Schizogorsk ist überall

Hommage Walter Vogt, sarkastischer Chronist „helvetischer Depressivität“ und „latenter Schizophrenie“ des Schweizer Patriziats, wäre am heutigen 31. Juli 90 Jahre alt geworden

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Walter Vogt (rechts im Bild) zusammen mit den Schauspielern Heinrich Gretler und Rene Detgen, sowie dem Regisseur Joseph Scheidegger (v.l.n.r.)
Walter Vogt (rechts im Bild) zusammen mit den Schauspielern Heinrich Gretler und Rene Detgen, sowie dem Regisseur Joseph Scheidegger (v.l.n.r.)

Foto: imago/ZUMA/Keystone

Ein beliebter DDR-Witz aus der „Anfrage-an-Sender-Jerewan“-Reihe lautete: „Kann man in der Schweiz den Sozialismus aufbauen? Antwort: Im Prinzip ja, aber es wäre schade um die schöne Schweiz.“

Die schöne Schweiz. Für manche so schön, dass sie schon mal auf die Nerven gehen kann wie Leuten, von denen Legenden behaupten, sie hätten während der Zugfahrt durch das gottbegnadete Land regelmäßig die Abteilvorhänge zugezogen, wohl weil sie die unverschämt schöne Landschaft, die zur Schau gestellte Wohlanständigkeit und die Fassade überbordenden Wohlstands nicht ertragen konnten.

Aber das ging und geht wohl auch machen Schweizern selbst nicht viel anders und hat Eingang gefunden in die leitmotivische Sujetsubstanz der Schweizer Literatur. Zu den bedeutendsten, heute leider zu Unrecht weitgehend vergessenen Schweizer Schriftstellern der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die unter diesem Stichwort zu nennen wären, gehört auch Walter Vogt. 1927 in Zürich geboren, lebte Walter Vogt bis zu seinem Tode 1988 als Facharzt für Psychiatrie in Muri bei Bern. Seine ersten schriftstellerischen Arbeiten waren vorerst vorwiegend im medizinischen Milieu angesiedelt und wurden als Nestbeschmutzung und Stiche ins Wespennest des eidgenössischen Krankenhausbetriebs wahrgenommen. Später hat er die individuelle Konfrontation auf eine zumeist als (menschen)feindlich empfundenen Umwelt und gewisse Aspekte in den gesellschaftlichen Zuständen seiner Schweizer Heimat ausgeweitet und zum Thema seiner Reflexionen und kafkaesk-parabelhaften und mitunter grotesken Prosa gestellt. Er war ein brillanter Erzähler mit satirischem Einschlag, ein Erfinder ebenso amüsanter wie unheimlicher Figuren, ein kritischer und Vielen unbequemer Zeitgenosse, dessen Engagement sich nicht auf das Schreiben beschränkte, sondern der sich in die Kämpfe seiner Zeit aktiv einmischte, so als Mitglied der internationalen Vereinigung „Ärzte gegen den Atomkrieg“, als Mitbegründer und zeitweiliger Präsident der „Gruppe Olten“, eines Zusammenschlusses Schweizer Dissidenten-Schriftsteller, oder als Gründungsmitglied der AIDS-Hilfe Bern.

Wie Peter Bichsel, Walter Mathias Diggelmann, Paul Nizon, Alfred Muschg und Kurt Marti gehört Walter Vogt zu den wichtigsten Schweizer Autoren der Generation nach Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, wobei ihm vielfach eine gewisse literarische Verwandtschaft mit letzterem attestiert worden ist. Er schrieb Romane, Essays, Erzählungen, Gedichte, aber auch dramatische Texte für Theater, Radio und Fernsehen. Darin sind auch seine persönlichen Erfahrungen mit schwerer Depression und Drogenkonsum verarbeitet. (LSD nannte er „die einzigste heitere Erfindung des 20. Jahrhunderts“ und war mit dessen Entdecker Albert Hofmann befreundet.) Als Satiriker und Melancholiker, Psychiater und selbst Patient, Familienvater mit homosexuellen Eskapaden, Naturfreund und scharfsinniger, kritischer Beobachter der Schweizer Gesellschaft, Drogenabhängiger und „verkappter Theologe“ vereinigte er in sich sehr widersprüchliche persönliche Charakterzüge, Leidenschaften und Lebenserfahrungen. Besonders hervorzuheben wäre die Symbiose von Psychiater und Schriftsteller in seiner Person, den seine Patienten weniger als psychiatrische Fälle, sondern eher als Menschen interessierten mit ihrer besonderen Art, die Welt zu erleben, die den sogenannten Normalen eigene Perspektiven und Sensibilitäten eröffnen könnten.

