In der Zeit der deutschen Viel- und Kleinstaaterei war die Förderung des Kultur- und Geisteslebens Sache der Fürsten. Herrschaftslegitimation und Konkurrenz in der Prachtentfaltung waren die zwiespältigen Triebkräfte einer Entwicklung, die im höfischen Theater einen besonderen Austragungsort fand. Das aufstrebende städtische Bürgertum übernahm den Kulturanspruch und verband ihn mit einem aufklärerischen Impetus. In der Situation der territorialen Zerstückelung stand Kultur dabei auch mehr als nur symbolisch für die nicht erlangte Einheit. Deutschland war "Kulturnation", lange bevor es politisch und ökonomisch zusammenfand.
Im Gefolge dieser bürgerlich-feudalen Doppelcodierung entstand eine der dichtesten Kultur- und Theaterlandschaften der Welt, die - wenn auch gebeutelt - selbst die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts überlebte. Erst seit einigen Jahren scheint ein säkularer Gegentrend wirksam zu sein. An allen Ecken und Enden erodiert unser Kultursystem - medienträchtig dort, wo große Streichungen anstehen, eher unauffällig, wo es langsam ausblutet.
Kultur im föderalen System kennt viele Akteure, zu den wichtigsten gehören die Kommunen. Der Bankrott, der vielen von ihnen droht, wäre gleichzeitig das Ende der kulturellen Infrastrukturen, die sie bezuschussen, nicht zuletzt das Aus der Stadttheater. Denn Kultur gehört nicht zu den gesetzlich verankerten kommunalen Pflichtaufgaben; die knappen Gelder fließen im Zweifelsfall anderswo hin.
Aber nicht nur das Geld ist knapp, auch der Wille schwächelt. Der Kulturpolitik via Rotstift steht leider immer öfter das stillschweigende Einverständnis der manchmal desinteressierten, häufig auch nur schlecht informierten Öffentlichkeit gegenüber. Was die nonchalante Forderung, die "Theaterkisten einfach zu schließen", eigentlich beinhaltet, verdeutlichte vielen erst Antje Vollmers provokativer Gegenvorschlag, die deutsche Theaterlandschaft zum schützenswerten Gut des Weltkulturerbes zu erklären. Der Vorschlag will darauf aufmerksam machen, dass der vielerorts allzu schnell herbeigeführte Theatertod jahrhundertealte Traditionslinien kappt.
Auch die Versuche einer hemdsärmligen Modernisierung führen lediglich zur Banalisierung dessen, was eigentlich gerettet werden soll. Oft kehren sie geradewegs um, was sich angesichts der überkommenen Profilierungsansprüche einzelner Stars seit der Theaterreform des kunstbeflissenen Meininger Herzogs Georg II. im deutschen Theater und weit darüber hinaus durchsetzte: Die Aufwertung des Bühnenwerks, des Ensembles, der Regie und der gesamtdramaturgischen, Bühnenbild und Kostüm umfassenden Arbeit. Unsere heutige Eventkultur mit teuren, herumreisenden Tenören ist kein Schritt in die neue Zeit, sondern einer ins ästhetische Vorgestern.
Lösungen sind nicht wohlfeil zu haben, aber auch die bloße Forderung nach mehr Geld reicht nicht aus. Nötig sind viele kleine Einzelschritte und der Wille, sie zu Rettung der Theater zusammenzuführen. Die jeweilige Lage vor Ort ist zu bedenken und Mut zu Kooperationen, die quer liegen zu den Alltagsroutinen, ist gefragt.
Einer dieser Schritte könnte in einer stärkeren Kooperation zwischen den freien und den öffentlichen Theatern, insbesondere den Stadttheatern bestehen. Dass es sich hier um durchaus vermintes Gelände handelt, zeigte kürzlich Norbert Kentrup, der mit Shakespeare und Partner zum Urgestein der Freien Theaterszene gehört. In einer luziden Analyse verdeutlichte er die Probleme, die entstehen können, wenn die low-budget-Experten der freien Theater mit den Vertretern der hochsubventionierten Häuser zusammentreffen. Kentrup verwahrt sich insbesondere dagegen, die Freie Szene für eine totale Flexibilisierung der Theater nach amerikanischem Vorbild in Beschlag zu nehmen - für einzelne Aufführungen zusammengecastete freie Schauspieler bewegen im Betrieb überhaupt nichts mehr. Auch spricht er sich gegen Formen der Zusammenarbeit aus, in denen freie Gruppen durch Mietzahlungen oder sonstige Aufwendungen die Subventionstheater zusätzlich subventionieren.
Stattdessen plädiert Kentrup für eine gleichberechtigte Zusammenarbeit - was mit der Einsicht anfangen kann, dass die Kostüme des öffentlichen Theaters nicht das Eigentum ihrer Intendanten sind. Gemeinsame Kulturräte von freien und öffentlichen Bühnen könnten die Koordination im einzelnen übernehmen, wobei der ganze technische Bereich bis hin zur Präsentation und Öffentlichkeitsarbeit Thema sein kann. Eine wichtige Forderung von Kentrup betrifft die Planungssicherheit der freien Gruppen. Kreditfonds oder eine Künstlerbank könnten mit Blick auf die laufenden Produktionskosten einspringen. Daneben sei die Förderpraxis von den lokalen Mitteln bis hin zu den EU-Töpfen transparenter zu gestalten.
Dass es Beispiele für gelungene Kooperationen gibt, beweist das "Hildesheimer Modell". Urs Bircher, der Intendant des dortigen Stadttheaters, und seine Mitstreiter sprechen lieber von der Hildesheimer Praxis. Ausgangspunkt war eine Situation, die allerdings derjenigen in vielen anderen Städten glich: Mit dem Dahinscheiden der Bildungsschichten, die für lange Zeit das Theater trugen, geriet auch das Hildesheimer Stadttheater in eine finanzielle und legitimatorische Krise. Der Spagat zwischen den Ansprüchen von alten und möglichen neuen Zuschauergruppen war misslungen - die Avantgarde enttäuschte die überkommenen Erwartungen, das traditionelle Theater spielte an der jungen Generation vorbei.
Dennoch arbeiteten die Hildesheimer Theatermacher an der Quadratur des Kreises. Als das Theaterhaus der Freien Szene schließen musste, räumte das Stadttheater flugs seine Studiobühne und bot den Freien Gruppen Exil. Mit übernommen wurde auch der organisatorische Leiter des Freien Hauses, Jan Sellke, der fortan als Bindeglied zwischen Freier Szene und Stadttheater fungierte. Es folgte eine Kooperation auf den verschiedensten Ebenen - gemeinsame Aufführungen, technische Unterstützung, der Einbezug der Freien Gruppen ins Abonnementsprogramm. Auch der Weg in die Stadt wurde gemeinsam beschritten: Es gab Aufführungen im Schwurgerichtssaal des Landgerichts, auch Studentenbühnen und Forschungsseminare der Universität wurden Teil des Gesamtprojekts.
Statt eines ideenlosen Nullsummenspiels, in dem Gewinne auf der einen nur durch Verluste auf der anderen Seite möglich erscheinen, zeichnet sich in Hildesheim eine doppelte Gewinnsituation ab. Sowohl das freie wie das öffentliche Theater erleben einen deutlichen Zulauf. Dass das Ergebnis der integrativen Bemühungen dabei einem "gut sortierten Warenhaus" gleicht, ficht Urs Bircher nicht weiter an. Nur wenn die Bedürfnisse sehr verschiedener Zuschauergruppen Berücksichtigung finden, hat Theater als feste Institution in mittleren Städten eine Chance.
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