Der kleine Unterschied

Sportplatz Kolumne

Marathonlaufen ist wie Kinderkriegen. Wenn frau die Strapazen einmal überstanden hat, sagt sie: Nie wieder! Dennoch gibt es, gesellschaftspolitisch betrachtet, nicht genug, aber doch erstaunlich viele Geschwisterkinder, die zumindest die selbe Mutter miteinander teilen müssen.

Am Start des 33. Berlin-Marathon sind die Frauen wie immer in der Minderheit und zugleich zahlreich vertreten. Auch ich habe die Geburtswehen der vorjährigen 42,195 Kilometer vergessen, verdrängt oder sonst wie ausgelöscht und stehe mitten unter ihnen, dem Start entgegen fiebernd. Na ja Fieber habe ich zum Glück nicht, aber die Beine sind schwer und auch sonst hätte ich mich am Morgen, als um 5:45 Uhr der Wecker klingelte, gut noch einmal umdrehen mögen. Gerade verkündet die muntere Stimme des Veranstaltungssprechers, dass die älteste Teilnehmerin 75 Jahre alt ist und reißt mich damit gewaltig aus meinen "Wie-geht-es-mir-denn-heute-Gedanken". Da gibt es also eine, die ist so alt, wie ich mich gerade zu fühlen glaube. Nun hilft nur noch Musik, ich lege meinen Ipod an, verstöpsele die Ohren, schalte den Zufallsgenerator ein und freue mich auf viele Stunden voller musikalischer Überraschungen. Kurz zuvor hatte ich noch den dialektgefärbten empörten Ausruf einer Mittdreißigerin in ihr Handy vernommen. "Jetzt lasche se mich hier ganz alleine", das finde ich angesichts von angemeldeten 40.000 Startern etwas übertrieben.

Endlich geht es auch für Block H, den menschenintensivsten aller Blöcke los. Hier ist das Sammelbecken all derjenigen, die mehr als vier Stunden bis zum Ziel unterwegs sein werden. Ich habe den Eindruck, in diesem Jahr sind das noch mehr als sonst, es ist jedenfalls kein Vorwärtskommen. Laufgruppen, egal ob sie aus der Schweiz, Italien, Japan oder aus Hintertupfingen kommen, laufen immer nebeneinander. Wenigstens haben manche ein nettes und sehr laufpraktisches Outfit. Vor meiner Nase tänzeln mal gestreifte Knastbrüder mit einer Kugel am Bein, dann wieder ein ganzer Trupp gehörnter Wikinger. Das sieht toll aus, dennoch rauben mir Hinterherschleich- und Umgehungsmanöver Zeit und Kraft. So greife ich dann doch schon bei Kilometer 10 zu meinem mitgeführten Energie-Gel und trinke reichlich Wasser dazu. Es ist schließlich ein sehr rekordwarmer September-Sonntag. Das viele Trinken lässt sich beim besten Willen nicht verschwitzen. Links und rechts des Weges stehen Männer an Bäumen und Büschen. Ich schwöre, bis zu diesem Zeitpunkt war mir Penisneid völlig unbekannt. Meine Gedanken und Augen kreisen fieberhaft um vermeintlich frauenfreundliche Stadtbüsche. Da endlich kommt ein öffentliches Häuschen immer näher, ich verlasse den Pulk, klinke an der Tür, sie öffnet sich ... Wenig später reihe ich mich erleichtert wieder ein, bereit, in wenigen Augenblicken Familie und Freunde, die mich mit einem bunten Schild zum Rennen animieren wollen, auf mich aufmerksam zu machen. Wir winken uns zu, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen und wiederholen es später noch an vier weiteren Treffpunkten.

Bei Kilometer 18 greift Emma Shapplin mit ihrer grandiosen Stimme ins Geschehen ein. Ihre Musik aus meinen Kopfhörern lässt mich über den Asphalt schweben. "Vedi, Maria" ..., nach 5:04 Minuten ist der Titel verklungen, der Asphalt hat mich wieder und nach weiteren drei Kilometern ist die Hälfte der Strecke geschafft. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt hat Haile Gebrselassie den 33. real- BERLIN-MARATHON mit einer Jahresweltbestzeit von 2:05:56 Stunden gewonnen.

Berlin, heißt es, hat eine sehr flache Marathonstrecke. Mit zunehmender Zahl der Kilometer habe ich allerdings das Gefühl, alle Straßen enden auf einem Berg oder führen über eine Brücke. Aber irgendwann führt auch eine durchs Brandenburger Tor. Das ist einer der Momente, an dem japanische Läufer und Läuferinnen plötzlich rückwärts gehen, den berühmten Cheese-Blick aufsetzen und der Partner fotografiert. Ich will nur noch die letzte Zeitmatte, über der das Wörtchen Ziel lockt, überqueren und dann denken: Nie wieder!


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