Doppelter Zorn im Sterbelicht

Gedenkender Rückblick Am 7. Juli 2021 wäre der Lektor, Herausgeber und Autor Günther Drommer 80 Jahre alt geworden. Zahlreiche junge DDR-Autoren verdanken ihm das Licht der literarischen Welt

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Günther Drommer hat nie die Fahne seiner Grundüberzeugungen in die Tasche gesteckt
Günther Drommer hat nie die Fahne seiner Grundüberzeugungen in die Tasche gesteckt

Foto: Privat

In der barocken Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen hoch über dem weiten oberfränkischen Maintal sind in einem kleinen Raum in der hinteren Kirchecke die Wände mit Votivtafeln behängt, an die der Besucher Zettel mit Wünschen, Bitten und Meinungen heften kann. Einer der Besucher nutzte dieses Angebot, um auf seinem Zettel die Mahnung zu artikulieren, den über 25 Millionen Sowjetbürgern zu gedenken, die ihr Leben durch die deutsche Schuld der Entfesselung des Großen Krieges im Osten verloren, das Präludium für das daraus folgende Elend unter den Deutschen. Wenig später war der Zettel weggefetzt, ebenso wie ein gleich lautender zweiter und ein dritter. Diese Art von Fürbitte war in der oberfränkischen Kirche wohl unerwünscht.

Der Verfasser dieser Zettel war Günther Drommer, langjähriger Lektor bei Hinstorff und Aufbau, Herausgeber des populären Aufbau-Literaturkalenders und zahlreicher Foto-Lesebücher zur deutschen Geschichte von 1871 bis 1945 und zum DDR-Alltag („Die Wahrheit der Bilder – Der Alltag des deutschen Volkes in zeitgenössischen Fotografien“) und des Berichtes „Der spanische Krieg“ von Ludwig Renn. In den 90er Jahren war er Programm-Chef von „Aufbau-Taschenbuch“. Als Autor ist er u. a. mit der ersten Biografie Erwin Strittmatters hervorgetreten.

Zahlreiche später prominent gewordene junge DDR-Autoren verdanken seiner literarischen „Geburtshilfe“ das Licht der literarischen Welt. Einer von ihnen ist der von Franz Fühmann entdeckte und geförderte Lyriker Uwe Kolbe, dessen Erstling „Hineingeboren – Gedichte von 1975 - 1979“ unter dem Lektorat von Günther Drommer 1980 in der „Edition Neuer Texte“ erschien und seine Reputation in Ost und West begründete, gefolgt von „Abschiede“ ein Jahr später. Auch Holger Teschke („Bäume am Hochufer“), Lothar Waldorf („Der Wind ist auch ein Haus“) oder Bernd-Dieter Hüge („Kaderakte eines Zugvogels“) und insbesondere Christoph Hein („Einladung zum Lever Bourgeois“) gehörten aus Sicht der Hauptverwaltung Verlage, quasi der DDR-Zensurbehörde, nicht gerade zu den politisch pflegeleichten Autoren, derer sich Günther Drommer da annahm mit all den Querelen und nicht selten hartnäckigen Fechtereien, wie sie in der DDR in dieser Branche und bei dieser Spezies politisch eher randständiger Autoren üblich waren.

In den 70er Jahren hatte er bereits in Rostock bei Hinstorff, gleichsam etwas entrückt vom hauptstädtischen Auge des permanenten kulturpolitischen Hurrikans, bei Texten solcher Autoren wie Paul Gratzig („Transportpaule“), Klaus Schlesinger („Alte Filme“) oder Rolf Schneider („Die Reise nach Jaroslaw.“, „Von Paris nach Frankreich“) literarische Geburtshilfe geleistet. Schon im Sog des sich abzeichnenden Regime-Change in der Spät-DDR erschien 1989 unter seinem Lektorat die Foto-Biografie „Troika“ von Markus Wolf, allerdings zu spät, um noch größeres politisches Aufsehen zu erregen.

Der unter seinen Autoren geschätzte Lektor war manchem von ihnen nicht nur ein literarischer Helfershelfer, sondern vor allem den jungen Debütanten überdies oft väterlicher Freund und fürsorglicher Lebenshelfer, die ihm dies sehr zu danken wussten. Er verstand seine Rolle im Entstehungsprozess eines literarischen Textes unter den obwaltenden politischen Gepflogenheiten in der DDR vor allem als Anwalt seiner Autoren gegenüber den Widerständen unterschiedlichster Art. Dazu bedurfte es oft konzilianter Umsicht, taktischen Gespürs und eines ausgleichenden und Konflikte dämpfenden Naturells.

