Alle sind Charlie. Angesichts der gigantischen politischen Ökumene der Solidarität mit den Opfern des blutigen Amoklaufs vom 7. Januar reiben sich allerdings einige der überlebenden Journalisten und Zeichner von „Charlie-Hebdo“ verwundert die Augen. Am Freitag hörte Chefredakteur Gérard Biard förmlich die Glocken von Notre-Dame für Charlie läuten. Ausgerechnet für „Charlie“, das antiklerikale Blatt par excellence. Mehrere der überlebenden Redaktionsmitglieder registrieren nicht ohne Bitterkeit die Zeichen der Solidarität mit einem Blatt, dem noch wenige Tage zuvor wenig Unterstützung zuteil wurde, so die Redakteurin Zineb Rhazoui gegenüber „Le Monde“: „Ich wäre froh gewesen, die Toten hätten zu ihren Lebzeiten eine solche Unterstützung erfahren. ,Charlie Hebdo‘ wurde von allen nur immer niedergeschrieen. Drohungen gab es andauernd, und man warf uns sogar vor, sie bewußt zu suchen.“ Andere wie Laurent Léger haben angekündigt, dem Gedenkmarsch am Sonntag ostentativ fernzubleiben: „,Charlie Hebdo‘ stand immer abseits. Jetzt wird „Charlie Hebdo“ Mainstream. Das Blatt wird für eine oder zwei Wochen institutionalisiert. Ich bin sicher: In einigen Wochen wird eine neue Nachrichtensau durchs Dorf gejagt, und wir werden wieder unter uns sein.“ Der Zeichner LUZ, der das Attentat verletzt überlebte, ließ auf dem Portal „Les Inrocks“ verlauten: „ Die geballte symbolische Ladung, die gerade losgeht, verkörpert all das, wogegen „Charlie“ immer aufgetreten ist.“ Es sei wunderbar, von diesen Leuten unterstützt zu werden, aber das bewege sich alles genau in die Gegenrichtung dessen, wofür die Zeichnungen von „Charlie“ stünden. „Diese Einstimmigkeit ist nützlich für Hollande, um die Nation zu einigen. Sie ist nützlich für Le Pen, um die Todesstrafe zu fordern. Man spricht vom Andenken an Charb, Tignous, Cabus, Honoré, Wolinski: Sie hätten drauf geschissen.“ Die schärfsten Worte fand gestern der niederländische Zeichner Willem (Bernard Holtrop) in „Le Point“ nach der Unterstützung durch den Führer der niederländischen Rechtsextremen Geert Wilders: „Wir kotzen auf all diese Leute, denen plötzlich einfällt, sie seien unsere Freunde.“
Dies scheinen auch auch einige Leser von „Le Monde“ ähnlich zu sehen. So heißt es in einer Zuschrift: „Ich verstehe die Leute von Charlie Hebdo. Die Gebete der Imame der Pariser Moscheen am Ort der Schießereien, das Glockenläuten von Notre Dame haben schon was Ubuesques und Surrealistisches. Charb, Cabu, Wolinski und die anderen müssen sich im Grabe rumdrehen. Das System, das sie haßten und das sie haßte, hat sie in einer großen pseudo-laizistischen Messe vereinnahmt und sich wie einen Fremdkörper einverleibt. Dem System ist das alles scheißegal. Es hofft auf den Effekt bei den nächsten Wahlen.“
Demgegenüber haben andere Leser von „Le Monde“ klargemacht, welchen „Charlie“ sie meinen, mit dem sie sich identifizieren und welche Rolle das Blatt in ihrem Leben gespielt hat: „Ich bin 64 Jahre alt. In den 70er Jahren war ,Charlie Hebdo‘ für mich die freie und unverzichtbare Ergänzung für das Denken, das mir in der Schule beigebracht wurde, ein benutzerfreundlicher Werkzeugkasten, wo sich das Verrückte (Choron), die anarchistische (Reiser) und politisch-poetische Provokation (Gébé) mit dem langsichtigen Urteil (Fournier) trafen. Eine Art Versicherung gegen den Schwachsinn mit Lachgarantie. Ich habe sie jede Woche erwartet. Merde à la mort.“ Ein anderer schreibt: „Die Respektlosigkeit von ,Charlie‘ war Ausdruck eines tiefen Respekts vor den humanen und humanistischen Werten, wie sie durch das Jahrhundert der Aufklärung vermittelt wurden. ,Charlie Hebdo‘ mit seinen Vorläufern ,Hara Kiri‘ und ,Kiri hebdo‘ hat mich über 45 Jahre begleitet. Ich hoffe, wenn die Toten vom 7. Januar im Himmel auf Gébé, den Professor Choron, Cavanna, Topor und Reiser treffen, werden sie weitermachen und den Saustall im Paradies ausmisten, so es denn existiert. Durch ihren Nihilismus schimmerte eine tiefe Lust zu leben.“
Wer oder was immer damit gemeint sein möge, wenn heute von Gauck bis Göring-Eckhart, von Lucke bis Lengsfeld, von Merkel bis Broder und allen anderen abendländischen Patrioten der usurpierte Ruf ertönt: „Je suis Charlie“, der Geist und die Philosophie von „Charlie Hebdo“ können es nicht sein.
