Wir sind Charlie-Hebdo

Krokodilstränen Was darf Satire? Alles, sagte schon Kurt Tucholsky. Für dieses Credo mußte nun das französische Satire-Magazin „Charlie-Hebdo“ einen hohen Blutzoll entrichten

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Sind wir wirklich Charlie?
Sind wir wirklich Charlie?

Bild: imago/Kinhua

Nach dem Massaker in der Rue Nicolas Appert in Paris hat sich eine nie dagewesene Solidaritätsfront gebildet: Die neue Union sacrée reicht vom wieder auferstandenen Sarkozy bis Hollande, von Mélenchon bis Le Pen, von Chévènement bis zu allen großen Religionsgemeinschaften: Alle „sind Charlie Hebdo“. Alle sehen in dem Mordanschlag einen Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit, ein Essential der abendländisch-okzidentalen Demokratie. Der Verfassungsrechtler Robert Badinter feiert die Opfer als „Soldaten der Freiheit“ - ein Tsunami von Krokodilstränen, denn „De mortuis nil nisi bene dicendum“. Es bedurfte erst dieser Bluttat, um dieses „abseitige, respektlose, komische und vulgäre“ Skandalblatt („Le Monde“) mit derartigen Elogen zu überhäufen.

Was ist das eigentlich für ein Blatt, das sich so plötzlich im Spotlight der Weltpresse wiederfindet, und wes Geistes Kind sind seine Macher? Ein französischer Freund und bekennender Charlie-Hebdo-Fan beschrieb heute die Redaktions-Equipe mit den Worten: „Die Journalisten von „Charlie Hebdo" sind allesamt Anarchisten und Libertäre. Sie hassen die Religionen, Mohammed, den Papst und Christus, die Pfaffen, die Rabbiner, die Imame. Diese Journalisten hassen die Rechten, Sarko, die Institutionen des Staates und machen sich unentwegt über Hollande und seine Bande lustig. Und nun wollen sie alle vor ihren Karren spannen. Es ist eine Schande!“ In den Augen des braven französischen Besitzbürgers aus dem Pariser XVI. Arrondissement oder dem Schicky-Micky-Vorort Neuilly-sur-Seine ist "Charlie-Hebdo" eine wöchentlich wiederkehrende systemfeindliche, subversive, links-freche Provokation.

So nimmt es nicht wunder, daß es bisher mit der pressefreiheitlichen Wertschätzung dieses scharfzüngigen, witzigen und intelligenten Wochenblatt im französischen Establishment nicht weit her war. Seine nun fast 45jährige Geschichte ist zugleich eine Geschichte von Verboten, Verleumdungsprozessen und ständigen administrativen Schikanen. Sein Vorgänger hieß noch „“l’Hebdo Hara-Kiri” und wurde am 15. November 1970 vom Pariser Innenministerium verboten. Vorwand war eine krude politische Blasphemie: Zwei Wochen zuvor waren bei einem Brand in einer Diskothek in Saint-Laurent-du-Pont in der Nähe von Grenoble 146 Jugendliche bei lebendigem Leibe elendig verbrannt, weil der Besitzer aus Geldgier die Notausgänge verrammelt hatte. „Bal tragique à Saint-Laurent-du-Pont: 146 morts“ lautete die Schlagzeile in einer Pariser Boulevard-Zeitung. Eine Woche später starb General de Gaulle auf seinem Anwesen in dem lothringischen Dorf Colombey-les-Deux-Eglises. Daraufhin titelte “l’Hebdo Hara-Kiri” am 16. November 1970: “Bal tragique à Colombey : 1 mort”. Beim Tod des Generals und Begründers der V. Republik hörte für den Innenminister der Spaß auf: Darüber reißt man keine blasphemischen Witze. Kurzerhand wurde das Blatt verboten, wie schon viele Male zuvor einzelne Ausgaben, wenn sich die Staatsmacht beleidigt fühlte.

Doch diesmal war sie über das Ziel hinausgeschossen. In der öffentlichen Meinung erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Der Geist der Mai-Unruhen 1968 war doch nicht spurlos in der französischen Gesellschaft vorübergegangen. Sogar der stockkonservative „Figaro“ des Rüstungsindustriellen Dassault stimmte in den Chor der Empörung ein, nachdem er in den Jahren zuvor bei den zahllosen Verboten einzelner Nummern nicht mit der Wimper gezuckt hatte. Erstmals erfreuten sich die respektlosen, scharfzüngigen Anarcho-Marxisten des Blattes einer lagerübergreifenden Solidarität und gewannen, allerdings mit einem presserechtlichen Trick, vorerst die Partie gegen das gaullistische Establishment für sich.

