Vielleicht erfährt Platons Höhlengleichnis in diesem Winter eine digitale Wendung. Wer musikalisch bisher in der „Höhle“ saß, also mehr im Halbschatten, unter dem Dach der Berliner Philharmonie, dort wo der Musikstrom mit dem hauptstädtischen Husten verschmilzt, könnte ab sofort an der überkommenen Unterscheidung von Original und Reproduktion zweifeln. Dann nämlich, wenn er zu Hause bleibt, Beamer und Stereoanlage mit dem Computer verbindet und sich die live gebrowsten Berliner Philharmoniker vom Wohnzimmersessel aus ansieht und -hört, in hochauflösender Ton- und Bildqualität, jenseits der MP3-Daten- und Klangreduktion, die bisher den klanglichen Hiatus bildete zwischen Klassik- und Computerwelt und Musiker und Dirigent so nah und hochpixelig aufgelöst, dass auch die kleinen Lackschäden im vielgenutzten Konzertpodium noch sichtbar werden, und das ganz feine Reibegeräusch der Streicher hörbar, bei dem man wirklich nah dran sein muss.
Den Berliner Philharmonikern, Marktführer nicht nur unter den deutschen Orchestern, dürfte mit der Eröffnung ihrer „Digital Concert Hall“ ein Coup gelungen sein: das erste und in der Übertragungsqualität ansprechende Konzertabonnement im Internet. Und damit eine womöglich sehr lukrative Möglichkeit, die zahlende Zuhörerschaft zu vervielfachen. Bei der ersten Übertragung Anfang des Jahres kamen zu den 2.400 Zuhörern in der Philharmonie noch einmal 2.500 weltweit im Internet, bei einem Preis von 9,90 Euro.
Doch das Unternehmen ist nicht ohne Risiko – technisch, wirtschaftlich und ästhetisch. Ton-Bild-Live-Übertragungen von Orchesterkonzerten gehören zu den schwierigen Aufgaben. Bisher jedenfalls benötigte man außer der Tonübertragungsanlage jede Menge zusätzlicher Bild- und Lichttechnik – einschließlich einer Gruppe von Kameraleuten, die mit dem aufgeführten Werk wohl vertraut ist. In der Philharmonie wurde nun eine Kameraanlage fest installiert, die vom Regieraum per Joystick gesteuert werden kann. Einiges wurde damit vereinfacht, wirklich einfach dürfte die Sache dennoch nicht sein. Die Investitionen für die neue Technik bewegen sich im Millionenbereich. Ein hoher Betrag für die Kultur und eine eher kleine Summe für den Hauptsponsor, den Marktführer in der deutschen Bankenwelt, der sich bei der Publikumsansprache zum Eröffnungskonzert auf die Parallele zwischen musikalischer und bankerischer Höchstleistung kaprizierte. Sponsoring im Krisenwinter 2009.
Wie aber steht es um die ästhetischen Chancen der Unternehmung? Bis vor Kurzem erschien der Ausgang aus Platons Höhle verbaut – keine Sonne in der Medienwelt, alles geschieht im Innenbereich des „Mediums“, vorzugsweise des neuen, digitalen. Und was dort nicht geschieht, existiert nicht. Der Schein ist das Sein, und alle Fragen nach dem „wahren“ Maßstab, dem Original der medialen Reproduktion, sind schlechter Platonismus, Suche nach falscher Ursprünglichkeit.
Die besondere Aufführung
Mit dieser postmodernen Medieneuphorie wurden alte Haltepunkte des „Wirklichen“ wie Raum, Ort, Körperlichkeit fraglich. Was zählte, war jene Echtzeitpräsenz im Netz, egal, wo man sich befand und wer sonst noch körperlich anwesend war. Also das, was nun in der klassischen Konzertwelt angekommen ist. Die Defizite einer solchen Position sind offensichtlich: Die Welt ist keine leere Fläche, auf der die digitale Datenflut frei flottiert, sondern gegliedert in besondere Räume, reale Orte, deren Beschaffenheit durchaus zählt – eine Einsicht, die zum sogenannten spatial turn der Kulturwissenschaften führte oder zur Losung place matters bei den Stadtsoziologen.
Der Dirigent Sergiu Celibidache hätte sich über solche Gegentendenzen zur totalen Medialisierung sicherlich gefreut, war er doch bei den Berliner Philharmonikern in den frühen fünfziger Jahren von einem Karajan ausgestochen worden, der dann zum Inbegriff des medienverliebten Dirigenten werden sollte. Celibidache selbst entzog sich dem Medien- und vor allem dem Schallplattengeschäft. Ein Argument hierfür war die räumlich-klangliche Nichtidentität von Aufnahme und Wiedergabe. Place matters – auch in der Musik.
