In seinem Büro empfing Boris Nemzow mich zum Interview. Er war damals Vizeministerpräsident. Die Lage spitzte sich in Russland zu, Krisenwolken zogen sich über dem Kreml zusammen, dem Land drohte das Geld auszugehen. Auf meine Frage, wozu Reformer in der Regierung in der Lage sind, antwortete der im Vergleich zu seinen noch vor sechs Jahren im Amt befindlichen sowjetischen Vorgängern so junge Politiker mit den Worten, dass sie keine Anfänger sein: „Bewegt haben wir viel.“
Es war das Jahr 1997. Präsident Boris Jelzin ging als kranker Mann mit Mühe seinen Amtsgeschäften nach, der erste Tschetschenienkrieg war gerade befriedet worden, und Nemzow schien mit seinen 38 Jahren als Protegé Jelzins die Welt der russischen Politik offen zustehen. Er wurde als Nachfolger Jelzins gehandelt. Doch es kam anders. 18 Jahre später lebt Nemzow nicht mehr. Kaltblütig ermordet auf der Großen Moskwa-Brücke, direkt vor der roten Kreml-Mauer, seit Jahrhunderten das Machtzentrum der Zaren, Generalsekretäre und nun der Präsidenten.
Eine eindeutige Symbolik. Nicht alle werden geschützt. Seit Jahren schon scheitert der engagierte Teil der Zivilgesellschaft daran, den Staat zum Dialog und zur Zusammenarbeit zu bewegen, zum Wohle eines nach wie vor auf Modernisierung angewiesenen Landes. Boris Nemzow war einer der bekanntesten Oppositionspolitiker Russlands. Unerschütterlich und mutig machte er auf Missstände aufmerksam, belegte sie mit Zahlenmaterial und trug sie rhetorisch gekonnt vor. Er tat dies freilich nicht im Parlament, der Duma, sondern als Teil einer immer kleiner werdenden außerparlamentarischen Opposition und nutzte dabei vor allem die wenigen regierungskritischen Medien. Dabei konzentrierte er sich zunehmend auf Personen, vor Jahren auf den damaligen Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow und seit geraumer Zeit auf Präsident Wladimir Putin.
Verarmte Bevölkerung
Für diesen Mut bekam der promovierte Physiker Zuspruch. Zumeist in den großen Städten Moskau und St. Petersburg. Doch weit ab von diesen Zentren nimmt die Aufmerksamkeit und Zustimmung rapide ab, die er oder andere prominente politische Mahner erhielten. Denn viele von ihnen hatten einst hohe Ämter unter Boris Jelzin innegehabt. Und diese Zeit, die in Anspielung auf ein kurzes Intermezzo polnischen Einflusses auf Russland zu Beginn des 17. Jahrhunderts „Zeit der Wirren“ genannt wird, ist für die Mehrheit der russischen Bürger der Inbegriff einer schlechten Reformpolitik mit katastrophalem Ausgang, es wird gar von Verrat gesprochen.
Statt einer schnellen Transformation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, den in Russland wenige aktiv unterstützten, aber viele passiv wohlwollend geschehen ließen, kam es zu ganz unterschiedlichen Prozessen mit einem Resultat: der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten. Tiefe soziale Gräben taten sich auf. Der Aufbau eines verlässlichen Rechtssystems scheiterte, stattdessen reagierte das Gesetz des Stärkeren – bis heute. In der Bevölkerung hat sich die Sicht durchgesetzt, dass die damals angetretenen, oftmals jungen Reformer gescheitert sind. Angesichts der kaum lösbaren Aufgabe, den zerfallenen Staat in kurzer Zeit radikal umzubauen, ist das kaum verwunderlich, zumal die damals so dringend benötigten staatlichen Investitionen wegen eines dramatisch niedrigen Erdölpreises einfach nicht aufzubringen waren. Eine Blaupause für eine solche Herkulesaufgabe lag nicht vor.
Opposition in Russland: Putins Gegner
Michail Chodorkowski
Seine Verhaftung im Jahr 2003 gilt als politisch motiviert. Chodorkowski, damals reichster Mann Russlands, hatte begonnen, oppositionelle Gruppen zu fördern. Nach einem Jahrzehnt hinter Gittern begnadigte Putin ihn im Dezember 2013. Heute lebt Chodorkowski in der Schweiz, eine Rückkehr nach Russland hat er bisher ausgeschlossen.
Er gründete die Stiftung „Offenes Russland“ und strebt „mit allen Mitteln“ einen Regimewechsel an. Fraglich ist, ob er Erfolg haben wird. Die meisten Russen begegnen den Männern, die in den 90er Jahren Milliarden scheffelten, heute sehr misstrauisch.
Garri Kasparow
Der ehemalige Schachweltmeister zählte jahrelang zum festen Personal der Moskauer Proteste. 2013 verkündete er in Genf, nicht nach Russland zurückzukehren: Nachdem gegen oppositionelle Aktivisten vorgeschobene Anklagen erhoben wurden, befürchtet Kasparow, als Nächster an der Reihe zu sein.
Sergej Udalzow
Etliche Male wurde der 38jährige Linksradikale verhaftet. Er gehört zu den führenden Köpfen der Opposition. Im Mai 2012 wurde er wegen „Massenunruhen“ angeklagt und sitzt seither eine viereinhalbjährige Haftstrafe ab.