Das Blatt „ l’Hebdo Hara-Kiri” konnte man verbieten, aber ihre Macher nicht daran hindern, am Kiosk dem Innenminister Raymond Marcellin in großen Lettern ein nicht zu übersehendes „Merde“ entgegenzuschleudern. Zu diesem Zweck gründeten sie kurzerhand ein neues Blatt und nannten es „Charlie-Hebdo“. Sein erstes Titelblatt: „In Frankreich gibt es keine Zensur!“

Bald erklomm das Satire-Blatt in neuem Gewand die für dieses Genre ungewöhnliche Auflagenhöhe von 120 000, das Fünffache des Vorgängertitels. Seine wöchentlichen Titelseiten mit ihren originellen assoziativen Karikaturen werden jedesmal mit Spannung erwartet, die Editorials setzen meist einen in der französischen Presselandschaft unerwarteten Akzent. Heute ist fast vergessen, daß die politische Ökologie-Bewegung in den Spalten von "Charlie-Hebdo" geboren wurde, noch ehe das Wort in den Wörterbüchern auftauchte. 15 000 Menschen folgten im Juli 1971 dem Aufruf der Redaktion und versammelten sich in Bugey (Dep. Ain), um gegen das dort geplante Atomkraftwerk zu protestieren: die Keimzelle der europäischen Anti-Atomkraftbewegung. Mit seinen Themen Ökologie, Pazifismus, Antirassismus und Feminismus war Charlie Hebdo in den 70er Jahren seiner Zeit voraus. Allmählich jedoch wurde das Blatt von der Wirklichkeit eingeholt, die es selbst mitgeformt hatte, und mußte sich nach dem Wahlsieg Mitterands und dem Linksbündnis aus Sozialisten und Kommunisten 1981 von der einst ultra-linken „Libération“ den Rang ablaufen lassen. Es folgen turbulente konfliktreiche Zeiten, das vorläufige Ende und erbitterte Familienkräche.

Es sollte zehn Jahre dauern, ehe sich wieder eine Equipe zusammenfand, um den satirischen Faden unter dem Chansonnier Philippe Val als neuem Direktor wieder aufzunehmen. Es war die Zeit nach dem Mauerfall, als auch die französische Gesellschaft von den Verheißungen eines „Ende der Geschichte“ umnebelt und in den neoliberalen Rhythmus eines Edouard Balladur und Charles Pasqua gepeitscht wurde. Nach erneuten Turbulenzen, Richtungsstreitereien und persönlichen Querelen übernimmt 2009 der Karikaturist und Journalist Stéphane Charbonnier (Charb) die Leitung mit dem Willen, "Charlie Hebdo" wieder den alten subversiven Geist einzuhauchen. Er wagt sich an ein Tabuthema, den Islam. Nach den Mohammed-Karikaturen 2006 in Dänemark hatte "Charlie Hebdo" vor Gericht das Recht erstritten, sich über jede religiöse Figur lustig machen zu dürfen, wer immer es sei. Charb achtete dabei darauf, die sektiererischen und gewalttätigen Schwarzbärte nicht mit der Gesamtheit der Moslems in einen Sack zu stecken. Dennoch ließ die Antwort nicht lange auf sich warten. Im November 2011 wurde die Redaktion durch einen Brandanschlag verwüstet. Die publizistische Replik: Ein Mann mit einem Charlie-Hebdo-T-Shirt und ein Moslem umarmen sich inniglich unter dem Slogan: Die Liebe ist stärker als der Haß. Die Quittung dafür bekam Charb am 7. Januar mit einer Kugel.

Der Verfasser dieser Zeilen hatte vor zwei Jahren Gelegenheit, Stéphane Charbonnier am Rande einer Podiumsdiskussion in der Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin persönlich kennenzulernen. Das Thema lautete: „Allmacht und Alltag - Eine deutsch-französische Diskussion zur Rolle der Religion in der Gesellschaft“. Dort ließ Charb, der aus seiner Sympathie für die französischen Kommunisten und den Parti de Gauche keinen Hehl machte und gelegentlich auch für „L‘Humanité“ zeichnete, keinerlei Mißverständnisse über sein Anliegen in seinem journalistischen und karikaturistischen Wirken aufkommen: Es ging ihm nicht um die religiöse Kränkung der Moslems, sondern um die Verteidigung der republikanischen Werte der Laizität und des religiösen Respekts gegen ein Klima religiöser oder sonstiger doktrinärer Intransigenz.

Als ob erst ein toter Kommunist ein guter Kommunist sei, gilt auch dem ermordeten Chefredakteur Stéphane Charbonnier die allseits bekundete Bestürzung. Aber Jutta Ditfurth hat Recht, wenn sie die dabei vergossenen Tränen mit den rituellen Politiker-Bekenntnissen zu Presse- und Meinungsfreiheit als westliche Grundwerte usw. angesichts einer dominierenden Gleichschrittpresse und der Einschnürung von Minderheiten-Meinungen für nichts anderes als Krokodilstränen hält.

„Nous sommes tous Charlie-Hebdo“ wird unisono und weltweit den anarchistischen Journalisten und Satirikern ins Grab hinterhergerufen. Als sie noch lebten, wäre dieses im Chor gesungene Credo undenkbar gewesen.

Arnaud Gonzague, "Charlie Hebdo", quarante-quatre ans de rigolade", Le Nouvel Observateur, 7. 01. 2015

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