Herr im Hause

Achsenbruch In der gegenwärtigen Kontroverse mit Paris geht es Berlin nicht nur um ein verteilungspolitisches Diktat

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In seiner epochemachenden ersten großen europapolitischen Grundsatzrede am 22. 03. 2013 hielt es Bundespräsident Joachim Gauck, wohl aus gegebenem Anlaß, für dringend geboten, der Welt beruhigend zu verkünden: „Wir wollen andere nicht einschüchtern, ihnen auch nicht unsere Konzepte aufdrücken.“ Kurz zuvor hatte allerdings ein Spitzen-Parlamentarier der CDU gerade den Franzosen die Leviten gelesen: „Die Franzosen müssen ihre Hausaufgaben machen. Da liegen sie weit, weit hinter anderen Ländern. Und das ist auch bedenklich, denn Frankreich ist die zweitgrößte Volkswirtschaft in Europa. Es ist notwendig, dass die Franzosen jetzt zurückkehren auf den Pfad der Tugend. Die Dinge, die wir mit der Agenda 2010 gemacht haben, müssen in Frankreich alle noch durchgeführt werden. Ich hoffe, dass Hollande das verstanden hat.... Kurzfristig werden die Franzosen vermutlich in dem gesamten Bereich Soziales überlegen müssen, ob sie nicht da und dort überall zu viel ausgeben.... Zum Beispiel im Rentenbereich liegen sie völlig falsch.“ (Michael Fuchs, stellvertretender CDU-Fraktionsvorsitzender, im Deutschlandfunk, 22. 03. 2013, 7.15 Uhr)

Der anschwellende Bocksgesang der letzten Wochen mit diesem Tenor an die Adresse von Präsident François Hollande, ausgerechnet zum 50. Geburtstag des historischen Elysée-Vertrages, läßt nun die Verve des Furor teutonicus eoconomicus immer ungehemmter deutlich werden, alle diplomatischen Floskeln der deutsch-französischen Freundschaft vergessend.

Wie man in den französischen Wald hineinruft, schallt es nun von dort zurück. Am Freitag (26.04.) hatte der Parti Socialiste des Präsidenten François Hollande in einem durchgesickerten Papier der deutschen Kanzlerin „egoistische Intransigenz“ vorgeworfen und ebenso wie zuvor der Präsident der Assemblée Nationale Claude Bartolone für eine „demokratische Konfrontation“ mit Berlin plädiert. („Le Figaro“ vom 27. 04. ) Sogar Alain Juppé, unter Sarkozy Außenminister, sieht das Vertrauen zwischen Paris und Berlin „zerbrochen“ („Le Monde“ vom 27. 04.). Da wirken die Beschwichtigungsversuche des Regierungschefs Jean-Marc Ayrault schon eher alarmierend: „Ohne einen intensiven und ehrlichen Dialog zwischen Deutschland und Frankreich werden wir die Probleme Europas nicht lösen.“ Auf seinem Twitter-Account hat der frühere Deutsch-Lehrer diese Botschaft vorsichtshalber eigenhändig ins Deutsche übersetzt, damit sie in dem immer weniger francophilen Berlin auch wirklich ankommt.

Was genau bedeutet nun die Forderung von Michael Fuchs an die Adresse Frankreichs, „zurückkehren auf den Pfad der Tugend “? Es ist die Forderung nach der Rückkehr nach einem sozialen status quo ante, als die Welt noch in Ordnung war und jenseits des Rheins noch nicht das sündige Lotterleben mit all dem sozialen Schnickschnacks eingerissen war. Doch bis wann genau herrschte dortzulande dieses Goldene Zeitalter der sozialen Tugenden und durch wen wurde es beendet ?

Die Antwort steht u. a. im „Programms des Nationalrates des Widerstandes“ (CNR), das vor fast genau 69 Jahren verabschiedet wurde. Bezeichnenderweise gibt es dazu nicht nur keinen deutschen Wikipedia-Eintrag, sondern nicht einmal die Einladung, einen solchen zu verfassen. Aber immerhin wird dieses Programm im gemeinsamen deutsch-französischen Geschichtsbuch mit einem kurzen Satz erwähnt, ohne allerdings nur ein Wort über dessen Inhalt zu verlieren. Wohl nicht ohne Grund, denn es handelt sich genau um jenes Grundsatzprogramm der sozialen Umgestaltung Frankreichs nach der Befreiung von der deutschen Besatzung, das die Grundlagen für ein Sozialregime legte, das Frankreich in den Augen von Michael Fuchs vom Tugendpfad abbrachte und das es nun endlich wieder zu beseitigen gilt.

