Der Corona-Virus als Mitspieler auf dem Schachbrett der globalen Politik

Rezension Risiken und Chancen der Corona-Pandemie für die Tektonik der internationalen Kräfteverhältnisse - ein neues Buch von Simone Lück-Hildebrandt und Reinhard Hildebrandt

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wie jedes zeitgeschichtliche Ereignis großer Tragweite hat auch die Sars-Cov-2-Pandemie zu einer Vielzahl publizistischer Entäußerungen geführt, die Interessengunst des Buchmarktes nutzend. Oft mit heißer Tastatur geschrieben, bewegen sie sich zumeist im tagespolitischen Orbit und fungieren oft als Verstärker der regierungsoffizieller Narrative. (Katja Gloger, Georg Mascolo, Innenansichten einer Pandemie - Die Corona-Protokolle). „Blinde Passagiere. Die Corona-Krise und ihre Folgen“ von Karl Heinz Roth empfiehlt sich nicht weniger als ein Grundlagenwerk für die kritische Aufarbeitung dieser Krise und gilt als die erste umfassende und verlässliche Gesamtdarstellung des Pandemieverlaufs. Und der amtierende BMG malt große Bedrohungen an die Wand, falls die Politik nicht blindlings der Wissenschaft gehorche. (Karl Lauterbach: „Bevor es zu spät ist. Was uns droht, wenn die Politik nicht mit der Wissenschaft Schritt hält.“).

„Die Wissenschaft“ ähnelt allerdings nach den Erfahrungen des weltbekannten französischen Mikrobiologen Prof. Didier Raoult eher einem Kampfsport um Geld, Rang und Prestige, der sich auch in den horizontalen wie vertikalen Debatten um Sinn oder Unsinn dieser oder jener Regierungsanordnung zur Eindämmung der Pandemie niederschlägt („La science est un sport de combat“). Der frühere französische Gesundheitsminister und Epidemiologe Prof. Philippe Douste-Blazy hingegen sieht in seiner Zwischenbilanz der staatlichen Bewältigung der Pandemiefolgen in seinem Land weniger ein Defizit bei der Wissenschaftskonformität der Politik als eine verantwortungslose Sorglosigkeit und Vergesslichkeit des Staates und seiner gesundheitspolitischen Entscheidungsträger, denn „alles sei vorbereitet gewesen“ („Maladie française. Pandemie: et pourtant tout avait été préparé!“)

Andere wie Marcel Fratzscher („Wirtschaft und Gesellschaft nach der Corona-Krise“) holen schon weiter aus und sehen die Corona-Krise als Kristallisationspunkt größerer gesellschaftlicher und politischer Konflikte wie die zwischen Ethik und Wirtschaft, Staat und Markt, Multilateralismus und Nationalismus, Wissenschaft, Medien und Politik usw. und sehen die Zeit gekommen „für einen neuen Humanismus“.

Eine große Leserschaft haben hierzulande auch die Bücher solch umstrittener, weil nonkonformistischer Autoren wie W. v. Rossum, Jens Berger oder Paul Schreyer gefunden, die mit der Anti-Corona-Politik hart ins Gericht gehen, deren Prämissen in ihrer Absolutheit anzweifeln, z. T. gar militant leugnen und die Wirksamkeit der NPIs in Frage stellen. Sie bedienen zumeist die Bedürfnisse jener Leser, die der Politik ohnehin nicht über den Weg trauen, nicht nur in der Gesundheitspolitik. Aber auch sie nehmen die Corona-Krise als Aufhänger einer profunden Gesellschaftskritik.

Das Autoren-Duo Simone Lück-Hildebrandt und Reinhard Hildebrandt will sich mit seinem soeben bei Kohlhammer erschienen Buch „Die globalen Machtverhältnisse. Einfluß und Folgen einer Pandemie“ (in der Reihe „Politik in Wissenschaft und Forschung“) in diese Grobsortierung nicht so recht einordnen, denn auch sie halten mit Kritik an einzelnen Aspekten und Kollateralschäden der Anti-Corona-Politik nicht hinterm Berg, ohne allerdings aus dem konventionellen narrativen Framing auszubrechen. Fast schon minutiös werden alle Phasen des Pandemieverlaufs hierzulande protokolliert, zumeist gestützt auf die „Official-Mind-Medien“ als Quellen. Der aufmerksame und duldsame Zeitungsleser und „heute“-Zuschauer wird also kaum Neues in den Darlegungen finden, aber nirgends so systematisch und fast schon erschöpfend. Allerdings werden einige bekannte kritische Punkte stärker herausgehoben, als es in der täglichen Presseschau in der Regel geschehen ist wie etwa das Hin und Her um die Impfstoffverteilung, die Profitgier der Pharma-Industrie, die sichtbarer zu Tage getretenen sozialen Ungleichheiten bei den Folgen der Containment-Maßnahmen usw. Akribisch werden auch die Auswirkungen der Pandemie auf die wichtigsten Staaten-Akteure nachgezeichnet wie die USA, China, Rußland und die EU. Bei einem solch ehrgeizigen Unterfangen sind verkürzende und auch verzerrende Ungenauigkeiten nicht zu vermeiden, wie es im Falle Schweden anzumerken ist.