Fast 200 Bücher hat Günther Drommer im Laufe seines Lektorenlebens zur Publikation verholfen. Sein letztes Projekt war „Exil der frechen Frauen“ des New Yorker Autors und langjährigen Freundes der Drommers Robert Cohen, ein monumentaler Epochenroman über drei rebellische Frauen und ihren Weg über drei Kontinente. Über Günter Drommer schrieb Cohen: „Den Roman von den frechen Frauen gäbe es nicht ohne ihn. Ihn als Lektor zu haben, war ein Glück. Seine Ratschläge und Ermutigungen, seine Freundlichkeit haben das Erscheinen des Buches möglich gemacht... Die Gespräche waren mir wichtig, weil wir, aus so verschiedenen Welten kommend, die gleiche Haltung hatten. Weil wir uns nicht abfinden konnten mit der schlechten Gegenwart, weil wir nicht ablassen wollten von der Utopie einer anderen, gerechter organisierten Gesellschaft. Bei all diesen Gesprächen das wunderbare Gefühl unter Freunden zu sein. In Günther wirkte jenes Humanum, jene Menschlichkeit, ohne die eine andere Welt nicht zu machen ist.“

In der Tat hat Günther Drommer nie die Fahne seiner Grundüberzeugungen in die Tasche gesteckt, wie man in Frankreich sagt, und dafür, wie wohl viele andere auch, so manche Beule aus der einen oder anderen Schlagrichtung einstecken müssen, und das nicht nur zu DDR-Zeiten. Für ein umstandsloses stromlinienförmiges Andocken an wechselnde und als ungerecht empfundene Umstände fehlte ihm wohl das dazu nötige charakterliche Spike-Protein.

Dabei beschränkte sich zu DDR-Zeiten sein Weltbild nicht auf einfältig-diszipliniertes Wohlwollen gegenüber den Zuständen seines Landes. „Right or wrong – my country!“ war seine Devise beileibe nicht. Als Historiker, der er auch war, speiste es sich aus profunderen und weiter ausholenden Quellen und intellektuellen Erkenntnissen als den bloßen, gleichwohl oft unerquicklichen Alltags- und beruflichen Erfahrungen in der DDR. Sein Interesse galt erkennbar vielmehr den großen Jahrhundertkatastrophen und der besonderen deutschen Schuld daran. Dies dürfte seine entscheidenden Interessensschübe für die beiden Biographien über Ludwig Renn und Erwin Strittmatter gewesen sein, beide geprägt von den jeweiligen Kriegserfahrungen. Dabei läßt er keinen Zweifel daran, welcher Frontseite in diesem „europäischen Bürgerkrieg“ (Ernst Nolte) seine Sympathien galten.

Da stand er nun und konnte nicht anders als in seinem letzten Gefecht, der Affäre um seine Strittmatter-Biografie, seinen Widersachern im deutschen Feuilleton trotzig und mit für ihn ungewöhnlicher verbaler Verve die Stirn zu bieten, wenn auch bei weitem nicht so abgebrüht wie mancher seiner Kontrahenten. Er tat dies in dem Buch „Erwin Strittmatter und der Krieg unserer Väter“ (2010), das er mit der eingangs geschilderten Szene in der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen einleitete, damit sehr treffend den zeitlosen Zeitgeist hierzulande charakterisierend, dessen Hintergrundrauschen er (zu Recht) als die tiefere Ursache solcher Affären wie die um seine Strittmatter-Biografie ansah. Es ist ein Text unbestimmten Genres, eine Mischung aus Streitschrift, akribischen Darstellungen biografischer Details aus dem Leben des Schriftstellers Erwin Strittmatter während dessen Soldatenzeit, dokumentarischen Schilderungen der Kriegseinsätze seines Polizei-Bataillons, spontanen Gedankensplittern und Kommentaren zum aktuellen Zeitgeschehen, emotionalen Rückblicken in die eigene Familiengeschichte und last but not least mitunter wütenden Repliken auf persönliche Angriffe, denen er sich im deutschen Feuilleton ausgesetzt sah. Es ist eine ungeschminkt subjektive, zornige Schrift, immer wieder befeuert durch die Überzeugung, sich zu Recht haltloser weil unbewiesener Vorwürfe erwehren zu müssen. Unter der Hand gerann das Buch zum Credo der eigenen Lebensbilanz und Selbstgewissheit.

Woher aber diese Wut? Das Corpus delicti war Drommers Biografie „Erwin Strittmatter. Des Lebens Spiel“ (2002). Dass auch Biografien Momentaufnahmen sein und durch später zu Tage geförderte Tatsachen womöglich Umwertungen erfahren können, dürfte für den Literaturwissenschaftler Günther Drommer natürlich nichts Unerwartetes gewesen sein. Genau dies hatte sein einstiger Ost-Berliner Fachkollege Werner Liersch insinuiert, als der ihm in der FAS 2007 vorwarf, Strittmatters vermeintliche SS-Mitgliedschaft und mögliche Beteiligung an Massakern seiner Polizeibataillon-Einheit in Griechenland und auf dem Balkan wider besseren Wissens in besagter Biografie unter den Teppich gekehrt zu haben. Strittmatter, so das implizite Filtrat des Artikels, habe seine Vita willentlich geschönt und gehöre literarisch ans Kreuz genagelt. Das war eine Cancel-Culture-Operation avant la lettre, ähnlich derjenigen zuvor gegen Stephan Hermlin, Christa Wolf, Walter Jens oder Günther Grass. (Vergleichbares ist in den Edel-Feuilletons bezeichnenderweise etwa Ernst Jünger oder Martin Heidegger nie widerfahren, die beide ihrer angestammten Seite in dem „Europäischen Bürgerkrieg“ treu blieben.)