Sein Werk wurde mit mehreren Literaturpreisen bedacht und ihm sogar die Ehre einer 10-bändigen Werkausgabe bei Nagel & Kimche, Zürich, zuteil (besorgt von Doris Halter und Kurt Salchi). Inzwischen ist sein Nachlass im Schweizer Literaturarchiv in Bern auch digital auffindbar.

Ein besonderes Anliegen Walter Vogts, Hauptmann der Reserve des Schweizer Bundesheeres, speiste sich aus seiner herzlichen Abneigung gegen alles Militärische. Ihr hat er in dem satirischen Roman „Schizogorsk“ freien Lauf gelassen, eine Persiflage und Karikatur auf den militärischen Alltag in der Alpenrepublik und sarkastische Beschreibung eines als schizophren diagnostizierten absurden Leerlaufs des Eidgenössischen Militärdepartements (EMD). In der Schilderung eines Militärmanövers („Operation S“) entsteht das Bild einer „Schweiz der eifrigen Patrioten, die sich gegenseitig beargwöhnen und bespitzeln, fixiert auf imaginäre Feinde, ein Land, dessen Hauptsorge es zu sein scheint, dass sich hinter jedem harmlosen Bürger auch ein Verräter, Informant und Kollaborateur verbergen könnte.“ (Ios Carmartin) Wie der in den 90er Jahren aufgeflogene Fichen-Skandal belegt habe, verberge „hinter der ,Eleganz des beschäftigten Nichtstuns‘ ... sich ein Überwachungszwang, der sich von realer Bedrohung vollkommen abgelöst hat. Eine Kaste von Geheimnisträgern ist da entstanden, die realitätsunabhängig ihre Feindbilder pflegt... Ihre Hintergrundoperationen und ihre verdeckten Aktionen (alimentieren) sich bestens aus ihrem Verfolgungswahn.“

Für den Zürcher „Tagesanzeiger“ war „Schizogorsk“ nichts weniger als eine „zupackende, treffsichere Satire auf Zeit, Land und Leute“ und ihrer „Bewusstseinsspaltung zwischen Puritanismus und einem Erwerbs- und Besitzdenken, wie es schon im Alten Testament verflucht wurde“ und „ja zumindest eine gute protestantische Tradition“ sei. „Die Baseler Zeitung“ sah darin den pathologischen Befund einer „geistigen Zerrüttung“ der Schweizer Gesellschaft. „Als latente Schizophrenie“ könne „sie jederzeit ausbrechen und gerade zu Taten verführen, die entweder voraussehbar noch kontrollierbar sind.“ Als Psychiater hatte Walter Vogt jahrelang junge Militärpflichtige auf ihre militärische Tauglichkeit hin untersucht und manche von ihnen damit vor der Hölle des Militärdienstes bewahrt. Diese Gutachten hatte er als „seine beste Prosa“ angesehen, wie seine Witwe Elisabeth Vogt dem Verfasser anvertraute. Konsequent setzte er sich für die Entkriminalisierung der in der Schweiz mit Gefängnis bedrohten Militärdiensverweigerung ein.

Walter Vogt hatte sich in den späten siebziger Jahren immer mehr der autobiografischen Selbstreflexion genähert („Vergessen und Erinnern“, „Altern“), dabei Grenzbereiche seelischen Erlebens erkundend, die üblicherweise eher im Dunkeln bleiben: Drogensucht, Existenz des psychiatrischen Patienten in der Klinik, sexuelle Identität („Maskenzwang“), Sexualität und Tod vor dem Hintergrund von Aids usw. Es sind „fortdauernde Protokolle der Selbstbeobachtung“ (Thomas Böhme). Das Leben Walter Vogts hatte sich letztlich in einem Spannungsfeld zwischen „Schock und Alltag“ bewegt, wie auch der Titel seines postum erschienenen letzten Tagebuchromans lautet, im Kontrast zwischen banaler Alltäglichkeit von Beruf, Haus und Garten, Familie, Katze und Sommertage am Murtensee einerseits und Ängsten, Depressionen, Süchten und Sehnsüchten, dem Bewusstsein einer fragilen und stets gefährdeten Existenz andererseits.

