„Die Reichen leben über unsere Verhältnisse“

Präsidentschaftswahlen Wie der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon das politische Frankreich aufmischt

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Jean-Luc Melenchon in Marseille
Jean-Luc Melenchon in Marseille

Foto: Anne-Christine Poujoulat/AFP/Getty Images

Der Präsidentenwahlkampf in Frankreich tritt in seine heiße Phase. Je näher der Wahltermin am 24. April rückt, desto nervöser wird die Classe politique auch hierzulande, wohl ein ähnliches politisches Erdbeben wie nach dem Brexit und der Trump-Wahl befürchtend. Bisher galten die Sorgen zunächst dem soliden Sympathisantensockel des rechtsrandigen Front National unter Marine Le Pen und die Hoffnungen dem smarten Macron als einzigem konsequent Pro-Brüssel-Kandidaten und daher hochgepushten Darling aller Official-Mind-Medien hierzulande, über den hier alle ganz aus dem Häuschen sind. Als Spiritus rector der unternehmerhörigen a-sozialen Wirtschafts- und Sozialpolitik Hollandes („Loi Macron“) wird der „Sowohl-als-auch“-Kandidat trotz alledem wohl auf dem Ticket „Alles außer Le Pen“ die Stichwahl gewinnen, so wie vor 15 Jahren Chirac gegen Le Pen, den Alten.

Seit Sonntag ist nun eine graue Wolke am Wahlkampfhorizont aufgezogen. Jean-Luc Mélenchon mit seiner Sammlungs-Bewegung links vom PS „La France insoumise“ hat erstmalig die Skandalnudel Fillon von den Republikanern, wie sich die Enkel de Gaulles neuerdings nennen, in den Umfragen überholt und knapp den dritten Platz erobert. Im gleichen Rhythmus ist der aus den Primaires des PS als Überraschungssieger hervorgegangene und damit als offizieller Kandidat der Regierungspartei nominierte Benoît Hamon unter die magische 10%-Marke zurückgefallen. Sollte der im Hollande-Lager und PS-Parteiestablishment ungeliebte Linkssozialist Hamon über seinen eigenen Schatten springen und, bei der programmatischen Nähe durchaus glaubwürdig, sich zugunsten Mélenchons bereits im ersten Wahlgang zurückziehen, könnte es für Macron eng werden. Nicht auszudenken, im zweiten Wahlgang hätten die Pro-Brüssel-Elitisten an der Seine die Wahl zwischen Le Pen und Mélenchon, gewissermaßen zwischen Pest und Cholera. In den 30er Jahren lautete übrigens das Credo der Mehrheit der französischen Bourgeoisie „Lieber Hitler als Blum“, um die drohende Volksfront unter dem Sozialisten-Führer (und Juden!) Léon Blum zu verhindern.

So wird beiderseits des Rheins schon mal der propagandistische Motor angeworfen, um Mélenchon in bewährter Manier als „rote Gefahr“ an die Wand zu malen und mit Le Pen in denselben Topf der „Partei Moskaus“ zu werfen. In der „Zeit“ etwa wird er ohne Umschweife mit dem Etikett „Kommunist“ und „Linksradikaler“ beklebt. Nun, Mélenchon ist so wenig „Kommunist“ wie Angela Merkel „Sozialdemokratin“ ist. Als ehemaliger Minister in der PS-Regierung Jospin unter der Präsidentschaft des Gaullisten Chirac vertrat Mélenchon gemeinsam mit Henri Emmanuelli die linkssozialistische Strömung „Nouveau Monde“ innerhalb des Parti socialiste (PS), bevor er 2008 aus Protest gegen die Rechtsdrift der damaligen Präsidentschafts-Kandidatin Ségolène Royal die Partei verließ, um mit dem „Parti de gauche“ eine neue linke Sammlungsbewegung zu gründen. Darin verficht der Dissident der Sozialisten eine klassisch links-sozialdemokratisches, pro-soziales Programm intra muros der demokratischen Institutionen der Französischen Republik. Der stark dezimierte Parti communiste unterstützt Mélenchon in diesem Wahlkampf übrigens nur widerwillig und hatte lange mit dem Gedanken eines eigenen Kandidaten gespielt. Demgegenüber kann man die beiden trotzkistischen Kandidaten Philippe Poutou (Parti anticapitaliste) und Nathalie Arthaud (Lutte ouvrière) durchaus als „Gauchistes“ im traditionellen Sinne bezeichnen wie einst Cohn-Bendit in der Mai-Revolte von 1968 („Denny, le Rouge“).

