Reise zum tiefsten Punkt der Erde

Jericho Ein Name wie Donnerhall. Über 9000 Jahre Stadt. Da will ich hin. Mein Ausflug ins Westjordanland ist ein erlebnisreicher Hindernislauf voller Überraschungen

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Auf dem Weg von Bethehem nach Palästina
Auf dem Weg von Bethehem nach Palästina

Foto: Thomas Coex/AFP/Getty Images

Jericho ist eine Stadt mit einem gewissen Ruf. Die älteste Stadt der Welt. Die lautesten Trompeten. Eine Seilbahn am tiefsten Punkt der Erde. Der Berg der Versuchung. So viele Superlative! Diese entfachen in mir ein brennendes, erwartungsfrohes Reisefieber. Also beschließe ich: Morgen früh fahre ich mit dem Bus von Bethlehem nach Jericho.

Von Bethlehem nach Jericho: Die Route konnte nicht berechnet werden

Am Abend möchte ich mir die Route bei Google Maps anschauen. Aber Google bietet keine Route an. In Israel hat Maps noch unkompliziert funktioniert. Hier in Palästina stellt der Onlinedienst keine relevanten Informationen für die Reiseplanung zur Verfügung. Es heißt einfach: “Die Route von Bethlehem nach Jericho konnte nicht berechnet werden.“ Krass.

Ein tolles Feld für Verschwörungstheoretiker, denn Google stellt seine Dienste punktgenau nach dem Passieren eines Checkpoints ins Westjordanland nur noch eingeschränkt zur Verfügung. Im Hochtechnologie-Land Israel lässt sich die Ressource Internet vollumfänglich nutzen. Das Westjordanland sieht plötzlich wie ein technologisches Entwicklungsland aus.

Krass ist Maps auch in Bethlehem. Google zeigt ein Gewirr von Straßen. Nur wenige tragen Namen. Mangers Street, die Krippenstraße, zum Beispiel. Auch die Church of Nativity, die Geburtskirche, ist markiert. Orientierung in Palästina? Mit Google Fehlanzeige.

Fairerweise muss ich sagen, dass es in Bethlehem auch nur sehr wenige Straßen mit Namen gibt. Deswegen hört sich eine typische Wegbeschreibung folgendermaßen an: Um zum Busbahnhof zu gelangen, musst du erst einmal quer durch die Stadt. Dazu steigst du hinauf zum Souk. Da kannst du die Straße ober- oder unterhalb nehmen, die führen beide zum Mangers Square. Vor der Church of Nativity gehst du die Straße mit dem Falafel Laden hinunter bis zur Mangers Street. Das große Gebäude mit der Municipality, dem Rathaus, ist auch der Busbahnhof. Da musst du fragen, wo der Kleinbus fährt.

Am nächsten Morgen steige ich zur Altstadt hinauf. Ich komme am Souk vorbei. Dort wird mein Ausflug zum ersten Mal unterbrochen. Von einem jugendlichen Friseur! Er findet, dass mein Zauselbart einer ordentlichen Form bedarf: “Only two minutes“!

Two minutes? Eine gefühlte Ewigkeit

Arabische Friseure finden, dass der Bart - das eigentliche Schmuckstück des Mannes - einer aufwändigen Pflege und einer messerscharfen Kontur bedürfe. Aus Berlin kenne ich das schon. Ich hätte gewarnt sein können.

Trotzdem lasse ich mich breitschlagen. Ich nehme also auf dem Friseurstuhl Platz und versuche noch festzulegen, nur hier ein wenig und dort ein bisschen. Aber als der junge Mann beginnt von seinen Eltern zu erzählen, die beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen seien, er die zahlreiche Schar der Geschwister aufzählt, die er mit seiner Fingerfertigkeit zu ernähren habe und auf die allgemeine Unbill des Lebens in Bethlehem zu sprechen kommt, wird mir klar, dass jeglicher Widerstand zwecklos ist. Ich bin in die klassische Touristenfalle getappt. Plötzlich sitze ich auf glühenden Kohlen. Jetzt kann es für ihn und für mich nur noch darum gehen, die Situation in Würde und Anmut zu überstehen. Denn die Armut, die zu so einem Verhalten nötigt, ist in Bethlehem ja echt und nicht gespielt.

Now you look beautyful

So wird aus „two minutes“ eine gefühlte Ewigkeit. Neben der Schere wird noch das Rasiermesser bemüht, duftende Wässerchen werden in den Bart gerieben, der Nacken mit feuchten Fingern geknetet, das Gesicht mit ätzenden Essenzen abgeschrubbt und mit einer schmierigen Pomade auf Hochglanz poliert. Erst als mein Gesicht funkelt wie gebohnertes Linoleum und mein Bart zu einer lächerlichen, asymmetrischen Roccaille verschnibbelt ist, lässt der Bartschneider zufrieden von mir ab: „now you look beautyful“. Nach diesem geheuchelten Eigenlob verlangt er ein abenteuerliches Honorar. Das kann ich immerhin noch auf die Höhe eines vergleichbaren Friseurs in Berlin herunter setzen.