Zwar räumte auch Werner Liersch ein, eine direkte Verstrickung an Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung sei dem Polizei-Oberwachtmeister Erwin Strittmatter während seines Kriegsdienstes in einem Polizeibataillon während des 2. Weltkrieges bislang nicht nachzuweisen, aber dem oberflächlichen Leser auch des FAS-Feuilletons dürfte die Suggestion haften geblieben sein, der in der DDR sehr populäre (und in der Bonner Republik ignorierte) Schriftsteller sei SS-Offizier und in vollem Bewusstsein ein aktiver Parteigänger der Hakenkreuzler gewesen. Dem Biografen hätte all dies bekannt sein müssen, und er habe dies folglich bewusst und in reinwaschender Absicht verschwiegen, um die DDR-Ikone Erwin Strittmatter und den Gründungsmythos von der antifaschistischen DDR nicht zu beschädigen. Mit dieser Unterstellung reihe sich Liersch, so ein Leserbrief in der FAS zu dieser Causa, „ein in die Phalanx all jener, die zu DDR-Zeiten prononcierte Stellungen inne hatten und nun auf jene spucken, die ihre Förderer waren. Liersch sei zu raten, mal Rolf Bossi "Götter in Schwarz" oder "Das Buch Hitler" zu lesen. Dort finden sich lange Listen all jener, die nach 1945 sehr schnell in dieser Bundesrepublik wieder ihre alten Posten einnahmen bzw. von ihren fetten Pensionen leben konnten. Wer sich derart öffentlich wichtig macht, sollte sich sehr gut in der deutschen Geschichte auskennen. Es ist noch gar nicht lange her, daß ein Ministerpräsident am Grabe eines ehemaligen Marine-Blutrichters den Versuch unternahm, ihn zum antifaschistischen Widerstandskämpfer umzufunktionieren. Der Ministerpräsident kam in die mißliche Lage, seinen Versuch bedauernd zurücknehmen zu müssen, weil die öffentliche Meinung das nicht akzeptierte. Günter Grass, Martin Walser, Dieter Hildebrandt oder nun Erwin Strittmatter - was man ihnen auch immer nachsagen mag: Man lese ihre Bücher, schaue sich ihr Schaffen und Wirken in den vergangenen 60 Jahren an und versuche dann, eine vorsichtige Wertung.“

Die Manipulationsvorwürfe trafen Günther Drommer nicht nur in seiner professionellen Ehre, sondern wohl schmerzlicher noch wegen der impliziten Anprangerung seines Weigerns, nach 1990 in den wohlgefälligen Delegitimierungs-Chor einzustimmen und in dem mutatis mutandis in neuer Gestalt wieder aufgeflammten „Europäischen Bürgerkrieg“ wie sich das gehöre die Fronten zu wechseln. Da platzte ihm der Kragen. Seine teilweise wütende Replik über dieses aus seiner (plausiblen) Sicht durchsichtige Feuilleton-Manöver war weniger ein naiv-blauäugiges Plädoyer für die Unschuldsvermutung gegenüber Strittmatter wegen Mangels an Beweisen des ihm Vorgeworfenen als viel mehr eine kochende Empörung über das hierzulande obwaltende geschichtspolitische Pharisäertum, von der die ganze Affäre mit den Anwürfen von Werner Liersch als Ausgangspunkt zeugte.

Günther Drommers Buch hat erwartungsgemäß viel Häme erfahren, u. a. von einem früheren veritablen Experten für „Marxistisch-leninistische Fortschrittstheorie und ihre Konsequenzen für die Rolle der Intelligenz in der sozialistischen Gesellschaft“ (sic!). Er selbst nannte sein Buch ein „schwer ertragbares“. Es markierte den Schlusspunkt der Beschäftigung mit Erwin Strittmatter. Er wolle, so Drommer fast trotzig am Ende dieses Buches, im letzten vielleicht noch verbleibenden Lebensjahrzehnt sich mit „einem erträumten Paradies auf Erden beschäftigen, in dem irgendwann alles doch noch gut geworden ist“. Denn für ihn werde es jetzt oder nach seinem Tode ein Paradies nicht geben.

Günther Drommer starb am 14. September 2020. Am 7. Juli 2021 wäre er 80 Jahre alt geworden. Er ging im Geiste von Dylan Thomas:

„Geh nicht gelassen in die dunkle Nacht
Brenn, Alter, rase, wenn die
Dämmerung lauert.
Im Sterbelicht sei doppelt
Zorn entfacht“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden