Kant und die Corona-Impfung. Ist Nicht-Impfen unmoralisch oder Privatsache?

Impfen und Moral Ist es meine moralische Pflicht, mich impfen zu lassen? Handeln Impfverweigerer also unmoralisch? Verstoßen sie außerdem gegen den 1. Artikel des Grundgesetzes, den Schutz der Menschenwürde?

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Oder hat eine solche Entscheidung nichts mit Moral und der Menschenwürde zu tun? Ist sie demnach nur eine subjektive Geschmackfrage, die im Belieben des Einzelnen liegt?

Was würde Kant dazu sagen? Und was hat das Grundgesetz damit zu tun?

Der berühmte deutsche Aufklärungsphilosoph setzt sich bereits mit seinen ersten Schriften für die Selbstbestimmung ein. Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen und handle sodann aus Überzeugungen, die auf vernünftigen Einsichten beruhen! Befreie dich so aus der Unmündigkeit, der Fremdbestimmung blinden Gehorsams. Folge also nicht mehr blind dem, was dir Priester oder anderen Autoritäten vorschreiben! Sondern agiere in freier Selbstbestimmung mit Hilfe der Vernunft und des Gewissens, die sich an moralischen Prinzipien orientieren!

An diesen Prinzipien orientiere ich mich, nicht aber an Kants Äußerungen zur Impfung. Denn wie auch bei rassistischen oder frauenfeindlichen Äußerungen des Königsbergers deutlich wird, kann ein Denker mit zeitbedingten Einzelaussagen den Prinzipien seiner eigenen Ethik widersprechen. Seine damaligen konkreten Aussagen zur Impfung erscheinen mir darum für die gegenwärtige Pandemie weniger bedeutsam als die bleibenden Prinzipien seiner Ethik.

Demnach sind für Kant Handlungen vor allem anhand zweier Kriterien (des kategorischen Imperativs) zu überprüfen.

Deine Handlung ist moralisch,

  1. wenn der persönliche Grundsatz, der ihr zugrunde liegt, auch als allgemeiner Grundsatz für alle gelten kann!
  2. wenn du dabei die beteiligten Menschen stets in ihrer freien Selbstbestimmung als Subjekte respektierst und niemals nur als fremdbestimmte Objekte missbrauchst. Damit ist Kant ein rationales Kriterium der Menschenwürde gelungen, das sich auch in unserem Grundgesetz findet. Der Kern der Menschenwürde (GG Art.1) besteht nämlich in der freien Selbstbestimmung, die „unantastbar“ ist, also möglichst nicht eingeschränkt werden darf. In den Grund- bzw. Freiheitsrechten (z.B. dem Recht auf freie Meinungsäußerung oder Religionsausübung) wird sie konkretisiert.

Kant glaubt so vernünftige Kriterien entwickelt zu haben, mit denen er jede Handlung, also auch die Corona-Impfung, auf ihren moralischen Gehalt hin überprüfen kann.

Dass die Corona-Impfungen entscheidend für die Bekämpfung der Pandemie sind, kann bei einer überwältigenden Mehrheit renommierter Expert*innen weltweit als unstrittig vorausgesetzt werden. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass Impfstoffe nicht alle Erwartungen erfüllen, Mehrfachimpfungen notwendig sind und dass immer wieder Uneinigkeiten über notwendige Einschränkungen oder mögliche Lockerungen herrschen. Dennoch steht bei den meisten Wissenschaftler-/Politiker*innen außer Frage, dass eine bedrohliche Belastung des Gesundheitssystems sich mit Corona-Impfungen wirkungsvoll verhindern lässt. Länder wie Dänemark, in denen vulnerable Gruppen eine fast hundertprozentige Impfquote aufweisen, können daher sämtliche Einschränkungen aufheben.

Einige Außenseitermeinungen bezweifeln zwar die Gefahren der Corona-Pandemie oder die Sicherheit der Impfungen. Mir erscheint es jedoch schlüssiger, sinnvoller und vernünftiger (auch im Sinne Kants), den weltweiten bewährten wissenschaftlichen Konsens der Risikoabwägung zwischen Pandemie und Impfungen vorauszusetzen.

(Vgl. hierzu auch https://www.freitag.de/autoren/reinhard-salomon/wissenschaft-und-wahn-vom-umgang-mit-der-corona-pandemie

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Ist es also angesichts dieser Fakten meine Privatsache oder meine moralische Pflicht, mich impfen zu lassen? Wie sind Nicht-Impfen und Impfen zu bewerten, wenn wir Kants erstes Kriterium des kategorischen Imperativs hinzuziehen?

Ist es vernünftig und sinnvoll, dass dein persönlicher Grundsatz, dich prinzipiell nicht impfen zu lassen, als allgemeiner Grundsatz für alle gelten soll? Was würde es bedeuten, wenn sich während einer Pandemie prinzipiell niemand impfen ließe?

Entweder nähme die Übersterblichkeit drastische Formen an. Oder gravierende Einschränkungen (der Freiheitsrechte) mit ihren Kollateralschäden wären notwendig, um eine Überlastung des Gesundheitssystems und eine Übersterblichkeit zu vermeiden.

