Die Gewissenspredigerin

Porträt Annette Schavan (CDU) glaubt fest an die Rückkehr der Religion in die säkularisierte Politik Europas - und sie ist gewillt, davon zu profitieren

Meist werden in der Politik die wirklich wichtigen Fragen im Verborgenen besprochen. So auch in St. Leon-Rot, einem Ort irgendwo zwischen Heidelberg und Karlsruhe, wo 1.500 baden-württembergische Christdemokraten in einer hässlichen Mehrzweckhalle ausharren, um erst von Kultusministerin Annette Schavan und dann von Landtags-Fraktionschef Günther Oettinger zu erfahren, weshalb und zu welchem Ende hin sie unbedingt Erwin Teufel im Amt des Ministerpräsidenten beerben wollen. Derweil fragt auf der Herrentoilette ein CDU-Mann in die Runde: "Wer wird´s werden?" Antwortet ein zweiter: "Ich nehm´ an, der Oettinger." Sagt ein dritter: "Von der Wirtschaft hat er mehr Ahnung." Worauf der erste grübelt: "Oder wird er´s, weil wir Männer sind und keine Frau wählen?"

Wer ist diese Frau, die es vermag, gestandene Christdemokraten derart in ihrem Rollenbild zu erschüttern? Der es gelungen ist, in einem Landesverband Karriere zu machen, der von der Provinz dominiert wird und damit von einem Lebensgefühl, welches das freistehende Einfamilienhaus mit Doppelgarage als Ausdruck des ökonomischen und sittlichen Ordnungsstrebens feiert. Annette Schavan hat keine Kinder, kein richtiges Haus und nicht einmal, wie Bild beizeiten kritisch anmerkte, "einen Kerl". Weshalb sie sich seit Jahren mit der Nachrede konfrontiert sieht, sie liebe womöglich Frauen. Die 49-Jährige spricht von Rufmord: "Mir fehlen Eignung, Lust und Neigung dazu."

Schon jetzt kann sie auf eine erstaunliche Karriere zurückblicken. 1995 von Erwin Teufel überraschend aus dem Rheinland ins Schwabenland importiert und als Kultusministerin eingesetzt, avancierte sie zu einer bundesweit anerkannten Bildungsreformerin, und stieg 1998 zur stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden auf, ein Posten, von dem sie pikanterweise ihren Förderer Teufel verdrängte. Indes vermochte sie nicht viel aus dem Parteiamt zu machen. Fast wäre sie sogar Bundespräsidentin geworden, was allerdings die Herren von der CSU zu verhindern wussten. In einem Kabinett Merkel stünde ihr das Bildungsressort offen. Falls sie nicht Nachfolgerin Teufels wird, wäre Schavan als Ministerin jeder CDU-geführten Bundesregierung willkommen. Um ihre politische Zukunft braucht sie sich keine Sorgen zu machen. Worin aber liegt das Geheimnis ihres Erfolgs?

Wie ihr Vorbild Erwin Teufel wird auch Annette Schavan notorisch unterschätzt, was Machtwillen und Machtwissen angeht. Das zeigt schon die Chuzpe, mit der sie den Mitgliederentscheid über die Teufel-Nachfolge aufs Gleis setzte. Elegant umkurvte sie damit das in drei Jahrzehnten planvoll aufgebaute Funktionärs-Netzwerk ihres Konkurrenten Oettinger. Wehren konnte der sich nicht, andernfalls hätte er sich dem tödlichen Vorwurf der Feigheit vor der Parteibasis auszusetzen gehabt. Dass Schavans Helfer, zu denen neben Teufel auch Landesgeneralsekretär Volker Kauder zählt, dabei recht unvermittelt zu Befürwortern der direkten Demokratie konvertierten, ging im Schlachtengetümmel unter. Schavan bewies fortgeschrittene Kenntnisse in angewandtem Machiavellismus. "Überwältigung durch Überraschung" ist ihre bevorzugte politische Offensivtechnik, auch hierin ist ihr Erwin Teufel Vorbild und Lehrmeister.

Als Dunkelmänner aber erscheinen stets die anderen: die Opportunisten und Unzuverlässigen - so wie Günther Oettinger in den Augen Teufels ein prinzipienloser Großstadt-Yuppie ist, der ihn aus dem Stuttgarter Staatsministerium intrigierte. Teufel gilt als Grundsatzdenker, werteorientiert, traditionsverbunden - aber auch dem Neuen gegenüber aufgeschlossen. Doch Teufels Wertehimmel ist so weit oben angesiedelt, dass er sich darunter ziemlich frei bewegen kann. Grundsatz-Rhetorik und politische Praxis vermag Teufel mit einer an Schizophrenie grenzenden Konsequenz zu trennen. Seine Schülerin Annette Schavan übt darin noch und wirkt dabei etwas streberhaft. Doch Teufel gefällt´s. Schon vor zwei Jahren lobte er sie: "Sie ist belesen, gebildet, wirklichkeitsorientiert, engagiert, wagemutig. Sie lebt aus einer inneren Kraft, um nach außen wirken zu können." Da hat Teufel völlig Recht, findet Schavan, die mit Wertediskursen um sich wirft wie Konkurrent Oettinger mit den Börsendaten von Unternehmen.