Aber all dies scheint nur das Präludium, um nicht zu sagen der Vorwand, um mit akademischer Ausführlichkeit und didaktischer Anschaulichkeit die jüngere Geschichte der internationalen Beziehungen seit dem Gezeitenwechsel 1989/90 und die seitherigen Tendenzen in der Kräftetektonik nachzuzeichnen. Das Darstellungsinteresse gilt dabei weniger den gesundheitspolitisch-technischen Aspekten des jeweiligen Regierungshandelns als den möglichen oder bereits absehbaren Konsequenzen für das globalpolitische Kräfteverhältnis im Tetragon der Big Global Player USA. China, Russland und EU. In ihrer Tour d‘Horizon beleuchten die Verfasser dabei als relevante Faktoren die weltwirtschaftlichen und militärischen Aspekte ebenso wie die globalen Dimensionen der technologischen und kulturellen Auswirkungen dieser Krise. Im Unterschied zu den bekannten dissidenten Mutmaßungen und an die Wand gemalten dystopischen Szenarien sehen sie hingegen auch Chancen für einen gedeihlichen Wandel der internationalen Beziehungen und der Zustände in der Welt, sofern adäquate Lehren aus dieser säkularen Krise gezogen werden.

Verdienstvollerweise gehen die Autoren ausführlich und mit politologischer Systematik auf die Doktrinen der „Good Governance“ und der „Global-Governance“ als den wichtigsten politischen Instrumenten des US-geführten Okzidents zur Ausweitung seines Imperiums ein. Davon dürften auch die bravsten Konsumenten der Corporate Media (Sanders) kaum je gehört haben. Die ausführliche kritische Analyse dieser Konzepte mündet in das für den Rezensenten ergiebigste Destillat des Buches, den Topos von der Strukturellen Gewalt auch in den internationalen Beziehungen als eines Systems von Herrschaft und Beherrschung. Hier haben die Verfasser Erkenntnisse ihres Buches „Herrschaft und Beherrschung. Hegemoniale Formationen – Strukturelle Gewalt in der Gesellschaft“ (s. „Freitag“ 18. 07. 2020) erkenntnisfördernd recycelt und auf die Verhältnisse in den Staatenbeziehungen übertragen. Dieses Kapitel gehört zu den stärksten des Buches, das allerdings so auch ohne den Aufhänger der Corona-Pandemie hätte geschrieben sein können.

Wenn die Autoren die EU in diesem Kontext nur als „Schilfrohr im Winde“ von Global Governance betrachten, so unverkennbar mit bedauerndem Unterton, sich damit quasi als „Europa-Souveränisten“ bekennend. Sie gesellen sich zu denen, die in der Corona-Krise die Chance einer Neubestimmung der europäischen Identität erblicken wie Luuk van Middelaar, Historiker und Philosoph an der Universität Leiden: „Die Pandemie zwingt uns zu einer postkolonialen Sicht der Volksrepublik China, einer postatlantischen Sicht der Vereinigten Staaten und einer Neubestimmung der eigenen kontinentalen Position und Identität.“ (Die Zeit, 22.04.2021) Für eine solche atlantismuskritische Vision für Europa (De Gaulle läßt grüßen) sammeln die Autoren in dem Buch fleißig Belege und unterstützende Stimmen und werben für eine „suprastaatliche Strategie, die die Möglichkeit einräumt, das unendliche Feld der Diskursivität offenzuhalten und gegenüber den weltweit agierenden hegemonialen Formationen zu verteidigen“. Initiativen wie das im Juni 2020 von der EU aufgelegte Corona-Aufbauprogramm etwa seien dafür genau das Richtige.

„Das unendliche Feld der Diskursivität offenzuhalten und gegenüber den weltweit agierenden hegemonialen Formationen zu verteidigen“ erweist sich letztlich als die begrüßenswerte Kernbotschaft dieses anspruchsvollen Buches, die allerdings Gefahr läuft, im anschwellenden Bocksgesang des Ukraine-Krieges und dessen Folgen für die globalen Kräfteverhältnisse obsolet zu werden. Insofern kann ein Buch von solch heißer Aktualität angesichts der Rasanz des internationalen Geschehens am Ende nicht viel mehr sein als ein Screen Shot.

Simone Lück-Hildebrandt / Reinhard Hildebrandt, Die globalen Machtverhältnisse. Einfluß und Folgen einer Pandemie. Kohlhammer, 2022., 205 S., 45 €. Am 30.6. Um 18.30 Uhr wird das Buch in der Buchhandlung Knesebeck ELF, Knesebeckstraße 11, 10623 Berlin vorgestellt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden