Eingebetteter Medieninhalt Kalispera Dell [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)]
Wenn sich in unserer Gesellschaft Überfremdungsängste bemerkbar machen, werden oft angebliche "jüdisch-christliche" Werte beschworen. So geschehen bei den Debatten um eine sogenannte „Leitkultur“ oder jüngst bei den „Pegida“-Demonstrationen. In beiden Fällen wird suggeriert, der Islam oder Muslime bedrohten unsere Werte. Mit der Berufung auf "jüdisch-christliche" Wurzeln des sogenannten "Abendlandes" versuchen darum Islamfeinde, Muslime auszugrenzen und zu diskriminieren.
Es sei nur am Rande erwähnt, dass auch andere Traditionen die Kultur des "Abendlandes" beeinflussten und der Begriff des „Abendlandes“ problematisch ist. Durch Anführungsstriche wird er darum als ironisches Zitat von Pegida-Vertretern kenntlich gemacht.
In diesem Artikel soll nur der Frage nachgegangen werden, ob sich Fremdenfeindlichkeit und „jüdisch-christliche“ Werte vertragen. Entspricht eine Ausgrenzung von muslimischen Minderheiten tatsächlich diesen Traditionen, wie sie in der Bibel ihren Niederschlag gefunden haben. Was sagt die wissenschaftliche Theologie dazu?
Einer der ältesten und wichtigsten Quellen des Judentums, der Dekalog, findet sich im Alten Testament und beginnt mit den Worten: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“ (Ex 20,2): Das Volk Israel erinnert sich hier an seine Befreiung aus Ägypten, aus der Sklaverei. Es bekennt sich so zu seinem Gott, der auf Seiten der misshandelten Fremden und gegen Diskriminierung steht.
Dieses „Ur-Trauma“ des Volkes Israels, als Fremde diskriminiert worden zu sein, hat an vielen Stellen des Alten Testaments seine Spuren hinterlassen. So bestimmt gerade der Schutz der schwächsten Glieder der damaligen Gesellschaft, der „Fremden, Witwen und Waisen“, die jüdische Sozialgesetzgebung (z.B. Dtn 24, 17f.). Weil sie ohne den Schutz der Großfamilie auskommen müssen, lässt sich der moralische und religiöse Zustand der Gesellschaft daran ablesen, wie verantwortungsbewusst ihre Mitglieder diese Wehrlosen ohne Lobby behandeln.
Der Prophet Amos entlarvt darum im Namen Jahwes religiöse Rituale als heuchlerisches, frommes Getue, weil sie sich nicht im menschwürdigen Umgang mit den Schwächsten, also auch wehrlosen Fremden, bewähren (z.B. Amos 4, 1; 5, 7-15, 21-24).
Jesus steht in dieser Tradition, wenn er ebenfalls auf der unauflöslichen Einheit von Gottes- und Nächstenliebe besteht und diese auch in Wort und Tat demonstriert (z.B. Mt 22,36-40). Er kümmert sich vordringlich um die „Verlorenen“ und zeigt so, dass ihm besonders die diskriminierten Außenseiter am Herzen liegen (z.B. Mt 9,12f.). Und indem er in einem Gleichnis den Angehörigen einer diskriminierten Minderheit, einen Samariter, zum prototypischen „Helden“ der Barmherzigkeit macht, stellt er Vorurteile in Frage (z.B. Lk 10, 25-37).
Dass er damit heftigste Ablehnung provoziert, zeigt nicht nur sein Ende.
Unsere "jüdisch-christlichen" Wurzeln sind also vom Minderheitenschutz geprägt. Ihre Werte müssen sich sogar insbesondere im Umgang mit Fremden bewähren. Der religiöse und moralische Zustand eines sogenannten "jüdisch-christlichen Abendlandes" lässt sich demnach daran ablesen, wie es seine Minderheiten fremdstämmiger Mitbürger behandelt.
Wenn also „Pegida“-Demonstranten sich auf Werte des Juden- und Christentums berufen, um muslimische Minderheiten als Sündenböcke zu diskriminieren, entsprechen sie keineswegs der "jüdisch-christlichen" Tradition. Sie missbrauchen diese vielmehr und verkehren sie in ihr Gegenteil: in antijüdisch-antichristliche Werte.
Was für eine bittere Ironie, dass also ausgerechnet fremdenfeindliche Pegida-Demonstranten selbst eine von ihnen beschworene "abendländische" Wertegemeinschaft verlassen!
Dieser Artikel erscheint in einer gekürzten Fassung auch in Publik-Forum (Ausgabe 3/2015).
https://www.publik-forum.de/Publik-Forum-03-2015/die-lehren-aus-dem-ur-trauma
Siehe auch:
Kommentare 4
"Unsere jüdisch-christlichen Wurzeln sind also vom Minderheitenschutz geprägt."
Die Ableitung "Minderheitenschutz" wird durch Ihre Beispiele, wenngleich es freilich sorgfältig selektierte Aussagen aus den Heiligen Büchern sind, plausibel. Nun könnte man aber immer noch darüber streiten, was denn die Wurzeln des "Abendlandes" sind. Sind es tatsächlich die Bücher der Juden und Christen? Müsste nach dieser Ableitung nicht der Nahe Osten und Nordafrika die gleichen Wurzeln haben? Wo und, vielmehr, wann und womit beginnt das "Abendland"? Mit der Konstantinischen Wende, mit dem Frankenreich ... ? Und steckt nicht mindestens genauso viel Römisches Reich im Abendland wie das, was aus nah-orientalischen Büchern über den anfänglichen Status religiös Verfolgter und Untergrundgruppen dann zur Staatsreligion wurde, die wiederum die jüdische Urwurzel zu scheuen hatte?
"Jüdisch-christliche Wurzeln" oder "Jüdisch-christliche Tradition" - das sind doch, wenn nicht ganz junge, so doch Erfindungen, auf die zu kommen frühestens nach der Realisierung dessen, was abendländische Usus im Umgang mit Juden war, der in der höchstmöglichen Katastrophe des Nazi-Holocaust gipfelte, möglich war. Wer heute von einer "jüdisch-christlichen Tradition" im Abendland, oder gar Deutschlands, spricht - egal ob Pegiden, Christen, Sozialdemokraten ... -, redet ahistorisch. Dabei haben Juden das "Abendland" sehr stark geprägt. Als Juden oder auch nicht als Juden. Die Behauptung, eine Union aus Christentum und Judentum hätte das Abendland geprägt, leugnet oder verhöhnt die jahrhundertelange Judenverfolgung.
Ferner wäre zu fragen, ob die Ausprägung(en) des Christentums im "Abendlande" mit seinen Verwaltungs- und Machtapparaten, den Kirchen, denn wirklich ein getreues Weitermarschieren der Apostel waren. Ich denke, man sollte schon hinschauen, was "das Abendland" denn tatsächlich war (und ist), und nicht einfach aus ein paar Bibelsätzen ableiten, wie es denn gewesen sein muss, weil es sich christlich nannte.
Gegen die Intention Ihres Textes will ich freilich ganz und gar nichts sagen. Pegida ist schlicht fremdenfeindlich. Alles, was für Pegiden schlecht läuft, wird auf eine Ecke projiziert, wo sich relativ einfach angreifen lässt: Warum kriegen die, wo wir noch nicht einmal kriegen, was uns zustünde?! Typisch für solche Bewegungen ist die Betonung der und der Rückgriff auf die vermeintlichen eigenen Werte. Und "jüdisch-christlich" klingt, klar, konservativ aber eben auch jeglicher Radikalität unverdächtig. Wenn aber anfängt, die Leute zu fragen, was sie denn daraunter verstünden, was "jüdisch-christlich" oder auch "Abendland" bedeute - da geht die Holperei los.
Vielen Dank für Ihren anregenden Kommentar!
Ihrer Anmerkung zu den vielfältigen Einflüssen auf unsere Kultur stimme ich zu und erwähne das ja auch in meinem Artikel:
„Dass auch andere Traditionen die Kultur des „Abendlandes“ beeinflussten, sei nur am Rande erwähnt.“
Diesen Artikel wollte ich mit diesem Thema allerdings nicht überfrachten. Ich beschränke mich darum bewusst auf Texte des Alten und Neuen Testaments, die ohne Zweifel auch etwas mit dem Judentum und Jesus dem Juden zu tun haben.
In der Tat ist der Begriff des „Abendlandes“ problematisch, weshalb er vielerlei Angriffsflächen für Kritik bietet. Ich hätte ihn daher konsequent in Anführungsstriche setzen und so als ironisches Zitat von Pegida-Vertretern kenntlich machen sollen. Davon unberührt bleibt meine Kritik an der Fremdenfeindlichkeit dieser Vertreter. In meinem Artikel habe ich sie so formuliert:
„Hier soll nur der Frage nachgegangen werden, ob sich Fremdenfeindlichkeit und jüdisch-christliche Werte vertragen.“
Das ist auch eine Entgegnung auf Ihren Vorwurf:
„Die Behauptung, eine Union aus Christentum und Judentum hätte das Abendland geprägt, leugnet oder verhöhnt die jahrhundertelange Judenverfolgung.“
„Eine Union aus Christentum und Judentum“, die das „Abendland“ prägte,als historisches Faktum anzunehmen, ist natürlich Nonsens.
Wenn ich stattdessen von jüdisch-christlichen Werten spreche, so beschränke ich mich auf die Beurteilungskriterien, wie sie in den Traditionen des Alten und Neuen Testaments zu finden sind. Haben diese Quellen doch ohne Zweifel etwas Grundlegendes mit dem Juden- und Christentum und jüdisch-christlichen Werten zu tun. Sollte sich darum nicht jeder zumindest an diesen Prinzipien messen lassen, der sich wie Vertreter der Pegida auf Jüdisch-Christliches beruft?
Dies gilt auch für alle grauenhaften Erscheinungsformen des sogenannten Juden- und Christentums: also nicht nur für dogmatisch-institutionelle Verkrustungen oder fundamentalistische Pervertierungen. Ich denke auch an Gewaltexzesse wie Kreuzzüge, inquisitorische Folter, Ketzerverbrennungen und - leider - auch die jahrtausendlange Diskriminierung von Juden bis zur „Endlösung“, auch wenn letztere sicher nicht direkt auf das Christentum zurückzuführen ist …
Um solche verschiedenen Erscheinungsformen beurteilen zu können - sie selbst bewerten diese ja auch - müssen meiner Ansicht nach die angeblich heiligen Texte im Lichte der Aufklärung gelesen werden, also historisch-kritisch. Dabei lassen sich u.a. im Kontext aller Schriften Traditionen erarbeiten, die an verschiedenen Stellen der Bibel ihre Spuren hinterlassen haben und im Zusammenhang durchaus ein Gesamtbild ergeben. Dazu gehört z.B. der Schutz des Fremden.
Solche humane Prinzipien lassen sich kritisch von menschenverachtenden Tendenzen unterscheiden. Letztere finden sich in der Bibel oder Geschichte und eben auch bei fremdenfeindlichen Pegida-Anhängern. Diese innerreligiöse kritische Auseinandersetzung um eine menschenwürdige Religion ist nicht nur gute Aufklärungstradition (z.B. bei Lessing), sondern sie findet sich bereits Jahrtausende früher in den jüdisch-christlichen Quellen von ihrer Entstehung an. Dafür stehen nicht nur Propheten wie Amos, Jesus, Franz von Assisi, Friedrich Spee, Bonhoeffer oder Küng. Sie alle sind von der Überzeugung geprägt, dass die Würde jedes Menschen als Gottes Geschöpf und Ebenbild unveräußerlich ist - im Übrigen auch eine der jüdischen Traditionen, die neben anderen im heutigen Verständnis der Menschwürde ihre Spuren hinterlassen hat.
Weil aber der Schutz von Menschenwürde und Minderheiten bis heute nicht gewährleistet ist, darum hält das Ringen an, nicht nur in den Religionen.
Nur ein Beispiel solcher innerreligiöser Konflikte: Einerseits heizt der Mönch Heinrich Kramer mit seinem Hexenhammer (1487) die Hexenverfolgung an. Andererseits entlarvt der Jesuit Friedrichs Spee in seiner Cautio Criminalis (1631) für seine Zeit erstaunlich mutig und scharfsinnig den Hexenwahn.
Wer also pauschal d i e Kirche kritisiert, übersieht ihre kritischen Vertreter, mit denen er in seiner Kritik und seinen Zielen womöglich zu großen Teilen übereinstimmt. Wäre es darum nicht sinnvoller, sich mit diesen zu verbünden?