Der Katholizismus umgibt sie wie ein etwas penetrantes Parfum. Doch das kommt durchaus an. Nirgends sonst erfährt sie so viel Zuspruch wie im katholisch-ländlichen Oberschwaben. Schließlich ist sie auch Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Zu ihren Kernbotschaften gehört der Satz, sie stehe für "Politik in christlicher Verantwortung". Sie liebt allgemeinbildende Sätze wie diesen: "Religion ist die Wurzel aller Kultur." Sie legt ein Ausrufezeichen in ihre Stimme, und wenn die Zeit reicht, sagt sie noch: "Ich könnte Ihnen ein ganzes Kolleg darüber halten." Was sie dann aber doch sein lässt. Schavan glaubt fest an die Rückkehr der Religion in die säkularisierte Politik Europas - als Antwort auf den Islam und in Reaktion auf den Baptisten George W. Bush im Weißen Haus. Und sie ist gewillt, davon zu profitieren.

Sachsens Innenminister Thomas de Maizière hielt ihr im März bei einer Kopftuch-Debatte in der evangelischen Akademie Tutzing entgegen, "dass es eine einheitliche kulturelle und religiöse Basis für unsere Gesellschaft nicht mehr gibt". Schavan will diese Basis, wo möglich, wiederherstellen, wo nicht mehr möglich, in kollektiver Trauerarbeit dem Vergessen entreißen. Das ist die Essenz des baden-württembergischen Anti-Kopftuchgesetzes. Deutschland, sagt sie, ist eine "kulturell schwache Gesellschaft". Letztlich bleibt aber unklar, welche Bedeutung ihren christlichen Bekundungen in der politischen Praxis zukommt. Sie belässt es bei einem Verweis auf die Bioethik. Im Streit ums Kopftuch hatte sie anfangs den Eindruck erweckt, sie wolle der muslimischen Lehrerin Fereshta Ludin den Weg ins staatliche Klassenzimmer ebnen - um das Religiöse vor dem säkularen Staat zu schützen. Doch sie beließ es dann unter Verweis auf das Ausbildungsmonopol des Staates bei der Zulassung zum Referendariat. Das Erschrecken über einen sich zunehmend militant und terroristisch gerierenden Islamismus mag zu ihrer Kehrtwende beigetragen haben. Vor allem aber war es ihr Machtinstinkt: Im Stuttgarter Landtag gibt es seit Jahren eine fraktionsübergreifende Mehrheit gegen das Kopftuch. Ebenso taktisch unterlegt ist Verschleppungspraxis in Sachen Islamunterricht an den Schulen. Dafür sucht sie die schnelle Schlagzeile mit der Forderung, in Moscheen solle nur noch auf Deutsch gepredigt werden dürfen.

Der bildungspolitische Reformeifer der Stuttgarter Schulministerin ist asymmetrisch angelegt: Mit großer Konsequenz arbeitete sie an der Verkürzung der Schulzeit: Frühe und flexible Einschulung, achtjähriges Gymnasium. Sie reformierte die gymnasiale Oberstufe vom Kurssystem zurück zum festen Klassenverband und einem verbindlichen Fächerkanon. Sie begann mit dem flächendeckenden Fremdsprachenunterricht in der Grundschule ab der ersten Klasse, der, mault die Lehrergewerkschaft GEW, bezahlt wird mit dem Wegfall von Stütz- und Förderunterricht. Ganztagsschulen hatte sie zunächst nur an "sozialen Brennpunkten" auf dem bildungspolitischen Spielplan. Auf der Schattenseite dieser Politik finden sich die Kinder aus Ausländerfamilien und aus der Unterschicht wieder, die es besonders schwer haben im Südwesten. Die Grundschul-Studie Iglu ergab: Bei identischer Lesekompetenz und denselben kognitiven Grundfähigkeiten hat ein Kind aus der Oberschicht eine 3,6 mal höhere Chance auf eine Gymnasialempfehlung nach der vierten Klasse als ein Kind aus der Unterschicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein deutsches Kind eine Gymnasialempfehlung erhält, liegt bei der gleicher Leseleistung und Schichtzugehörigkeit um den Faktor 2,6 höher als bei einem Ausländerkind. Dafür werden Ausländerkinder nirgends so zahlreich in Sonderschulen abgeschoben wie im Land der Bildungsreformerin Annette Schavan. Diese Spitzenwerte, die eine Rückkehr zur Klassengesellschaft in der Schule signalisieren, schreien geradezu nach einer Politik aus christlicher Verantwortung.


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