Ich zieh mir die Kapuze ganz tief ins Gesicht , schleiche wie ein aromatisierte Duftkerze über den Mangers Square und biege in die Falafel Straße. So erreiche ich schließlich die Bus Station. Dort weist mir ein freundlicher Ladenbesitzer den Weg hinunter nach B4, wo die Big Taxis warten. Als ich ankomme, sitzt erst ein Junge in dem Minibus nach Jericho. Wir warten noch etwa zwanzig Minuten, dann ist das Taxi voll und es geht los.

Ja genau so!

Die Fahrt aus Bethlehem heraus ist nicht so toll. Aber nachdem wir Jerusalem und damit die zersiedelten Landschaften passiert haben, wird es unglaublich schön. Eine geröllige Hügellandschaft in der Wüste Judäas. Die Straßen sind ziemlich gut ausgebaut und frisch asphaltiert. Beleuchtung mit supermodernem Solarbetrieb. Manchmal sieht Entwicklungshilfe aus wie Wirtschaftsförderung für die heimische Industrie. An den spröden Hängen der kargen Berge ducken sich dagegen verwahrloste Wellblech-Baracken und öde Gehege für Tiere.

Plötzlich geht es in steilen Serpentinen ganz tief hinunter. In der Ferne sehe ich die Uferlinie des Toten Meeres. Sofort denke ich in Stereotypen, ja genau so: so so trocken, so so grau, so so ohne Baum und Strauch, so menschenleer und weit habe ich mir das „Heilige Land“ vorgestellt.

So romantisch denkt der Taxi Fahrer nicht. Er schwelgt im Geschwindigkeitsrausch und brettert die Kurven in großzügigen Bögen hinunter. Währenddessen wird auch noch bezahlt. Die Frauen hinten im Taxi klopfen den Männern vorne auf die Schultern, drücken ihnen Geld in die Hand, das diese weiter nach vorne zum Fahrer reichen. Als das Wechselgeld nicht passt, wechseln Fahrer und Passagiere so lange hin und her, bis es stimmt. Dabei hat der Fahrer seine Augen mehr im Portemonnaie als auf der Straße. Wenn das mal gut geht, denke ich. Es geht gut, wir kommen unbeschadet in Jericho an.

Das Big Taxi hält mitten in der Stadt auf dem Public Square. Der Hauptplatz Jerichos besteht aus einer großen Kreuzung mit einem Park im Zentrum. Drumherum Häuser mit üppigen Reklamen. Es ist nun schon zwei Uhr am Nachmittag. Das bedeutet, die Zeit in Jericho ist knapp, denn um kurz vor fünf geht die Sonne unter. Was soll ich mir ansehen? Den Berg der Versuchung Christi, das antike Jericho mit den Trompeten vor den Mauern, den Palast des Herodes oder den Palast des Hischam. Wie soll ich mich bloß entscheiden?

Wer hat’s erfunden? Die Araber!

Hilfe finde ich überraschender Weise in der Tourismus-Zentrale mitten auf dem Public Square. Ich werde sehr freundlich und ganz besonders aufmerksam von einem jungen Mann begrüßt, der allerdings nicht auf Kundschaft eingestellt zu sein scheint. Immerhin bittet er mich in sein Büro, bietet mir den bequemsten Sessel an und erklärt detailreich und ausufernd die vielen besichtigungswürdigen Denkmäler der uralten Stadt Jericho.

Dieser Service geht weit über die Gepflogenheiten der arabischen Gastfreundschaft hinaus. Der junge Mann springt auf, schiebt Infobroschüren hin und her, zaubert eine Karte Jerichos hervor, sinkt divenhaft auf einen Rollschemel hinab, schüttelt das dunkle wallende Haar und bugsiert sein Bein auf Tuchfühlung zu meinem. Wenn Augen Funken schlagen könnten, seine zündeten ein Feuerwerk. 100%!

Diese Aufführung heißt wahrscheinlich: Der Liebeszauber. Alles wird sehr gut dargeboten, jede Geste, jeder Blick perfekt einstudiert. Die Magie verfehlt dennoch ihre Wirkung. Der junge Mann fällt durch mein Beuteraster. Die alte Schachtel Geschichte hat mich nach Jericho gelockt, nicht die jugendliche Liebe. Trotzdem bin ich überrascht. Anmache unter Männern mitten in Palästina, mitten in Jericho, an einem öffentlichen Platz. Ist das hier nicht verboten? So offensiv hätte ich homosexuelles Begehren in Palästina nicht erwartet. Aber warum eigentlich nicht? Denn die echte Liebe unter Männern haben schließlich die Araber erfunden.