Zu diesem Algorithmus gehört natürlich die vermeintliche „Kreml-Nähe“ und der Vorwurf, am langen Marionetten-Faden Putins zu tanzen. Da nützt Mélenchon auch seine scharfe Kritik nichts: „Ich bin in keiner Weise mit Putin verbunden. Ich bin absolut gegen seine Politik, ich würde nicht für seine Partei stimmen sondern für meinen Genossen der russischen Linksfront, der im Gefängnis sitzt.“ (30. 03. in Le Havre). Ihn trennten von Putin tiefe ideologisch Gräben auf den Gebieten der Ökologie, des Umgangs mit politischen Gegnern, des Antikapitalismus‘ und des Respekts der Menschenrechte. Allerdings weigere er sich, in den Anti-Putin-Chor derjenigen einzustimmen, die darauf hofften, einen Konflikt mit Rußland vom Zaune zu brechen. Der Frieden sei ihm wichtiger.

Allerdings war er schon vor drei Jahren während des Coup d‘Etat in Kiew aus der Reihe getanzt: „Ohne Sympathie für die russische Regierung“ gab er damals zu bedenken: „Die Krim-Häfen sind lebenswichtig für die Sicherheit Rußlands, und es war absolut absehbar, daß die Russen da nicht mit sich spielen lassen würden. Sie sind dabei, Sicherheitsmaßnahmen gegen eine abenteuerliche Putschisten-Macht zu ergreifen, in der Neonazis eine abscheuliche Rolle spielen.“ Weit entfernt von einer Liebeserklärung an Putin weigere er sich schlicht, sich der „romantischen Vorstellung“ anzuschließen, bei den Maidan-Demonstranten habe es sich in toto um nichts als Helden der Demokratie gehandelt und dabei die Augen vor den Nazis in deren Reihen zu verschließen. Frankreich solle sich künftig aus Konflikten heraushalten, die nicht sein direktes strategisches Interesse betreffen. Das gelte v. a. auch die Frage der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens.

Ähnlich in der Syrienfrage: Er finde es „absurd, Al Quaida in Afghanistan als unseren Feind und in Syrien als unseren Verbündeten“ zu betrachten. Ihm gehe es um eine Hierarchisierung der Feinde in diesem Konflikt, und an der Spitze stünden nun mal Daesh und Al Quaida, die, und die allein, in Frankreichs zuschlügen. Daher befürworte er die Unterstützung der Kurden als effiziente militärische Kraft im Kampf gegen den Djihdismus und die russischen Bombardements gegen dessen Nachschublinien und stelle die amerikanische und französische Strategie in Frage, die dijhadistisch und salafistisch inspirierten bewaffneten Gruppen zu stützen wie den Al Quaida-Ableger Al-Nusra, heute Fatah al-Cham. „Wir haben keine Freunde, wir haben nur Interessen“, so Mélenchon im Geiste de Gaulles. (Dasselbe sagte übrigens Gorbatschow zu Margret Thatcher während seines ersten Besuches in London!)

Ein anderer Feuerstoß richtet sich gegen die europapolitischen Vorschläge Mélenchons, sie umstandslos mit denjenigen Le Pens in einen Topf werfend, wie kürzlich wieder in der „Taz“ geschehen. Dies ist, freundlich gesagt, „kontra-faktisch“. Während Le Pen wie Cameron die EU-Mitgliedschaft per Referendum den Wählern vorlegen (und im Erfolgsfalle aufkündigen) will, schlägt Mélenchon die „demokratische, soziale und ökologische Neugründung“ der EU durch Neuverhandlung der europäischen Verträge vor. ("une refondation démocratique, sociale et écologique des traités européens par la renégociation") Das ist nicht dasselbe. Sollte dies am Widerstand Brüssels scheitern, dann sieht der „Plan B“ vor, die EU-Beiträge Frankreichs in Höhe von 22 Mrd. € auszusetzen, die Banque de France zu „requirieren“, um wieder die Kontrolle über die Kreditpolitik und die Bankenregulierung zu erlangen, ein alternatives Währungssystem mit jenen Partnern in der EU ins Auge zu fassen, die an einer Umwandlung des Euro von einer Einheitswährung in eine Gemeinsame Währung interessiert sind und Maßnahmen gegen Kapitalflucht, spekulative Währungsattacken und Sozialdumping zu ergreifen. Die kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit mit den Ländern, die dies wünschen, solle auf ein neue Grundlage gestellt werden.

Mélenchon ist also sowenig „antieuropäisch“ wie er gegen das Wetter ist. Er ist nur gegen die gegenwärtige proto-liberale Grundierung der Brüssel-EU. Er will keinen „Frexit“ sondern eine EU-Reform, um im Sinne de Gaulles den Hoheitsrechten der souveränen Mitgliedstaaten wieder die Geltung zu verleihen, die ihnen zukommt.

In allen TV-Debatten konnte Mélenchon bislang die Konkurrenten rhetorisch in den Schatten stellen und in den Meetings und den sozialen Netzen mit Abstand die meisten Sympathisanten mobilisieren. So am Sonntag wieder in Marseille im Alten Hafen vor 70 000 begeisterten Anhängern. „Die Reichen leben über unsere Verhältnisse“, rief er unter zustimmendem Beifall. Recht hat er, und nicht nur für Frankreich.

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