Mit Siegrid Richters Inszenierung seines erfolgreichen Zwei-Personen-Kammerspiels „Spiele der Macht“ (mit Martin Laubisch und Fridolin Richter) in der Bohnsdorfer „Kulturküche“ wurde vor 15 Jahren hier in Berlin der Versuch unternommen, das weithin in Vergessenheit geratene Werk Walter Vogts in Erinnerung zu rufen. Das Stück läßt auf groteske Weise in die grausamen Abgründe eines von Abhängigkeit, Routine und Perspektivarmut geprägten menschlichen Miteinanders blicken. Jeder Ansatz von Entwicklung und Ausbruch aus diesem merkwürdigen Beziehungsgef(l)echt zwischen den beiden Protagonisten scheitert schließlich, und die Blockaden münden in eine Endlosschleife. Ähnlich wie in „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett bewegen sich die beiden Figuren in einem Mikrokosmos scheinbar außerhalb von Raum und Zeit, nur vage durchbrochen von Andeutungen auf alte Zeiten und ein „Draußen“. Ihr Zusammenleben ist geprägt durch kleine Gemeinheiten und große Schikanen des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren. Ein Rollentausch von Machtlust und Servilität scheitert. Die Banalität des Alltäglichen im Zusammenleben zweier Menschen spannt den Bogen von liebenswürdigem Geplänkel über spielerische Brutalität bis zu Kadavergehorsam militärischer Observanz. Letztlich verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Ernst: Das Spiel mit der Macht verwandelt sich unversehens in eine existenzielle Obsession des Mächtigen und offenbart den lustvollen Selbstzweck der Macht und deren psychische Tiefenstrukturen. Anders als in „Zimmerschlacht“ von Martin Walser handelt es sich bei Walter Vogt nicht um einen Geschlechterkampf, denn beide Protagonisten sind Männer. Jenseits der homoerotischen Aura dieser Konfliktkonstellation fällt daher der Verweis auf die Machtspiele in der Gesellschaft und der großen Welt deutlicher aus und erinnert eher an „Geschlossene Gesellschaft“ von Jean-Paul Sartre. „Spiele der Macht“ war unter Regie von Josef Scheidegger 1970 im DRS und später in der ARD gezeigt worden. Die Bühnenversion hatte 1971 in Bern ihre Uraufführung erlebt.

Die wichtigsten Werke Walter Vogts wurden auch als Lizenzausgaben bei „Volk und Welt“ verlegt und fanden in der DDR eine große Leserschaft, so der satirische Roman „Der Wiesbadener Kongreß“ (1977), sein Roman über eine Drogenentziehungskur „Vergessen und Erinnern“ (1982), eine Auswahl von Erzählungen (1983) und sein autobiografischer Tagebuch- Roman „Altern“ (1985). Walter Vogt galt in der Spät-DDR als der wohl bekannteste Schweizer Schriftsteller, während man in bundesdeutschen Buchhandlungen lange nach seinen Büchern suchen mußte. Lesungen mit Walter Vogt wurden in der DDR mitunter wie Happenings erlebt. Dabei war die Vogt-Rezeption und das verlegerische Bemühen um sein Werk in der DDR, um das sich vor allem Dietrich Simon und Ingeborg Quaas verdient gemacht haben, nicht ohne Brisanz und Widersprüchlichkeit. Einerseits war Walter Vogt als scharfsinniger Kritiker einer als unbehaglich befundenen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und aktiver Streiter in der internationalen Gesellschaft der „Ärzte gegen den Atomkrieg“ willkommen, andererseits hatte er seine Leser mit seinen Texten und seine Zuhörer auf seinen Lesereisen durch die DDR (vor stets Hunderten von Zuhörern) mit Themen, Erfahrungen und Botschaften konfrontiert, die dem Spätsozialismus nun wahrlich nicht am Herzen liegen konnten: Naturzerstörung und Fetischisierung des Technischen, Aids, Drogen, Homosexualität, Kritik der Konvention über das „Normale“ und „Gesunde“ in der modernen Gesellschaft usw. So gesehen, erwies sich Walter Vogt mit seinem literarischen Schaffen nicht nur in seiner Welt als „Störenfried“.

Am heutigen 31. Juli hätte Walter Vogt seinen 90. Geburtstag gefeiert, ausgerechnet am Vorabend des Schweizer Nationalfeiertages...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden