21 km - Sight-seeing

BERLINER ABENDE Ich hatte gerade fünf Stunden geschlafen, als sich das Weckradio einschaltete und den 1. April verkündete. Ein Scherz, so hoffte ich und erkannte ...

Ich hatte gerade fünf Stunden geschlafen, als sich das Weckradio einschaltete und den 1. April verkündete. Ein Scherz, so hoffte ich und erkannte ziemlich bald meinen Irrtum. Es war Sonntag früh, kurz vor sieben Uhr, und ich hatte eine Verabredung ...

Vor drei Monaten, in der Silvesternacht hatten A. und ich beschlossen, die Herausforderung des "kleinen Bruders", wie der Berliner Halbmarathon harmlos genannt wird, anzunehmen. Später kamen mit männlicher Selbstverständlichkeit die Kollegen T. und D. hinzu. Gemeinsam verspürten wir den dringenden Wunsch, an diesem damals noch fernen Datum für uns ein Zeichen zu setzen. Bis dahin trabte jeder in seiner heimatlichen Umgebung allein vor sich hin. Die Wochen vergingen, der Alltag schwankte zwischen hoch und tief, geizte auch nicht mit Überraschungen.

Für mich stand zum Beispiel ganz plötzlich eine Bildungsreise in den Nahen Osten auf dem Programm. Ich ahnte, dass meine Lauf-Vorbereitungsphase erheblich gestört werden könnte, dennoch wollte ich das eine tun und das andere nicht lassen. Eine Eigenschaft, die einem Virus gleicht. Einmal ausgebrochen, überträgt sie sich auf alle Lebensbereiche, kostet Kraft und verschlingt Zeit. Sieben Tage sind zu kurz für eine Woche und in die täglichen 24 Stunden schleicht sich ein rasant wachsendes Ungleichgewicht zwischen Schlaf- und Wachphasen. So hatte ich also die 14 Tage vor dem Lauf pro Nacht zwischen drei und fünf Stunden geruht und hoffte sehr auf eine Regenerationsphase in der Nacht vom Samstag zum Sonntag. Mein Rückflug aus Tel Aviv sollte, nach kurzem Umstieg in Frankfurt, gegen 22 Uhr in Berlin enden. Das gelang auch fast: Ich war da - mein Koffer nicht! Das Tegeler "Lost and Found"-Büro arbeitete intensivst, um 0.30 Uhr erfuhr ich, dass mein Koffer wahrscheinlich im Laufe des kommenden Tages zu mir nach Hause gebracht werden würde. Ich fuhr dann schon mal vor und legte mich um 2 Uhr ins Bett. Siehe oben.

Über den Alexanderplatz huschen Menschen mit Sportkleidung und immer gleichen Plastikbeuteln, die schnell als Mitläufer zu identifizieren sind. Da kommt D. in zivil, leicht hinkend. Entsetztes Staunen. Er hatte es nicht lassen können, am Samstag anderthalb Stunden zu trainieren. Jetzt hatte er es im Knie. A. trudelt ein, ausgeruht und voller Erwartung blickt sie missbilligend auf D.´ s Knie. Unser Kollege schnappt sich das nächste Taxi, fährt nach Hause und taucht pünktlich zum Start wie Phönix aus der Asche im Sportdress neben uns auf. Es geht los, erst sehr schleppend, wie das so ist, wenn sich 11.665 Menschen zeitgleich in Bewegung setzen. Mittes Bürgermeister, Joachim Zeller, meinte wortreich, die Teilnehmer aus 53 Ländern auf "Sight-seeing-Tour durch Berlin schicken zu müssen. Die Spitzenathleten hatten sich vorgenommen, Bestzeiten zu laufen. Wir wollten ankommen, wählten also den Mittelweg: vorbei am höchsten Gebäude der Stadt, dem Berliner Fernsehturm (365 Meter), an der Marien-Kirche, dem umstrittenen Palast der Republik, dem Berliner Dom (erbaut in den Jahren 1894 bis 1995), wenn schon Sight-seeing, dann auch ein paar Daten. Nach drei Kilometern haben wir das Brandenburger Tor erreicht. Hier fasst D. nach A.´ s Schulter, aus Ergriffenheit. Später fasst er sich ans Knie und verlässt die Bahn. Wir umkreisen (die 70 Meter hohe) Siegessäule, fünf Kilometer sind geschafft. Entlang der Straße des 17. Juni entdecke ich die nächsten Sehenswürdigkeiten: ein Mann, ein Baum; der Tiergarten hat viele Bäume. Eine gute Chance, sich ein wenig vorzukämpfen. Seit zehn Minuten verspricht mir T. hinter jeder Straßenkrümmung einen Getränkestützpunkt, A. und D. haben wir im Gewühl verloren. Endlich tauchen die weiß-grünen Schilder der Berliner Wasserbetriebe auf. Gentlemanlike prescht T. vor, um mir ohne Laufunterbrechung ein Becherchen Wasser zu reichen. Dankbar spucke ich einen Schluck durch die Luft und mir aufs T-shirt, der Rest verschüttet sich von selbst beim Überspringen der auf dem Boden verstreuten Plastikbecher. Widerstrebend beschließe ich, mein Trinkgefäß nicht für die gelben Säcke aufzuheben.

Mit zunehmender Kilometerzahl lässt meine Aufmerksamkeit für die historischen Sehenswürdigkeiten der Stadt rapide nach. In meinen Kopfhörern singen die Ärzte Männer sind Schweine ..., ich grinse und laufe etwas beschwingter, was T. sofort als euphorische Phase missversteht und zum Tempo machen ermuntert. Zwischen Kilometer 18 und 20 frage ich mich sehr ernsthaft: muss das wirklich sein? Zum Glück streift mein schon leicht entrückter Blick den (74 Meter hohen) Turm des Roten Rathaus´, Sight-seeing hat mich wieder ... Noch ein paar hundert Meter, die Menschenmenge an beiden Straßenrändern wird dichter und lauter, das Ziel ist in Sichtnähe, plötzlich laufen meine Beine los. Ich war ahnungslos, aber T. hatte es gewusst und ließ sich nicht abschütteln. Exakt zeitgleich ereichten wir das Finish. Auf der Liste steht er einen Platz vor mir. Ich protestiere!

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