Direkt aus dem Schmelztiegel Mittelmeer: Hischams Palast

Nun bleiben mir noch gute zwei Stunden Tageslicht. Ich beschließe Hischams Palast zu besichtigen. 3 Kilometer nördlich von Jericho. Das ist zu schaffen, denke ich, außerdem kann ich mir so noch ein wenig die Stadt ansehen. Viel Stadt finde ich auf meinem Spaziergang allerdings nicht.

Jericho sieht aus wie ein Haufen Straßendörfer, die am Public Square zusammen gewachsen sind. Reizend; aber kein bisschen urban. Die Stadt franst nach dem überschaubaren Zentrum aus in eine ländliche Peripherie aus Gärtnereien, Brachland und Folienfeldern. Linkerhand der Berg der Versuchung. Vielleicht hätte ich doch dort hinauf fahren sollen denke ich nun. Ich bin fast allein auf der Straße unterwegs. Zu Fuß sowieso. Aber es fahren auch nur wenige Autos.

Dann erreiche ich Hishams Palace. Die Ausgrabung eines Winterpalastes aus der Umayaden Zeit. So um das Jahr 750 errichtet und nur kurze Zeit bewohnt. Dann wurden die Gebäude von einem Erdbeben zerstört.

Was gibt es zu sehen? Ein winziges Museum führt in die Geschichte des Palastes ein. Bemerkenswerte Ausstellungsstücke? Fehlanzeige! Die wichtigsten Kunstwerke aus der Grabung sind über Museen in aller Herren Länder verstreut. Also schaue ich mir viele Fragmente an und lese viele Erklärungstafeln. Damit bin ich perfekt vorbereitet, um die Palastruine richtig zu verstehen.

Einst gab es ein prächtiges und wehrhaftes Tor. Herrliche Gemächer für den Kalifen Hischam und seinen Nachfolger al Walid. Ein luxuriöses Badehaus mit Brunnen und fließendem Wasser. Eine große Moschee. Einen Bauernhof.

Wie immer in einer archäologischen Grabung braucht es schon viel Fantasie, um aus den staubigen Trümmern dieser unbelebten Mauern etwas Lebendiges entstehen zu lassen. Aber greifbar wird das Mittelmeer als ein riesiger Schmelztiegel der Hochkulturen. Nur von den Besten lernen!

Die Architektur des Badehauses hat Vorbilder in der römischen Thermenarchitektur. In der Bautechnik und den Formen der prächtigen Mosaiken ist die Handschrift byzantinischer Handwerker erkennbar. Die fantasievollen Stuck-Ornamente an den Wänden sind persisch beeinflusst. Was waren das für tolle Zeiten, als sich Okzident und Orient noch gegenseitig inspirieren konnten, denke ich. Da klingelt auch schon mein Telefon.

Zurück in die Gegenwart Nahost

Ein Anruf aus Bethlehem katapultiert mich aus den tollen Zeiten in die trostlose Gegenwart des Nahen Ostens zurück. In Jerusalem hat es ein Attentat gegeben. Eine Reisewarnung für das Westjordanland wurde ausgesprochen. Die israelische Armee kontrolliert an den Checkpoints im Westjordanland. Über dem Berg der Versuchung geht die Sonne so dramatisch und so romantisch unter, als hätte Caspar David Friedrich zu Leinwand und Pinsel gegriffen. Ich mache mich bedrückt auf den Rückweg zum Public Square.

Dort steige ich in ein Big Taxi, das mich zurück nach Bethlehem bringen soll. Es wird eine lange Fahrt. Kurz vor Bethlehem ist ein Checkpoint geschlossen. Nichts geht mehr. Stillstand auf der Straße. Dann tröpfchenweise Vorwärtskriechen in homöopathischer Dosierung. Ich bin sofort genervt und will nur noch weg. Die palästinensischen Mitfahrer reagieren ziemlich gelassen. Sie sind das wahrscheinlich schon gewohnt, im Stau zu warten. Sie steigen aus, gehen zwischen den Autos auf und ab, rauchen, plaudern, kaufen Proviant. Ich finde es nur öde. Irgendwo in der Ferne steigen Leuchtkugeln in den Nachthimmel auf. Ein Freudenfeuerwerk?

Dieser Artikel erschien am 25.12.2014 zuerst auf www.sirenen-und-heuler.de

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