Achtsame Augenblicke und ein Zweifel

BERLINER ABENDE diesem

"Gesund leben fängt im Alltag an - in diesem Augenblick." Die Zeile meiner Bahnlektüre erwischt mich eiskalt auf dem Weg zur Arbeit zwischen den Bahnhöfen Lichtenberg und Nöldnerplatz. Was tun? Aussteigen und laufen, den Apfel für die Mittagspause vorzeitig aus dem Rucksack kramen? Ich lese weiter: "Innehalten, achtsam sein, meditieren - das sind die Möglichkeiten, dem Gesundheitsrisiko Nummer 1, dem Streß, einfach und wirksam zu begegnen: jeden Tag, in den verschiedensten Situationen." Das klingt spannend und erfordert auch nicht sofort eine Aktion. Ich beginne mit der Achtsamkeit und versuche die Realität des gegenwärtigen Augenblicks zu akzeptieren. Schließlich entfaltet sich unser Leben in einer Folge von Augenblicken, vielmehr noch, es besteht aus nichts anderem. Weiß das mein Nachbar, der, in sich zusammengesunken, abgestandene Luft zittrig-pfeifend gleichzeitig aus Mund und Nase stößt? Wahrscheinlich nicht. Einen völlig neuen Blick habe ich plötzlich auf den bärtigen Mann in der Ecke schräg gegenüber. Was soll ich lange nach verschämten Umschreibungen suchen, er hat das Outfit eines Penners ohne Alditüten, in der rechten Hand hält er eine Bierbüchse, die er gerade unter lautem Zischen und mit sichtlicher Vorfreude geöffnet hat. Er führt den weit vom Körper weg angewinkelten Arm würdevoll, so als hielte er etwas besonders Kostbares in der groben Faust, zum Mund, nimmt einen kräftigen Schluck, setzt das kalte Metall wieder ab, wischt sich mit dem Handrücken Schaumreste von den aufgesprungenen Lippen, rülpst blubbernd, schließt die Augen und scheint in diesem Augenblick mit sich eins. Dieser Vorgang wiederholt sich.

Irgendwann muss ich aussteigen und versuche nun, in der Bewegung die Augenblicke achtungsvoll aneinander zu reihen. Es gibt nicht viel zu sehen, daher bemühe ich mich, all meine Aufmerksamkeit auf mich und meinen Atem zu richten, und japse alsbald nach Luft. Ich weiß nicht mehr, wie das funktioniert: einatmen - ausatmen. Atme ich durch die Nase ein, halte ich den Atem an, bevor ich ihn langsam oder schnell, in kleineren Portionen oder alles auf einmal wieder herauslasse, aus dem Mund oder auch aus der Nase? Wiederholt sich diese komplizierte Abfolge dann sofort oder gibt es eine Atempause, noch irgend etwas anderes zwischen Ein- und Ausatmen? Wie machen das all die Menschen um mich herum? Man sieht es ihnen nicht an. Wenn ich jetzt noch eins draufsetze (ich bin während der Bahnfahrt in der Lektüre meines Buches ein paar Seiten vorangekommen) und versuche, auf meine Schritte zu achten, darauf wie meine Füße mit dem Straßenpflaster Kontakt aufbauen, dann wird es mir vermutlich unmöglich sein, einen Hundehaufen zu umgehen. Bei diesen ablenkenden Gedanken lockern sich unbemerkt meine Atemprobleme.

Seither befinde ich mich im Lernprozess, meine Achtsamkeit allerdings ist zu gnadenlosem Beobachten mutiert. Ich stehe an der Tankstelle und verfolge ungerührten Blickes, wie ein Autofahrer seinem Gefährt Rad für Rad Luft einhaucht und dabei seine Beine unaufhaltsam in den langen Gummischlauch wickelt, was in kürzerer Zeit unweigerlich zum Stolpern oder Sturz führen muss und richtig, da hüpft er auch schon, als gelte es einen Schuhplattler-Wettbewerb zu gewinnen, krampfhaft bemüht, sich aufrecht aus der Umklammerung zu befreien. Ich gehe mitten auf dem Alexanderplatz in ein riesiges Zelt, mische mich unter wildfremde Menschen und beobachte, was passiert. Männer mittleren Alters, in mittelbraunen Velourjacken und hellblauen Hemdkragen stehen im Halbkreis und singen alle das gleiche, mir unbekannte Lied in einer fremden Sprache. Hinter ihnen das Abbild einer wundervollen Berglandschaft. Vor ihnen wohlwollend blickende Frauen und Männer. Der letzte Ton verhallt, ein grauhaariger Herr im hellgrauen Anzug tritt zwischen die Sänger und wohlwollend Blickenden und beginnt zu reden. Seine Sätze sprudeln munter, klingen italienisch, deren Bedeutung bleibt mir verborgen, niemand übersetzt. Dicht am Zelt entlang fährt eine Kehrmaschine, ohrenbetäubender Lärm, der graue Herr bewegt die Lippen ungerührt, die Menge lauscht ungerührt. Loriot kommt mir in den Sinn. Das Geräusch ebbt ab, die letzten Worte sind wieder hörbar. Schluss. Applaus. Was war hier geschehen? Keine Ahnung.

Achtsamkeit ist die Kunst, bewusst zu leben. Kleine Blackouts allerdings haben auch ihren Reiz, zumindest für den stillen Beobachter. Ich laufe mit einer Kollegin zur U-Bahn, sie hüpft mal rasch in die Apotheke, um zu fragen, ob sie hier ihren Schirm vergessen habe, und richtig, freundlich wird er ihr gereicht, ein paar Meter weiter huscht sie in den Bäckerladen, um nach ihrem zwei Stunden zuvor liegengelassenen Brot zu fragen. Auch das wird ihr freundlich gereicht. Danach trennen sich unsere Wege.

Soll ich ihr den Titel meiner Bahnlektüre verraten? Ich bin im Zweifel.

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