Gestreifte Delfine

Berliner Abende "Am schönsten sind die Bahnfahrten. Die Blicke der Leute im Abteil, wenn Heide K. ihre Tasche aufmacht und unifarbene, gestreifte oder geblümte ...

"Am schönsten sind die Bahnfahrten. Die Blicke der Leute im Abteil, wenn Heide K. ihre Tasche aufmacht und unifarbene, gestreifte oder geblümte Papiere herausholt." Das jedenfalls behauptet meine Apothekerin oder genauer gesagt, so steht es in einem Zeitungsartikel, auf den sie mich aufmerksam macht. Frau K. faltet dann aus dem Papier Käfer, Autos und Delfine, sie entspannt sich dabei. Keine Risiken oder Nebenwirkungen. Wirklich ´ne tolle Sache. Die asiatische Kunst des Papierfaltens kommt ohne Klebstoff und Schere aus, soll schnell zu lernen sein und vor allem gut für die Gesundheit.

Bisher habe ich über meine täglichen Bahnfahrten immer nur gejammert: zu früh, so spät, zu lang, so voll, zu stressig. Vielleicht sollte ich mir den klugen Wink meiner Apothekerin zu Herzen nehmen. Ich könnte mir ein paar lustige Bögen Geschenkpapier einpacken und dann munter in der U-Bahn drauflos falten. Wie wird das wohl mit den Blicken der Leute im Abteil, staunende Gesichter wie bei Frau K.?

Morgens blicken die meisten noch gar nicht. Hinter Ohrstöpseln verschanzt, kosten sie die letzten ruhigen Minuten aus, bevor sie die Schule, das Büro oder was auch immer für die nächsten Stunden vereinnahmt. Andere haben nur Augen für ihre Lektüre. Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken von Allan Barbara Pease scheint immer noch der Renner. Nun ja, vermutlich kann man neueste Erkenntnisse der Gehirn- und Evolutionsforschung auf jede Art und Weise mit der aktuellen Verhaltenspsychologie zusammensperren und damit so ziemlich alle Phänomene oder auch nur Alltäglichkeiten zwischen den Geschlechtern erklären. Aber was ist mit mir los, warum kann ich mich nicht ebenso meiner Lektüre hingeben?

Kaum sitze ich in der Bahn, liegen meine Nerven blank, produziert meine Phantasie Horrorszenarien. Vergangenen Dienstag zum Beispiel, da hat es mich wieder erwischt. U-Bahnhof Kaulsdorf Nord steigt der hochaufgeschossene grauhaarige Mann - wie immer um diese Zeit - ein und setzt sich dicht neben mich. Er sieht aus wie ein Zahlenmensch, ein Vertreter der wissenschaftlich-technischen Intelligenz aus einer abgewickelten Zeit. Salopp gepflegt und sportlich gekleidet. Nie trägt er ein Gepäckstück bei sich. Ich weiß genau, was jetzt gleich kommt. Der Mann sitzt eine Weile wie versteinert, den Blick stur geradeaus, dann folgt bald ein gurgelndes Kichern und fast im gleichen Augenblick schlägt er sich mit der flachen Hand mehrmals auf den Schenkel. Dann passiert eine Weile nichts. Keiner im Abteil nimmt Notiz von ihm. Noch nie hat in meiner Gegenwart auch nur ein Reisender sich irritiert gezeigt. Ich starre angespannt auf die Buchstaben meiner Zeitung. Jetzt ballt der Mann neben mir die rechte Hand zur Faust, schnipst den Zeigefinger raus, führt ihn blitzschnell an seinen Hals und drückt eine kleine Kuhle ein. So verharrt er einige Augenblicke, um den Vorgang dann rhythmisch zu wiederholen. Jedesmal habe ich Angst, der Zug könnte ruckeln und der Zeigefinger landet unmittelbar in meinem linken Auge. In solchen Momenten verfluche ich meine Eitelkeit. Würde ich statt der Kontaktlinsen eine stabile Brille tragen, könnte ich jetzt bedenkenlos Zeitung lesen. So kann ich erst aufatmen, als der Zug in den Bahnhof Tierpark einfährt. Ich weiß, gleich würde sich der Zahlenmann erheben, wie aufgezogen zur Tür laufen, aussteigen, zu der nächsten Säule auf dem U-Bahnsteig gehen und dicht davor stehen bleiben. Was dann folgt, habe ich noch nie beobachten können, immer setzt sich der Zug schneller in Bewegung. Auch heute wieder. Aber was nun, warum springt dieser fremdländisch aussehende junge Mann von der gegenüberliegenden Sitzreihe jetzt plötzlich auf und setzt sich an meine Seite, damit ändert er doch seine Fahrtrichtung nicht? Das hätte mir für einen Platzwechsel noch eingeleuchtet. Wieder finde ich keine Ruhe. Abgesehen davon, dass er breitbeinig thronend wie alle Männer, meine Bewegungsfreiheit noch mehr einengt, beschleicht mich so ein merkwürdiges Gefühl. Ich taxiere seinen Umfang, könnte er unter seiner Jacke etwas verborgen haben? Er wird sich doch nicht hier ... Der Zug hält wieder. U-Bahnhof Frankfurter Allee, Übergang zur S-Bahn. Mein kraushaariger Nachbar mit der aufgeplusterten Jacke verlässt seelenruhig das Abteil.

Ich sollte weniger Nachrichten gucken! Und mehr meiner Apothekerin vertrauen, so wie einer Umfrage des Meinungsforschungsunternehmens GfK zufolge 91,5 Prozent der Deutschen es tun. Sie rät nicht nur zum kreativen Entspannen beim Papierfalten, sondern empfiehlt auch gegen Stress: "Lassen Sie es duften!" - Na, das wär´s doch. Morgen stelle ich mein Aromalämpchen auf, lasse es in der U-Bahn nach Melisse oder Sandelholz duften und falte gestreifte Delfine, die ich dann zu Weihnachten meinen Lieben schenke.

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