtet sich schwerfällig vorbei an Säulen, Balustern und Gesimsen in die lichte Höhe. Irgendwie nuttig, geht mir durch den Kopf.

Palazzo Barbaro Curtis

Der Palazzo Barbaro Curtis präsentiert sich zum Canale Grande mit einer duftig heiteren Schaufront in hellen Farben, dekoriert mit gotisch orientalischen Spitzbögen. Der Zugang von der Gasse, der venezianischen Calle, ist dagegen düster und eng. Im Palast loten Künstler aus Aserbaidschan The Union Of Fire And Water aus.

Fire steht hier für das Land der Petrol-Oligarchen. Wasser für Venedig. Was sind die Gemeinsamkeiten von Baku und Venedig? Das ist die Frage, die diese Kunstschau verklammert. Muss man auch erst mal drauf kommen! “Manchmal sind die Räume interessanter als die Kunst darin”. Trifft hier auch irgendwie zu.

Der Innenhof des Palazzo Barbaro ist schwer romantisch angefault. Hier blättert der Putz. Dort schwemmt irgendein aggressives Salz aus dem Backstein hervor. Von unten nach oben windet sich blattloses Rankwerk dem Licht entgegen. Eine gigantische Freitreppe führt in die Beletage. Dort verliere ich mich in einem Labyrinth aus verschrobenen Zimmern und Sälen. Henry James hat hier gewohnt. Der amerikanische Autor, der die Abwege und Absonderlichkeiten der menschlichen Empfindung messerscharf subtil ausleuchten konnte. Wie hat er sich in diesem Haus der grellen Kontraste bewegt?

War es das? Oder geht noch was?

Ok, die Besuche im Palazzo Loredan, Pisani und Barbaro waren lohnend. Aber Höhepunkte fühlen sich tatsächlich anders an. Die echten Highlights kommen jetzt:

Die Casa Scatturin, ein elegantes 250 Quadratmeter Apartment. Kleinod der 60er Jahre, entworfen und ausgestattet vom genialen venezianischen Architekten Carlos Scarpa.

Der Palazzo Fortuny. Einst das Domizil des legendären Tausendsassas und Modeschöpfers Mariano Fortuny, der das Delphos-Kleid erfand. Dieses lose, schmeichelnd von den Schultern wallende bodenlange Gewand aus hauchdünnem, fein plissierten Seidengewebe, das die Damen vor dem Ersten Weltkrieg vom Korsett befreite.

Danach traue ich mich über die Lagune auf die Insel San Larzzaro. Heute sind hier die Armenischen Mönche mit einem schönen Kloster zuhause. Früher zerfielen und verelendeten hier die Leprakranken.

Casa Scatturin - eine architektonisch Hommage an Venedig

Die Casa Scatturin ist eine Meisterleistung des großartigen Architekten Carlos Scarpa. Er hat die Wohnung in das oberste Geschoss eines Palastes aus dem 17. Jahrhundert geradezu hinein improvisiert. Dabei hat Scarpa ein architektonisches Porträt der Lagunenstadt Venedig geschaffen.

Ein langer, enger Korridor mäandert wie ein Rio, eine schmale venezianische Wasserstraße, zwischen den Räumen. Der dunkle Fußboden spiegelt das tiefe Grün der Wasser zwischen den Häusern. Treppenstufen rufen die vielen kleinen Brücken Venedigs in die Erinnerung. Das Rot der Wände leuchtet so kräftig wie der feuchte Backstein, dort wo die venezianischen Gebäude aus dem Wasser der Lagune wachsen.

Scarpa hat jedes Detail bedacht und gestaltet. Die Lichtschalter befinden sich bequem in Kniehöhe, so dass sich Licht im Vorbeigehen, wie nebenbei, anknipsen lässt. Fensterläden lassen sich nachts elegant verschließen. Tags lassen sie sich zur Seite falten und im Fensterrahmen verbergen. Sogar die Türschlösser und die Form der Schlüssel hat sich Scarpa ausgedacht.

Die begeisterten Besucher der Casa Scatturin fotografieren jedes noch so kleine Detail. Öffnen die Schränke im Schlafzimmer und schauen sich in der Küche um, wie gutes Design die alltäglichen Grundbedürfnisse veredelt.

Ich flüchte derweil auf die Dachterrasse. Hinauf steige ich über diese berühmte Scarpa Treppe. Eine schmale Stiege, die für jeden Tritt nur eine winzige Stufe bietet. Aber der kraxelige Aufstieg wird belohnt mit einem sensationellen Blick über Venedig. Da türmen sich die irrwitzigen Kuppeln von San Marco übereinander. Die barocke Kuppel der Salute-Kirche steigt noch höher dem Himmel zu. Der Turm von Santo Stefano biegt sich schief ins Bild. Und ganz im Hintergrund wird der schöne Blick von einem Kreuzfahrt-Giganten beendet, der wirklich alles überragt.

