Sie war Zwangsarbeiterin bei Salamander

Hommage Als Teenager mußte die „Halbjüdin“ Vera Friedländer für Salamander Schuhe von ermordeten KZ-Häftlingen zum Recyceln sortieren. Am 27. Februar wird sie 90 Jahre alt

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Vera Friedländer
Vera Friedländer

Foto: Detlev Konnerth/Imago

„Von all den Zeugen, die geladen,

vergess ich auch die Zeugen nicht.

Als sie in Reihn den Saal betraten,

erhob sich schweigend das Gericht.

Wir blickten auf die Kleinen nieder,

ein Zug zog paarweis durch den Saal.

Es war, als tönten Kinderlieder,

ganz leise, fern, wie ein Choral.

Es war ein langer bunter Reigen,

der durch den ganzen Saal sich schlang.

Und immer tiefer ward das Schweigen

bei diesem Gang und Kindersang.

Voran die Kleinsten von den Kleinen,

sie lernten jetzt erst richtig gehn

- auch Schuhchen können lachen, weinen -,

ward je ein solcher Zug gesehn?...

Ihr heimatlosen, kinderlosen,

wer schickte euch? Wer zog euch aus?

Wo sind die Füßchen all, die bloßen?

Ließt ihr sie ohne Schuh zu Haus?...“

Diese Zeilen des Gedichtes „Die Kinderschuhe von Lublin“ von Johannes R. Becher kommen einem unwillkürlich in den Sinn angesichts der Lebensgeschichte von Vera Friedländer. Es ist eine Hommage an die Tausenden von jüdischen Kindern, die im KZ von Majdanek, einem Vorort von Lublin, vergast wurden. Es war das erste Vernichtungslager der Hakenkreuzler im besetzten Polen. Becher schrieb das berühmt gewordene Gedicht, das in der DDR jedes Schulkind kannte, unter dem Eindruck eines Berichts von Konstantin Simonow über den Fund von abertausenden Kinderschuhen in diesem KZ, einem der grauenvollsten Vernichtungslager.

Damit nur ja nichts verloren ging, achtete die SS-Verwaltung penibel auf eine wirtschaftliche Verwertung der Habseligkeiten ihrer Opfer, darunter die Schuhe. Nicht nur in Lublin-Majdanek, auch in anderen KZs stießen die Befreier 1945 auf enorme „Schuhberge“, so u. a. in Auschwitz, Ravensbrück, Neugamme, Bergen-Belsen, Flossenbürg und Sachsenhausen. Unter der Anleitung der örtlichen Handwerkskammern wurden von der SS-“Gemeinschaft Schuhe“ jeweils eigens mehrere Hundert Häftlinge umfassende „Trennkommandos“ zur Zerlegung der Altschuhe abgestellt. Es ging darum, „Beutegut und Altschuhwerk“ der Ermordeten zu verarbeiten, um die Neulederbestände zu schonen: Menschen als Ressourcenlieferanten für die Kriegswirtschaft.

Von der „Schuhverwertungs-Aktion“ der SS profitierten insbesondere Privatunternehmen der Branche, die pro Paar recycelter Schuhe 2 RM auf SS-Sonderkonten bei der Deutschen Bank überwiesen. Zu diesen Unternehmen gehörte auch der renommierte Schuhkonzern „Salamander“. Ausgerechnet dieses Traditionsunternehmen jüdischer Provenienz, unter den Hakenkreuzlern durch Verdrängen der jüdischen Anteilseigner quasi „selbstarisiert“, ließ seine Produkte von KZ-Häftlingen im Konzentrationslager Sachsenhausen durch sog. Schuhläufer-Kommandos in einer 700 Meter langen Teststrecke mit unterschiedlichem Straßenbelag testen. Dabei mußten die unterernährten Häftlinge mit schwerem Gepäck täglich bis zu 40 Kilometer zurücklegen. Die SS kassierte für dieses Rent-a-Prisoner-Geschäft von Salamander einen Tagessatz von 6 RM als „Leihgebühr“. Täglich kamen dabei bis zu 20 Häftlinge in diesen Strafkommandos ums Leben.

An der „Schuhverwertungs-Aktion“ der SS war die Salamander A.-G. u. a. mit ihrem Reparatur-Betrieb Berlin SO 36 beteiligt. Dorthin wurde auch Vera Friedländer als 16-jährige Teenagerin zwangsverpflichtet. Als „Halbjüdin“, eine bizarre, 1936 von Globkes Nürnberger Gesetzen erfundene Menschenkategorie, war ihr jegliche ordentliche Berufsausbildung verwehrt. In einem grauen Fabrikgebäude in der Köpenicker Str. 6a–7 in Kreuzberg mußte sie nun zusammen mit anderen deutschen „Halbjüdinnen“ und Zwangsarbeitern aus Polen, Jugoslawien und Frankreich lastwagenweise angekarrte Altschuhe zur Reparatur sortieren, unter der Aufsicht Peitschen schwingender SS-Aufseherinnen.