Es ist dem kürzlich verstorbenen Stéphane Hessel zu verdanken, dem Mitverfasser der am 10. Dezember 1948 im Pariser Palais Chaillot verabschiedeten „Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte“, daß auch in Deutschland ein breiter Leserkreis davon Kenntnis bekam. In seinem inzwischen legendären Pamphlet „Empört Euch“, dem auflagenstärksten deutschsprachigen Sachbuch aller Zeiten, erinnert er an die Grundsätze für die Neuordnung der französischen Nachkriegsgesellschaft, die am 15. März 1944 von der großen nationalen Koalition des antideutschen Widerstandes einmütig beschlossen wurde. Das CNR-Programm „beinhaltet Vorschläge tiefgreifender sozialer Erneuerung für ein befreites Frankreich, die das Fundament der neuen Demokratie unseres Landes bilden sollte.“ Darin wurde „die soziale Sicherheit im Sinne des Widerstandes begründet ... mit dem Ziel, allen Menschen das Grundbedürfnis nach materieller Sicherheit zu gewährleisten. Ganz besonders in Zeiten, in denen sie nicht oder nur unzureichend aus eigener Kraft für ihr existenzielles Überleben sorgen können. Eine Rente, die allen Arbeitnehmern einen würdevollen Lebensabend sichert.“ Es sei um nicht weniger als „die Einrichtung einer wirklichen wirtschaftlichen und sozialen Demokratie“ gegangen, „die die Abschaffung des wirtschaftlichen und finanziellen Feudalismus beinhaltet.“ Das Interesse der Allgemeinheit müsse „vorrangig vor dem Interesse des Einzelnen sein, die gerechte Aufteilung des durch die Arbeitswelt geschaffenen Reichtums vorrangig vor der Macht des Geldes.“ Die Résistance zielte auf „eine vernünftige Organisation der Wirtschaft, mit der Gewährleistung einer Unterordnung des Einzelinteresses unter das Gemeininteresse und der Befreiung aus der Diktatur, wie es in den faschistischen Ländern sichtbar war“.

Wie zu sehen, geht es mit den unentwegten Attacken gegen das französische Sozialmodell nicht nur um notwendige Justierungen angesichts einer stagnierenden Wirtschaftsleistung, sondern um die generelle Annullierung jener sozialen Essentials, die Frankreich mit dem Sieg über Deutschland im 2. Weltkrieg erkämpfte und welche die von de Gaulle begründete Nachkriegsordnung prägten.

Die deutschen Eliten sind sich in dieser Frage völlig einig mit dem französischen Patronat. So forderte bereits 2007, also noch vor der Finanzkrise, der damalige Vize-Präsident des französischen Unternehmerverbandes MEDEF, Denis Kessler: „Es handelt sich heute darum, 1945 hinter uns zu lassen und das Programm des Nationalrates des Widerstandes systematisch abzustoßen.“ („Challenges“ 4. 10. 2007) Die Werte der Résistance „abzustoßen“ bedeutet, die Werte ihrer Gegner zu rehabilitieren. Die Gegner der Résistance waren das hitleristische Deutschland und die Pétain-Diktatur. Die Werte der Résistance „abzustoßen“ bedeutet im Umkehrschluß die Unterminierung des „Fundaments der neuen Demokratie“ und die Wiedererrichtung „des wirtschaftlichen und finanziellen Feudalismus“ in Frankreich. Was denn sonst?

Frankreich von deutscher Seite unter dem Damoklesschwert der beträchtlichen Disparitäten in den gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen jetzt endlich wieder mal unter die Nase zu reiben, wer das Sagen in Europa hat und ihm das deutsche Agenda-2010-Modell aufzunötigen, hätte also einen doppelten Kollateral-Nutzen von beträchtlicher ideologischer und historischer Dimension: Man könnte den Franzosen zum einen auf diese Weise endlich den Rest ihrer sozialistischen Flausen auszutreiben, die sich dortzulande im Ergebnis der an Revolutionen reichen Geschichte des Landes eingenistet haben, sich von dort wie eine Pest über Europa ausbreiteten und auch in Deutschland zur sozialen Aufmüpfigkeit anstachelten, und zum anderen wäre es eine Satisfaktion für die Ruchlosigkeit der abermaligen deutschen Niederlage 1945.

Deutschland legte schon immer Wert auf große Symbolik, wenn es galt, dem unterlegenen Erbfeind in demütigender Gestik zu demonstrieren, wer der Herr im Hause Kontinental-Europas ist: Das Zweite Reich wurde im Spiegelsaal des Prunkschlosses von Versaille ausgerufen, gewissermaßen mit dem Soldatenstiefel auf dem Körper des am Boden liegenden Frankreichs. Hitler zelebrierte die Unterzeichnung des Waffenstillstandes vom 22. Juni 1940 demonstrativ im historischen Eisenbahn-Waggon von Compiègne, wie um die deutsche Schmach der Niederlage von 1918 effektvoll zu tilgen, die dort am 11. November besiegelt worden war.

Nach der Reichsgründung 1871 und dem Waffenstillstand 1940 wird es nun wohl Zeit für einen dritten - endgültigen? - Unterwerfungsakt Frankreichs unter die Führungsrolle Deutschlands in Europa. Für diesmal böte sich vielleicht ein Ort vergleichbarer symbolischer Wirkmächtigkeit an: das gerade renovierte alte Offizierskasino in Berlin-Karlshorst, wo am 8. Mai 1945 die deutsche Wehrmacht vor den Alliierten bedingungslos kapitulieren mußte, zum Entsetzen Keitels auch vor Frankreich...

„Challenges“ (4. 10. 2007), Deutschlandfunk (22. 02. 2013), "Le Figaro“ (27. 04. 2013), „Le Monde“ vom 27. 04.2013, Stéphane Hessel "Indignez-vous! " Indigène, Paris 2010

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