"Le Monde" 11. 01. 2015
Kommentare 7
https://www.nsa.gov/about/_images/pg_low_res/rogers.jpg
"Ich bin Charlie."
Ja, es ist schon richtig, dass auch einfach einmal innegehalten werden soll und auch Netanjahu mit Abbas in einer Reihe 'trauer-marschiert'.
Andererseits hat Raphaela23 schon auch recht. Am Ende ist viel weniger dran, als wonach es aussieht. Nach der großen emotionalen Überwältigung wird nicht viel von der beschworenen Einigung bleiben. Da ist der heftige Alltag mit aller sozialen Spaltung wieder da. Und der oben vom Autor zitierte Laurent Léger wird auch Recht behalten: „(...) Ich bin sicher: In einigen Wochen wird eine neue Nachrichtensau durchs Dorf gejagt, und wir werden wieder unter uns sein.“ Es wird nicht einmal Wochen dauern. Es gäbe so viel Notwendigkeit, dass die Welt, oder wahlweise zunächst nur Frankreich, Deutschland, Ukraine, Pakistan, USA ..., ruft "Ich bin ...". Es ist auf der emotionalen Basis nur zu verständlich, dass nun solche Solidaritätsbekundungen kommen. Das Schlimme jedoch ist, dass es erst zig erschossener Menschen dafür bedarf. Und, auf einer anderen Ebene, dass diese im Westen erschossen worden sein müssen.
seriousguy4712.01.2015 | 14:47
„Du bist nicht Charlie“
Charlie Hebdo Noch ist die Trauerarbeit in Paris nicht abgeschlossen, da wird bereits darüber gezerrft, wer betroffen sein darf und wer nicht. Political „Correctness“ läuft Amok.
Ein Nutzerbeitrag von seriousguy47
Selten wurde so deutlich, dass man nach einer Tragödie wie der, die letzte Woche in Frankreich passierte, inne halten und zur Besinnung kommen sollte. Kaum nämlich war die erste Meldung in der Welt, begannen auch schon die Etikettenkleber & Verschwörungsklempner heiß zu laufen. Mittlerweile sind wir so weit, dass darüber gerechtet wird, wer Trauer & Betroffenheit zeigen darf und wer nicht. Und die Toten werden in eine Drei-Klassen-Gesellschaft eingeteilt, die der Klasseneinteilung der kapitalistischen Gesellschaft nicht ganz unähnlich ist.
Dass das erste Opfer eine völlig unbeteiligte Reinigungskraft war, wen juckt's. Dass die mittleren Opfer ein Polizist und eine Kollegin waren und ein überfahrener Fußgänger, nicht so wichtig. Dass die vorletzten Opfer Kunden eines jüdischen Supermarktes waren, was soll's. Und die letzten Toten waren ohnehin die Täter. Da muss man allerdings schon sehr christlich gestimmt sein, um die nicht auszugrenzen – was sie ohnehin immer gewesen zu sein schienen. Ich will sie hier jedenfalls nicht zu den anderen Toten addieren.
Im Blickpunkt der bloggenden Öffentlichkeit und darüber hinaus sind aber offenbar nur die Opfer, die in den Redaktionsräumen ermordet wurden. Dass dazu wiederum ein zum Personenschutz eingesetzter Polizist war – für's Protokoll festgehalten und ad Acta gelegt. Die Medienschaffenden fokussieren sich verständlicherweise emotional auf Ihresgleichen. Man fühlt sich mit getroffen. Und die weitere Öffentlichkeit fühlt ähnlich. Schließlich galt der Anschlag - über die betroffenen Menschen hinaus - etwas, das eigentlich sakrosankt ist, eine Aura der Unbeschwertheit hat: dem Lachen. Und das trifft in eine sehr weiche Stelle.