Alexej Nawalny
Der Anwalt und Blogger brachte es als Galionsfigur der Proteste Ende 2011 in Moskau zu nationaler Berühmtheit. Damals galt er als Hoffnungsträger der Opposition. Manche stören sich an seinen russisch-nationalistischen Anwandlungen, andere sagen, er gewinne damit Unterstützer auch in Bevölkerungsschichten, die die Opposition sonst nicht erreicht. Seit er zum Prominenten aufstieg, hat Nawalny mit Schikanen zu kämpfen. Beim Protestmarsch nach dem Mord an Nemzow fehlte Nawalny. Er sitzt gerade für 15 Tage hinter Gittern, weil er für ebendiesen Marsch Flugblätter verteilt hatte.
Igor Strelkow
Der Nationalist kämpfte in Tschetschenien und half die pro-russischen Rebellen in der Ostukraine zu koordinieren. Zurück in Moskau verkündete er, Russland werde bald im Chaos versinken. „Seine Einschätzung ist simpel“, sagt Rebellenführer Alexander Borodaj, „Das Land steckt in der Krise, bald stürzt die Regierung. Im unvermeidlichen Bürgerkrieg stellt sich Strelkow dann an die Spitze der patriotischen Kräfte und wird zum Diktator dessen, was von Russland übrig bleibt.“ Klingt abwegig, doch die Sorge bleibt, dass die Nationalisten für Putin gefährlicher sind als die Liberalen.
Es ist diese Verbindung zwischen Demokratie und ausbleibendem Wohlstand, ja sozialem Niedergang, der die Zustimmung für Pluralismus, gute Regierungsführung und Einfluss von Zivilgesellschaft unter den Bürgern so niedrig hält. Die vielfach erfolglosen Reformbemühungen werden der damals aktiven politischen Gesellschaft und deren Politikern angelastet. Sie gelten als Indikatoren des Scheiterns. Zumal es in der Geschichte Russlands an einem erfolgreichen Beispiel solcher Reformen fehlt. Michail Gorbatschows Perestroika und Glasnost waren es genauso wenig wie die ersten dramatischen Schritte in Richtung eines demokratischen Verfassungsstaates unter Boris Jelzin. Ja, selbst die Modernisierungspolitik eines Dmitri Medwedew trägt inzwischen den Nimbus des Scheiterns.
Dabei versuchte er den Dingen auf den Grund zu gehen, ließ Studien erstellen, öffnete für die Politik öffentliche Räume, wo staatliche Stellen Rechenschaft abzulegen hatten. Die Wurzeln der Misere wurden freigelegt, das fehlende Zusammenspiel von Staat und Gesellschaft erkannt. Das war zuviel für Putin und seine Gefolgschaft. Sie hatten das Gefühl, dass, genau wie schon zuvor in den 80er und 90er Jahren, die ordnende Kraft des Staates zu schwächeln begann, sobald der Gesellschaft mehr Mitspracherecht gegeben wird. Es ist der uralte Gegensatz von „wir“ gegen „sie“. Tertium non datur, der Gewinner nimmt alles.
Der politisch engagierten Gesellschaft wurden Grenzen gesetzt. Vor allem die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen wurde eingeschränkt, der staatliche Einfluss auf die Medien wurde immer größer. Noch wichtiger aber ist die Rückbesinnung auf russisch-orthodoxe Werte. Eine kritische Gesellschaft nach westlichem Muster, welche die Freiheit hat, den Staat zu kritisieren, ist nicht erwünscht. Es herrscht vielmehr großes Einverständnis darüber, dass die Aufgabe der Gesellschaft eher eine wohlwollende Begleitung staatlicher Maßnahmen sein sollte. Eine Art Symphonie, wie man unter dem Zaren das Verhältnis zwischen Staat und Orthodoxie bezeichnet hatte. Für die russische Gegenwart bedeutet das: Die Bürger geben ihre politischen Rechte an den Staat ab, der im Gegenzug für eine ordentliche Grundversorgung sorgt. Die Grenzen des Rechtsstaats franzen in diesem System immer stärker aus, man schaut nicht so genau hin oder darüber hinweg. Profitieren tun vor allem die Oligarchen. Es ist eine Freiheit im Gegensatz zum kategorischen Imperativ Immanuel Kants, die nicht an der Grenze einer anderen endet, sondern die bei Bedarf einschränkt. Nemzow wollte sich damit nicht abfinden und kämpfte für ein anderes Russland. Aber er war eben auch ein Mann der Neunziger, der mit den alten Eliten verknüpft wurde.
Ein Wendepunkt?
Doch das Misstrauen des Staates trifft alle Oppositionellen, ihnen wird unterstellt, das Land destabilisieren zu wollen und feindlichen Mächten zu Diensten zu sein. Dieses Misstrauen ist inzwischen auch in weiten Teilen der Bevölkerung vorhanden und es ist gut möglich, dass dies auch Boris Nemzow am Ende zum Verhängnis geworden ist. Um einem falschen Schluss entgegenzutreten: In Russland gibt es sehr wohl Menschen, die sich politisch gegen die herrschenden Verhältnisse engagieren. Aber sie sind zunehmend abgekoppelt von den Protagonisten der 90er Jahre. Es sind Leute, die im Westen nicht so bekannt sind wie Nemzow oder Nawalny, die aber dennoch eine wichtige Rolle spielen.
Die große Unterstützung für Präsident Putin und seine Ukrainepolitik kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die Bürger unruhig werden ob der sozialen Probleme und der Verschlechterung der internationalen Lage. Es sind dieselben Bürger, die Boris Nemzow vor 18 Jahren dem Autor so beschrieb: „Junge, dynamische Demokraten gibt es in Russland viele.“ Enttäuscht und frustriert haben sie sich in den vergangenen Jahren mit den herrschenden Verhältnissen abgefunden und arrangiert. Der Mord an Boris Nemzow könnte das ändern. Zeit dafür wäre es.
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