Nicht nur für Kant gehört es zum Sittengesetz, Menschenleben zu schützen bzw. zu retten. Also wäre bereits mit dem ersten Kriterium des kategorischen Imperativs Impfverweigerung als unmoralisch entlarvt.

Es ist also für Kant keineswegs Privatsache, sondern deine Pflicht, dich impfen zu lassen, um Menschenleben zu schützen bzw. zu retten!

Aber steht Kant als Aufklärungsphilosoph nicht für die Selbstbestimmung? Betont nicht auch Art. 1 des Grundgesetzes die Unantastbarkeit der Menschenwürde, deren Kern die freie Selbstbestimmung ist? Kann ich demnach nicht tun, was ich will, mich also entweder impfen oder nicht impfen lassen?

Keineswegs!

Zwar betont Kant tatsächlich die freie Selbstbestimmung als Kern der Menschenwürde. Und die gilt es natürlich zu schützen!

Aber auf der eigenen Selbstbestimmung zu beharren (sich nicht impfen zu lassen) auf Kosten der Selbstbestimmung und Freiheit anderer? Verträgt sich das mit Kants zweitem Kriterium moralischen Handelns!

Wir erinnern uns! Handle so, dass du deine Mitmenschen in ihrer freien Selbstbestimmung respektierst, ja dass du ihre freie Selbstbestimmung und damit ihre Würde nicht antastest. Das ist moralisch und deine Pflicht.

Und wenn diese Pflicht deinen eigenen Wünschen und Interessen („Neigungen“, wie sie Kant nennt) zuwiderläuft? Wenn du Angst vor dem Impfen hast? Dem Impfstoff misstraust? Auf der Unversehrtheit deines Körpers bestehst? Du mit deinem Körper im Einklang bleiben willst (wie Novak Djokovic). Oder wenn du staatlichen Forderungen grundsätzlich misstraust, sie nicht befolgen willst?

Gerade dann hast du trotzdem - entgegen all deiner Neigungen - aus Pflicht das moralisch Richtige zu tun.

Was aber ist das moralisch Richtige? Welches respekt- und rücksichtsvolle Verhalten tastet die Würde und Selbstbestimmung deiner Mitmenschen nicht (oder so wenig wie möglich) an?

Wenn du dich nicht impfen lässt, sich alle nicht impfen lassen?

Würden dann nicht viel mehr Menschen erkranken, Krankenhäuser aufsuchen oder sterben müssen? Oder wären nicht vielerlei Einschränkungen (auch der Freiheitsrechte) notwendig (um das zu verhindern, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten)? Würdest du also durch die Impfverweigerung nicht deine Mitmenschen rücksichtlos zum Objekt deiner Interessen machen und ihre Selbstbestimmung bzw. Freiheiten einschränken?

Wenn du dich dagegen impfen lässt, bringst du deinen Respekt, deine Rücksicht gegenüber der Selbstbestimmung deiner Mitmenschen zum Ausdruck. Je mehr Menschen sich nämlich impfen lassen, desto weniger Freiheitsrechte müssen eingeschränkt werden. So versuchst du, die Freiheit aller, auch deine eigene, zu respektieren oder soweit wie möglich zu gewährleisten.

Wenn du so nach Kant aus Pflicht und nicht eigennütziger Neigung moralisch handelst, entsprichst du auch dem ersten Artikel unseres Grundgesetzes. Du versuchst nämlich die Menschenwürde, die Selbstbestimmung aller, möglichst nicht anzutasten. Du willst so, die Freiheitsrechte der folgenden GG-Artikel für alle so weit wie möglich gewährleisten.

Wer also glaubt, die Impffrage und ihre Beantwortung wären Privatsache und darum nicht zu kritisieren, der irrt. Zumindest im Licht der überaus wichtigen Ethik Kants stellt sich die Impfverweigerung als unmoralisch heraus, als pflichtwidriges eigensüchtiges und rücksichtsloses Verhalten.

Denn sie kann nicht als allgemeinverbindlich gelten. Verweigerte nämlich jeder die Impfung, führte dies offensichtlich in zerstörerische Widersprüche. Nicht-Impfen ist aber nicht nur unvernünftig und verantwortungslos. Sondern Impfgegner bestehen zudem rücksichtslos auf Kosten der freien Selbstbestimmung ihrer Mitmenschen auf ihrer Eigensucht. Dabei verstoßen sie schließlich noch gegen Artikel 1 des Grundgesetzes, den Schutz der Menschenwürde.

Wem aber die Unantastbarkeit der Menschenwürde genau so wichtig ist wie vernünftige moralische Prinzipien, der wird versuchen, nach seiner Erkenntnis und seinem Gewissen zu handeln. Er wird sich so von der moralischen Richtigkeit und Notwendigkeit der Impfung überzeugen können und versuchen, seiner moralischen Pflicht nachzukommen.

Der „gute Wille“ eines solchen Menschen aber – stellt Kant bewundernd fest – würde „wie ein Juwel […] glänzen“.

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Geschrieben von

Reinhard Salomon

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