Und so war es denn auch irgendwie konsequent, dass Medien & Medienkonsumenten sich darauf einigten, dass es bei diesem Morden im Kern um Satire gehe und mithin um Meinungsfreiheit und deren professionelle Nutzer. Die griffige Formel dazu: „Je suis Charlie“. Und mit der Formel wird – unbeabsichtigt – alles andere zum „Kolateralschaden“. Von da ist es dann nicht mehr weit zu der letzten, diskriminierenden Blickverengung, die Trauer & Betroffenheit allen absprechen/ verbieten möchte, die nicht zu „Charlie“ passen mögen.
Es geht aber zuerst um Menschen. Menschen, die mitten aus dem Leben geschossen wurden. Menschen, die gezielt ausgesucht wurden und solche, die, zynisch gesprochen, einfach „zur falschen Zeit am falschen Ort“ waren. Und um deren Angehörige und Freunde, die mit einem Verlust zurückbleiben, dessen Sinn sich schwer bzw. gar nicht erschließt. Dass nun ausgerechnet diejenigen, für deren Tod man keinerlei „Sinn“ konstruieren kann auch noch öffentlich aus dem Blickfeld geraten sollen, dürfte die Trauerarbeit nicht unbedingt leichter machen.
Gerade für sie aber dürfte die öffentliche Solidaritätsbezeugung am Sonntag von Bedeutung gewesen sein. Gerade auch der Massenauflauf von Politprominenz. Und der nun wiederum pauschal blankes Kalkül unterstellen zu wollen, das ist schon ziemlich menschenverachtend. Aber selbst wenn ein Hollande nur seine Popularität im Kopf hätte, als Staatspräsident hat er die Pflicht, in so einer Situation für die Betroffenen und die Bürger insgesamt mit der ganzen Aura des Amtes da zu sein, Solidarität zu zeigen, Trost zu spenden. Und wenn sich ihm andere Führungspersönlichkeiten anschließen, umso tröstlicher für die, die Trost, Solidarität, Rückversicherung brauchen und wünschen.
Da mit dem Mordanschlag auch die elementarsten Regeln menschlichen Zusammenlebens in den westlichen Demokratien brutal verletzt wurden (Recht auf Leben & körperliche Unversehrtheit, Menschenwürde, darunter auch Schutz vor Selbstjustiz), und da dies im Kontext eines erklärten Krieges gegen die westlichen Werte insgesamt geschah, ist die Staatengemeinschaft insgesamt gefragt, sich zu bekennen. Der Aufmarsch der Politikprominenz war also nicht nur legitim, sondern von den Bürgern mehrheitlich wohl auch so erwartet. Als absolutes Minimum wenigstens.
Charlie Hebdo mag das konkrete Ziel horizontal beschränkter Terroristen gewesen sein, die sich dabei in einem Kulturkrieg gegen das westliche Gesellschaftsmodell wähnten. Getroffen aber wurden ganz konkrete, reale Menschen, Mitbürger und das gesamte Gesellschaftsmodell, in dem wir leben. Nicht nur die Meinungsfreiheit.
Eine Auflage von 60 000 soll Charlie Hebdo gehabt haben, in Frankreich sollen am Sonntag aber über drei Millionen Menschen auf der Straße gewesen sein. Die Annahme, dass dies nicht alles Leser von Charlie Hebdo gewesen sein mögen, ist also nicht völlig unbegründet. Und dass es diesen Menschen um mehr als Charlie Hebdo gegangen sein könnte, ist zumindest nicht ganz abwegig. Abwegig aber ist der Versuch, dies nun pharisäerhaft & gehässig auseinander dividieren zu wollen, spekulativ nach zulässigen und unzulässigen Motiven zu suchen. Hätte man die drei Millionen einem Gehirnscan unterziehen sollen, bevor man sie zur Demonstration zuließ? NSA & GCHQ nebst Assoziierten wären sicher mit Begeisterung dabei gewesen.
Der Ärger über politischen Missbrauch und unerwünschte Vereinnahmung ist angesichts dessen, was passiert ist, mehr als verständlich. Aber er sollte nicht dazu führen, dass man das Eigentliche aus den Augen verliert. Also kommt runter und hört auf mit der kleinkarierten, „politisch korrekten“ Erbsenzählerei und kommt zur Besinnung. Wenigstens zu diesem Anlass, wo die Erschütterung vielleicht endlich ein mal groß genug ist, um die Chance zu einem neuen Denken & Handeln zu haben.
"Aber ich sehe es demonstrativ anders."
Nein, Du willst es anders sehen. Denn das drückt das Wort "demonstrativ" aus. -- Und das ist auch gut so! :-)
Und ja, immer nur realistischer Pessimismus ist auch nicht gesund. Man sollte vielleicht doch immer noch das Gute hoffen, auch wenn die tagtägliche Beobachtung stark dagegenstrebt. Vielleicht kommt es im Gefolge von "Je suis Charlie" sogar auch einmal, oder schon morgen, zu einem Massenaufschrei für die Terroropfer in Pakistan und Nigeria, für die Opfer des Drohnenkrieges unter dem Deckmantel eines 'Antiterrorkampfes', gegen die immer krasser werdenden sozialen Zustände in der Welt ...
"Naja. Die Realität wird mich mit einiger Wahrscheinlichkeit alsbald Lügen strafen und dann dürft ihr gerne alle mit dem Finger auf mich zeigen. Da muss ich dann durch :o("
Naja, das wirst Du schon verkraften. :-)
Der Kollege Hadie hat nebenan unter einem Blog gepostet:
http://666kb.com/i/cv2pq6u3g6btj2kmi.jpg
Ohne weitere Worte.
Sarkozy schob sich gestern in Paris, entgegen dem Protokoll, in die erste Reihe.
Wo Sarko noch gerne ganz vorne dabei gewesen wäre:
https://twitter.com/hashtag/jesuisnico?src=hash&mode=photos
Also, Protokollfragen diskutieren die besten Medien der Länder rauf und runter.
Das finde ich bemerkenswert dumpf, weil sie natürlich die Bilder entweder selbst produzierten, über die sie dann streiten oder von ein paar wenigen Agenturen einkaufen.
Die Fotografen machen zwar auch andere Bilder und mittlerweile fotografiert fast jeder mit dem Smart-Phone. Eingekauft werden aber die reichlich inszenierten Bilder, weil die spiegellesende Zahnarztgattin, sie schnorrt regelmäßig die Zeitungsmappe, und der Fernbedienungsjunkie eben Merkel an der Schulter Hollandes süß findet und sonst sowieso niemanden außer Sarkozy und Carla Bruni kennt.
Nebenbei der Typus sitzt dann eben auch am Gatekeeper- Portal für die Bildbuketts der Presse. Trotz der Super-Ausbildung und des formal vorhandenen Spitzenzertifikate, sind wir mit Herz und Hand beim Boulevard.
Aber die Franzosen und Pariser sind freiwillig zu ihren Märschen gekommen und hatten Plätze und Straßen besetzt, bevor die Prominenz einschwebte und die Bilder für die News gemacht wurden.
Das war alles echt und ehrlich und real, völlig ohne einen anderen Hintersinn als den, sich selbst als Bürger zu vergewissern und zu spüren.
Mein Mensch: Am Sonntag haben mehr Menschen als je zuvor so geredet und gehandelt, wie es die besten Intellektuellen und Weisheitslehrerinnen der ganzen Weltgeschichte es nicht besser hinbekommen.
Einfache und normale Menschen reden plötzlich wie Sokrates und handeln, als ob sie Kant und Camus schon im Kindergarten gelesen hätten. Ein einfacher Markt-Angestellter spukte keine großen Töne und rettet mehrere Leben. Usw.
Diese Bilder und Geschichten zählen.
Außer Protokoll-Material, geht offensichtlich nur noch das gemeine Katzenbild besser über die öffentliche Theke.
Die Presse und die Politik sind je auch ein knallhartes, professionell betriebenes Geschäft. Aber die vier Millionen Franzosen waren ersichtlich nicht aus Geschäftsgründen unterwegs und schleiften dabei sogar ihre Plagen im Gedränge mit. Dabei trugen sie zudem ein kleines Risiko und sei es nur aus Unbedarftheit. Denn ein Anschlag, Panik auf ein Gerücht hin, hätte leicht Schaden anrichten können, wenn so viele Bürger zusammenstehen.
Auch die Politiker trugen ein Risiko. Was geschah bei der großen Friedensdemonstration in Israel mit Rabin? Was war mit Jaurès 1914? Was passierte Lincoln in der Öffentlichkeit? Usw. - So wurden sie halt abgeschirmt und ihr Aufenthalt begrenzt.
Was beschäftigt unsere Medien? Die machen nun den ganzen Tag und die kommende Woche Bildauswertung, wer in welcher Reihe stand, wer nicht anwesend war, wer eine und wer keine Einladung hatte. Das ist peinlich, peinlich, peinlich.
Besser wäre, zum Zwecke der Volksbildung, eben eine vollständige Erklärung, wer auf den Bildern überhaupt zu sehen ist und als Form der Kritik, -das gibt es zum Glück schon-, was die Staatsgäste in ihrem politischen Dasein schon so alles gegen die Presse- und Meinungsfreiheit unternommen haben.
Gute Nacht
Christoph Leusch