„Wem gehörten diese Schuhe bei Salamander eigentlich? Es musste in Berlin viele ziemlich naive Menschen geben, die ihre Schuhe – zu der Zeit eine unersetzbare Habe – einer Reparaturannahmestelle übergaben und damit rechneten, sie repariert zurückzuerhalten. Und wo waren die Annahmestellen von Salamander? Die Leute, die ihre Halbschuhe zur Reparatur gaben, schienen auch keine besonderen Wünsche gehabt zu haben. Und die Leute, die sie bedienten, gingen recht sorglos mit den abgegebenen Schuhen um. Sie markierten keinen Schuh, keiner war mit einer Nummer, mit einem Schildchen oder Stempel versehen, wo doch die Schuhe durch die ganze Stadt gefahren und wieder zurückgebracht werden mussten, denn die Besitzer würden sie doch wiederhaben wollen. Wo gab es diese Kunden? Woher kamen die Schuhe, und wohin gingen sie? So fragte sich Vera Friedländer wohl jeden Tag. Wer bis drei zählen konnte, mochte ahnen, welch dubioser Herkunft diese Schuhe waren, auch das junge Mädchen, ohne allerdings eine Vorstellung von den Dimensionen dieser Apokalypse haben zu können.

Die meisten Angehörigen von Vera Friedländer starben in Auschwitz oder Theresienstadt. Im März 1943 war zunächst auch ihre Mutter als jüdische Ehefrau eines „deutschen Christen“ im Rahmen der „Fabrikaktion“-Razzia verhaftet und in der Gestapo-Leitstelle in der Großen Hamburger Straße festgehalten worden, um auf einer Liste später zu deportierenden Juden aus Mischehen vermerkt zu werden. Wie durch ein Wunder überlebte sie unbehelligt, wohl durch stille Mithilfe einer Beamtin im Arbeitsamt. Auch ihr Vater konnte aus einem Zwangsarbeitslager flüchten und sich bis zur Befreiung verstecken. Sie selbst entkam dem Bombenhagel der letzten Kriegswochen.

Nach einem Studium der Germanistik hatte Vera Friedländer von 1982 bis 1986 eine Professur für Deutsche Sprache an der Berliner Humboldt-Universität inne. Nach ihrer Emeritierung widmete sich die Grimm-Preisträgerin der historischen und literarischen Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels ihrer Lebensgeschichte. 1990 gehörte sie überdies zu den Initiatoren des Berliner Jüdischen Kulturvereins, gründete die später renommierte „Friedländer-Sprachschule“ für jüdische Immigranten aus Osteuropa und widmete sich in der Berliner Geschichtswerkstatt der Zwangsarbeit-Forschung und dem Projekt Stolpersteine.

Ihre Erinnerungen und eigenen Forschungen haben in mehreren autobiografischen und fiktionalen Texten ihren Niederschlag gefunden, von den bereits 1982 erschienen »Späten Notizen« bis zu ihrem Buch Ich war Zwangsarbeiterin bei Salamander“ (2016). Ein Fazit ihrer Geschichte ist unerschütterlich: „Mag sich in unserer Zeit, Jahrzehnte danach, Salamander-Schuhe kaufen, wer will. Ich jedenfalls, das ist sicher, werde keine Schuhe mit diesem Namen tragen. Ich muss, wenn ich diesen Namen höre, an die Schuhe ohne Besitzer denken. Es stimmt nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt.

Unter den Schuhen, die Vera Friedländer für die Salamander-AG zum Recycling sortieren mußte, hätten auch die Kinderschuhe eines kleinen in Lublin vergasten jüdischen Mädchen sein können:

„Und es war eine deutsche Tante,

die uns im Lager von Lublin

empfing und "Engelspüppchen" nannte,

um uns die Schuhchen auszuziehn,

und als wir fingen an zu weinen,

da sprach die Tante: "Sollt mal sehn,

gleich wird die Sonne prächtig scheinen,

und drum dürft ihr jetzt barfuss gehn...

Was, weint ihr noch? `s ist eine Schande!

Was tut euch denn, ihr Püppchen, weh?

Ich bin die deutsche Märchentante!

Die gute deutsche Puppenfee.

`s ist Zeit, ihr Püppchen, angetreten!

Was fällt euch ein denn, hinzuknien.

Auf, lasst uns singen und nicht beten!

Es scheint die Sonne in Lublin!

Es sang ein Lied die deutsche Tante.

Strafft sich den Rock und geht voraus,

und dort, wo heiß die Sonne brannte,

zählt sie uns nochmals vor dem Haus.

Zu hundert, nackt in einer Zelle,

ein letzter Kinderschrei erstickt...

Dann wurden von der Sammelstelle

die Schuhchen in das Reich geschickt.

Es schien sich das Geschäft zu lohnen,

das Todeslager von Lublin.

Gefangenenzüge, Prozessionen.

Und - eine deutsche Sonne schien...“

Am 27. Februar begeht Vera Friedländer ihren 90. Geburtstag. Dazu die herzlichsten Glückwünsche.

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„Ich war Zwangsarbeiterin bei Salamander“ - eine Begegnung mit Vera Friedländer, Dienstag 20. März 19 Uhr, Kulturbund Treptow, Ernststr. 14/16, 12437 Berlin, Tel. 536 96 534

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