Kulisse

Telefongeschichten Fremder Leute Adressbücher

Interessiert Sie, welche Menschen sich hinter Rufnummern in fremder Leute Telefonverzeichnissen verbergen? Eigentlich nicht - wäre meine Antwort. Aber vielleicht ist das ignorant und vielleicht kann mich die Lektüre des Bändchens Wahlverwandtschaften eines Besseren belehren ...
Elf jüngere Autoren schreiben Ziffern auf ein Blatt Papier, die eine Telefonnummer sein sollen, aber dennoch fiktiv sind, dass heißt: Entstehende Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden Nummern sind unbeabsichtigt. Hinter diese Zahlenfolge, manchmal auch davor, setzen sie einen Namen. Ist der authentisch? Möglich, einen davon kenne ich sogar - Kraft Wetzel, ein Filmkritiker, der auch für den Freitag schreibt, aber das wird nicht erwähnt. Einige Autoren geben einen vollständigen Namen preis, andere nur einen Vornamen, wieder andere beschreiben die Funktion der Person hinter der Nummer. Elf Adressbücher mit durchschnittlich je 20 Nummern, das ergibt rund 220 Kurz- bis Kürzesterinnerungen an Menschen, die andere Menschen (elf Autoren) hin und wieder mal anrufen. Geht mich das etwas an?
Das erste Telefonbüchlein gehört Andreas Bernard, einem Münchener Autor, der an einer Dissertation über die Geschichte des Fahrstuhls arbeitet. So steht es im Vortext. "Angenommen, jemand findet in einem Café oder zwischen den Sitzen eines Kinosaals ein vergessenes Adreßbüchlein. Er schlägt es auf, ...Was könnten die Notizen über die Person verraten; ... ein Bild des Unbekannten ergeben ...?" Noch bevor Bernard in seinem eigenen Register, versteckt hinter der dritten Person, zu lesen beginnt, beschleicht ihn ein Verdacht: Telefonbücher könnten durchaus fruchtbarer Gegenstand detektivischer Interessen sein, allerdings nur für den Besitzer.
Was nun? Ich stehe noch ganz am Anfang einer Lektüre, die mich nichts angeht. Verunsichert betrachte ich ein literarisches Produkt, das in seiner Aufmachung eher einer Lose-Blatt-Sammlung gleicht, zusammengehalten von dicken Metallringen. Der hellgrüne Pappeinband hat Löcher, angeordnet als Wahlscheibe, wie sie einst unsere Telefone zierte. Vielleicht ist es originell, aber ästhetisch? Mich überkommt jedenfalls keine Lust, das Buch einfach nur mal so in die Hand zu nehmen, um zu ergründen, wie es sich anfühlt. Beim Durchblättern stoße ich auf buchseitengroße Porträts der Autoren und vermeintlichen Adressbuchbesitzer; ich blicke in ihre Gesichter und beginne, nun neugierig geworden, in ihren Verzeichnissen zu stöbern.
Tanja Dückers hat es mit Borten, zum Beispiel mit quietschgrünen Plüschquastenborten, Zick-Zack-Fransen langweilen sie inzwischen und sollten besser durch hellblaue Neonblink- oder lila Bommelkirschborten ersetzt werden. So viel stoffliche Leidenschaft verbirgt sich hinter den Ziffern 6489348, der gefälschten Nummer eines Typen namens Ralf.
Annett Gröschner mag keine Zahlen. In ihrem Bewusstsein hat jede Ziffer eine eigene Farbe. Die Telefonnummer ihrer Oma ergab eine nette Farbmischung: Dunkelrot-Weiß-Schwarz-Dunkelblau-Hellblau - das ließ sich gut merken, "... denn Dunkelrot dominiert, Weiß neutralisiert, Schwarz ist sowieso keine Farbe, und das Blau hinten ergibt einen angenehmen Abschluß".
Edda Helmke, über die geschrieben steht, sie sei Hausfrau und Mutter, hat bisher drei Romane veröffentlicht. Alle ohne Titel oder waren sie den Herausgebern nur entfallen? Das wäre nicht weiter schlimm, wenn nicht bei den anderen Autoren Buchtitel, auch solche die erst erscheinen sollen, präzise aufgelistet wären. Helmkes Adressbüchlein liest sich stellenweise wie ein Tagebuch: "Die Couch neben mir ist leer, weil Dany mit seiner Kamera und einem Möchtegern-Model unterwegs ist, Lotta-Paulina seit Stunden schläft, B. B. angeblich arbeitet, das Fernsehprogramm schlecht ist und ich zum Lesen zu müde bin." (Was haben die beiden letzten Punkte eigentlich mit der leeren Couch zu tun?)
Bis hierher ist die Lektüre erfrischend. Es ist zu spüren, dass einem literarischen Auftrag eine eigene Idee hinzugefügt wurde, die auch außerhalb des Themenbändchens Bestand hätte. Danach gibt es allerdings kaum Überraschendes. Es folgen Nummern, Namen, Beschreibungen, wenige Reflexionen. Jedes Adressbuch für sich genommen ist durchaus lesenswert und lässt, transportiert über den Erklärer, auch Rückschlüsse auf den Besitzer zu, schon allein durch die Auswahl der handelnden Personen. Vielleicht ist es ein Buch, das man immer mal wieder zur Hand nehmen sollte, um wohldosiert zu schauen, wer hinter einigen dieser fiktiven Zahlen hervorlugt. Anderenfalls rauscht, ähnlich einem großen Empfang, eine bunte Menschenkulisse vorüber und kein Gesicht will so richtig haften bleiben.

David Wagner, Tanja Dückers, Maike Wetzel u. a.: Wahlverwandtschaften. Telefongeschichten. Aufbau-Verlag, Berlin 2002, 181 S., 15 EUR


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