Die Ausstellung Ladies And Gentlemen Please Make Youself Comfortable, die Geraldine Blais Zodo und Pier Paolo Pancotto kuratiert haben, bleibt bei diesen vielen großartigen Eindrücken leider etwas unbeachtet. Dabei sitzen sogar Mitglieder der Konzept-Künstlergruppe Claire Fontaine im Wohnzimmer und balgen sich freundlich mit ihren ausgespulten Kindern.

Proportio im Palazzo Fortuny

Vornehmer geht es im Palazzo Fortuny gleich um die Ecke zu. Hier hat der belgische Interior-Designer und Kunsthändler Axel Verwoordt die Ausstellung Proportio eingerichtet. Die vier Stockwerke des riesigen Palastes sind wie eine Wunderkammer angefüllt mit Artefakten verschiedener Epochen und Stile. Eine bunte Mischung aus alt und neu, original und fake, hoch und niedrig. Das ganze in eine samtige Dämmerung getaucht.

Auch der Palazzo Fortuny gleicht einer leeren Schachtel. Seine venezianische Pracht verlor der Bau Mitte des 19. Jahrhunderts, als der ehemalige Palazzo Pesaro in eine Mietskaserne für 350 Bewohner zerkleinert wurde. Ende des Jahrhunderts wurde der Palast von der Familie Fortuny erworben. Zwischendecke für Zwischendecke, Einbauwand für Einbauwand wurde der Palast in seine ursprüngliche Raumgestalt zurück gewonnen. Gleichwohl ein abgetakeltes, aber stimmungsvolles Gemäuer.

In diesem inspirierenden Backstein Torso konnte sich die überbordende Kreativität des Multitalents Mariano Fortuny ungebremst entfalten. An diesen schöpferischen Furor knüpft die Ausstellung Proportio an. Zu sehen gibt es große Namen der Gegenwart. Michael Borremans, Berlinde de Bruyckere, Anish Kapoor, Richard Meyer und viele andere mehr, auch Sandro Botticelli und Antonio Canova tauchen auf. In ganz erstaunlichen und überraschenden Kombinationen.

Da funkeln ein monumentales Pferd von Borremans mit einer kleinen gelben Hommage to the Square von Joseph Albers um die Wette. Richard Meyers Hochhausmodelle müssen mit antiken Tempeln aus Kork und kleinen barocken Pavillons konkurrieren. Ein Gipsabdruck des Torso von Belvedere posiert vor einer Lage Seidentapete. Das riesige Konvolut von Werken ist mit traumwandlerischer Sicherheit geschmackvoll angerichtet und sinnerhellend arrangiert. Ein ganz großer Spaß! Noch bis zum 22.11.2015 zu sehen.

San Lazzaro - Armenien transnational

Ich fahre mit dem Vaporetto der Linie 20 hinaus in die Lagune. Vor der Insel San Servolo ankert doch tatsächlich ein Eisberg aus China. Ich bin aus dem Staunen noch nicht raus, da legt der Wasserbus schon vor der Insel San Lazzaro dei Armeni an. Das armenischen Kloster auf der Insel ist der Biennale Pavillon Armeniens. Gewinner des Goldenen Löwen 2015.

Ein Kloster oder überhaupt monumentale Baukomplexe der Kirchen haben meist eine beunruhigende Wirkung auf mich. Häufig ist es so, dass der scharf stürmende Geist der Geschichte und Tradition mit den brachialen Methoden des Behördencharmes gebändigt wird. Dann stoßen barocke Schnitzereien mit gebohnertem Linoleum zusammen oder die Backsteinfassaden sind so sauber verfugt, dass sie in jeder Faller-Haus Siedlung einer deutschen Modelleisenbahn ihren Platz finden könnten. Ich verstehe, dass so etwas enorm praktisch ist. Aber ich finde es ist eben auch enorm bedrückend.

Auch San Lazzaro ist ein bisschen so: wahnsinnig aufgeräumt! Aber das vergesse ich sofort, als ich durch den Kreuzgang gehe und dort Rozana Palazyans Herbarium Why Weeds begegne. Sie hat Abbildungen von Unkraut umstickt. Ihr Faden: menschliches Haar. Als kleine Info-Tafeln sind diese Werke zwischen die Pflanzen im Kreuzgang gestellt. Dort wo ich eine Belehrung über die Botanik erwartet habe, reißt plötzlich ein Assoziationsraum zwischen Romantik und Grauen auf. Ich denke an Rapunzels güldenes Haar. Die Haarlocke als Zeichen unverbrüchlicher Liebe. Aber die Verbindung von Unkraut und Haar weist eben auch Richtung ausgrenzen, ablehnen, ausmerzen.

Im Armenischen Pavillon geht es um Identität und Erinnerung. Die Künstler kommen aus verschiedenen Orten überall in der Welt: Los Angeles, Beirut, Kairo, Berlin, Istanbul und so fort. Sie treffen hier in Venedig auf San Lazarro zusammen und entwerfen die Vision einer globalen, transnationalen Identität ohne Territorium und ohne Grenzen. Diesen versöhnlichen Gedanken nehme ich mit, als ich wieder auf das Vaporetto steige und Richtung Piazza San Marco tuckere.

Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Reiseblog Sirenen & Heuler.

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