Die historisch-kritischen Unterscheidungen sind zwar mühsam, aber unverzichtbar. Lassen sich doch so anhand rationaler Kriterien inhumane oder terroristische Pervertierungen der Religion entlarven und Perspektiven für Reformen aufzeigen.
Solche Unterscheidungen sind zudem keineswegs willkürlich, sondern – wie gesagt - das Ergebnis mühsamer Forschung. Wer sie in Frage stellen will, sollte sich erst einmal mit dem Forschungsstand befassen. Sonst besteht die Gefahr, dass der entschiedene Religionskritiker ebenso wie der Fundamentalist nur seine Vorverständnisse auf die Texte projiziert. Zwar kommen beide zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen: So leugnet der religiöse Fundamentalist mit dem Schöpfungsbericht die Evolutionstheorie und der Religionskritiker sucht sich alles zusammen, was gegen die Religion verwendet werden kann. Dennoch sind sie sich beide völlig einig in ihrem „voraufgeklärten“ wörtlichen Bibelverständnis. Und so können sie denn unbelastet von wissenschaftlicher Exegese nach Herzenslust die Stellen anachronistisch selektieren, die ihren Vorurteilen entsprechen.
Doch können solche willkürlich zusammengeklaubten Erkenntnisse produktiv sein? Sollten wir - Religionskritiker, Historiker, Religionswissenschaftler und Theologen - uns nicht vielmehr gemeinsam differenziert für das aufgeklärte und humane Potential der Religionen einsetzen? Auch der späte Habermas sieht dies übrigens ähnlich. Das ist zwar ein jahrtausendealtes, mühsames, aber unverzichtbares Projekt, wenn wir tatsächlich Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewaltexzesse als antijüdisch-antichristlich entlarven und verhindern wollen.
Neben den religiösen Quellen sollten wir dabei selbstverständlich auch unbedingt die sonstige Geschichte mitsamt des Holocausts erforschen, da stimme Ich Ihnen zu! Nur so kann eine „ganzheitliche“ Diagnose und Therapie möglich werden!
Dank auch für Ihre ausführliche Entgegnung! So weit ich sehe, sind wir uns größtenteils auch einig.
"Dabei lassen sich u.a. im Kontext aller Schriften Traditionen erarbeiten, die an verschiedenen Stellen der Bibel ihre Spuren hinterlassen haben und im Zusammenhang durchaus ein Gesamtbild ergeben. Dazu gehört z.B. der Schutz des Fremden."
Das Gespräch ist ja schon ganz schon weit ab vom ursprünglichen Text - aber so ist das, gerade bei solchen Themen ...
Ich denke, "Abendland" ist für die Pegiden eher ein Begriffsgefäß, in das sie eine Welt füllen, die 'unter sich' geblieben ist, dabei auch irgendwie heil, ohne die Konfrontationen, welche eine EU offener Grenzen aber v.a. auch die Globalisierung und das Heranrücken der Not und kriegerischen Auseinandersetzungen Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens. Freilich hat es einen solche 'heile' Welt nie gegeben.
Es würde mit Sicherheit sehr schwierig, Pegiden und gleich tickende Leute mit dem Substrat der Bibel überzeugen zu wollen.
„Es würde mit Sicherheit sehr schwierig, Pegiden und gleich tickende Leute mit dem Substrat der Bibel überzeugen zu wollen.“
Das kann ich nach vielen Diskussionen leider nur voll und ganz bestätigen! Menschen, die solchen vereinfachenden und ausgrenzenden fixen Ideen anhängen, suchen sich stets nur das zusammen, was sie in ihren Vorurteilen bestätigt! Gegenargumente – und seien sie auch noch so stichhaltig - werden dagegen ignoriert. Die Ursache dafür sind wahrscheinlich tief liegende Ängste, die mit der Vernunft nicht zu therapieren sind …
Trotzdem werde ich weiterhin auch auf die Aufklärungsideale setzen.
Übrigens haben mich ihre konstruktiven Ausführungen zum „Abendland“ – Danke nochmals! - angeregt, in meinem Artikel einige wenige Änderungen vorzunehmen: insbesondere den Begriff des „Abendlandes“ als ironisches Pegida-Zitat kenntlich zu machen!