Die Tempi und Phrasierungen einer Aufführung sind für Celibidache so eng an die Schallbedingungen des Aufführungsraums gebunden, dass sie nicht beliebig in andere Räume transferiert werden können – was typischerweise ja bei Schallplatten- und CD-Aufnahmen oder auch bei Live-Übertragungen geschieht. Statt auf millionenfachen Plattenverkauf setzte Celibidache auf die einzigartige Kraft jeder besonderen Aufführung an ihrem Ort und erzeugte damit eine fast kultische Aura um sich und seine Konzerte, manchmal aber auch sehr zerdehnte Musik.
Ist die Digital Concert Hall nun der endgültige Sieg Karajans über Celibidache, der vollständige Triumph der Medialisierung und technischen Reproduktion über die Aura des Echten und Originalen? Zur Beantwortung dieser Frage sollte man einen kritischen Blick auf die tatsächlichen Aufführungsbedingungen werfen, und vor allem darauf, dass ein Konzert nicht einfach ein und dasselbe Konzert für alle im Konzertsaal Anwesenden ist. Musik klingt und wirkt durchaus unterschiedlich – je nach objektivem Hörort im Aufführungsraum, je nach subjektiver Hörerfahrung und Befindlichkeit.
Was die objektive Seite angeht, so dürfte eine gute Reproduktion sich klanglich dem annähern, was auf weniger guten Plätzen im Konzertsaal zu hören ist; bei allen Unterschieden im Detail und abgesehen davon, wie hochpoliert Tonaufnahmen heute daher kommen. Was die subjektive Aufnahmefähigkeit angeht, so ist durchaus fraglich, ob die klassische Konzertsituation ihr zuträglicher ist als die heimische Aufführung mit Rotweinglas und ungezwungenem Blättern in der Partitur.
Fraglich ist zudem, ob die Geschichte der Medialisierung von Kunst und Musik tatsächlich als fortschreitende Entauratisierung und Abwertung des Originals geschrieben werden muss. Die klassische europäische Konzertsituation und deren besondere Aura ist selbst jedenfalls eine medial hoch vermittelte. Sie fußt auf schriftlicher Notation und Notendruck, also auf komplexen Aufzeichnungs- und Vervielfältigungsmedien. Sie ist Teil der „Gutenberggalaxis“ und nicht etwa einer antik-aiodischen Kunst, bei der ein schriftlich nicht fixiertes Werk untrennbar bleibt vom „Menschmedium“ eines ganz bestimmten Aufführenden.
Auratischer als die alte CD
Gegenüber den schriftlichen Aufzeichnungsmedien dürften die Tonaufzeichnungsmedien, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hinzukamen und seit den fünfziger Jahren den Betrieb immer mehr dominierten, tatsächlich an der Aura des Konzertes genagt haben. Musik wurde verfügbar in frei arrangierbaren Kontexten, auch in dem der Beiläufigkeit. Andererseits wurden mit der Verfügbarkeit von Aufnahmen unterschiedliche Werkinterpretationen relativ einfach miteinander vergleichbar, was neue Chancen für das Werkverständnis und für ein genaueres und intensiveres Hören eröffnete.
Das klassische Konzert im Livestream als neue Möglichkeit im digitalen Medium dürfte nicht so sehr in Konkurrenz treten zum Konzert am Originalschauplatz, zumal bei den Berliner Philharmonikern, deren Konzerte ja fast immer ausverkauft sind, sondern eher zur auf Schallplatte, CD oder DVD konservierten Musik. Der Unterschied beim Stream ist die Live-Situation trotz aller räumlichen Ferne zum Aufführungsort. Möglicherweise kommt es zu einer Rekontextualisierung von Musik - die Berliner Philharmonie als Konzerthalle des globalen Dorfs, mit dem Stream als „weltweiten Nervensystem“ einer gleichzeitigen Aufmerksamkeit von Rezipienten in Berlin-Charlottenburg, Kolumbien, Korea und der Südsee. „Auratischer“ als CD ist es allemal.
Und vielleicht entsteht in den Wohnzimmer-Konzerthöhlen der digitalen Welt ein neuer Hörertyp – der konzentriert Entspannte, der die Frage nach Original und Reproduktion von den Rezeptionschancen her beantwortet: Wirklich ist, was intensiven Zugang eröffnet. Egal, wo.
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