Öffentlich Leben

BERLINER ABENDE "Eh, merkt Ihr noch wat, Ihr habt wohl 'n Ei uff'm Kopp." Der Busfahrer rutscht von seinem Sitz und stapft mit großen Schritten zur letzten ...

"Eh, merkt Ihr noch wat, Ihr habt wohl 'n Ei uff'm Kopp." Der Busfahrer rutscht von seinem Sitz und stapft mit großen Schritten zur letzten Bankreihe. "Liegen da mit de Beene bis fast an die Decke. Habt Ihr einen Fahrausweis?" Die beiden Sechstklässler nehmen erschrocken Haltung an und zeigen mucksmäuschenstill ihre Monatskarten vor. Der Busfahrer stapft zurück und brummelt etwas von elendem Lumpenpack, welches wohl nicht richtig tickt, vor sich hin. - Ich verstehe die ganze Aufregung nicht, sind die öffentlichen Verkehrsmittel nicht längst das Wohnzimmer der Gesellschaft? Wer benimmt sich schon noch in der Öffentlichkeit anders als in seinen eigenen vier Wänden?

Mein täglicher Arbeitsweg mit Bus, S- und U-Bahn ersetzt jede Talkshow, mag der Stoff noch so schräg oder absurd gewählt sein. Ein mögliches Talk-Thema: "Wieweit sollte Tierliebe gehen?" Real life: In der S-Bahn sitzt ein älterer Mann mit einem Vogelbauer, darin ein schwarzes Federtier, das ungefragt einem soeben Zugestiegenen "Alter Sack!" entgegen schleudert. Und schon erzählt die junge Frau neben mir, dass auch sie mal einen Vogel hatte, einen Wellensittich, der ein Ei legen wollte, was ihm aber nicht gelang. Deshalb sei sie mit ihm zum Arzt gegangen, habe 120 DM bezahlt, und am nächsten Tag war der Vogel tot. Noch bevor ich mein Bedauern ausdrücken konnte, berichtet sie schon von ihrer Oma, die mit einer japanischen Minimöwe zweimal die Woche zum Inhalieren gehe und deren verletzt im Wald gefundener Buntspecht, alsbald genesen, nun kreisrunde Löcher in ihre Küchenmöbel hacke. Ein weiteres denkbares Talk-Thema: "Wie schaffe ich es, dass sich mein Kind überall zu Hause fühlt?" Real life: Am S-Bahnhof Zoo poltert ein Paar mitteljungen Alters mit mehreren Schalenkoffern und seiner etwa fünfjährigen Tochter ins Abteil. Das Kind klettert auf den Koffern herum, nutzt die Haltestangen der Bahn für waghalsige turnerische Übungen und Schaukelschwünge, die jedesmal kurz vor meiner Nasenspitze enden. Die Mutter winkt ihr begeistert mit einem Fächer zu, den sie kurz zuvor auf Wunsch des Kindes blitzschnell aus einem Brief gefaltet hat, weil der Vater seine Zeitung nicht herausrücken wollte. In dieser streicht das Familienoberhaupt kräftig im Anzeigenteil herum und meldet sich per Handy zu Wohnungsbesichtigungen am nächsten Vormittag an. Wie könnte Leben fröhlicher und vor allem effektiver sein?

Natürlich kann auch das Thema Aggressivität ohne Fernsehdistanz erlebt werden. Dafür scheint mir die U-Bahn-Linie 1 besonders geeignet. Am Schlesischen Tor steigen zwei Frauen und ein Kinderwagen fast zeitgleich in den gerade abfahrenden Zug, worauf die eine Frau der anderen rückwirkend rät, mit dem Kinderwagen doch lieber auf die nächste Bahn gewartet zu haben. Die Antwort kommt prompt: "Dit jeht dir ja nischt an, du alte Schlampe!" Am Kottbusser Tor huscht eine Punkerin ins Abteil und beginnt sofort ihre Lebensgeschichte aufzusagen. Ein paarmal verhaspelt sie sich und bringt ihre Daten durcheinander, was einen anderthalb Plätze füllenden Mann mit Pudelmütze und selbstgestricktem Ringelpullover zu der Äußerung veranlasst: "Hör uff!" Natürlich passiert das Gegenteil. Die Punkerin unterbricht ihren Monolog gerade an der Stelle, wo sie für den ausländischen Vater eine Niere spendet und sich mit HIV infiziert. Sie geht auf den Mann zu und brüllt ihn an: "Wenn ich so fett wäre wie du, würde ich mir keine Sorgen machen, aber ich wiege nur noch 38 Kilo bei 1.65, ich habe nur noch zwei Wochen zu leben." Tränen spritzen aus ihren Augen. Energiegeladen prescht sie noch dichter auf den Dicken zu und sagt: "Komm, wir prügeln uns, mir ist's egal, wenn ich schlapp mache, aber wenn mein Blut auf deins kommt, dann bist du auch dran." Dem Mann wird es mulmig. Er holt eine abgegriffene Geldbörse aus der Tasche und sagt: "Tut mir leid, ich habe einen Fehler gemacht. Ich entschuldige mich." Er hält ihr die Geldbörse hin: "Hier nimm, kannst sie behalten." - "Jetzt hast du Schiss, wa? Du hast mir sowieso alles vermasselt, hier gibt mir doch keiner mehr was." Wieder tropft es aus den sorgfältig bemalten Augen. "Ich wollte Kinder haben. Habt Ihr Kinder, wer hier im Abteil hat Kinder?" Die Frage klingt bedrohlich. Zwei Frauen holen Geldstücke aus ihren Taschen und geben sie der schwarz gekleideten, reichlich gepiercten Gestalt. Sie bedankt sich und wühlt in dem Portemonnaie des Dicken: "Ich will dich nicht abzocken, ich nehme mir nur ein paar Groschen, damit ich mir was zu essen kaufen kann und mal duschen." Bahnhof Gleisdreieck verschwindet sie. Eine Station später steige ich aus.

In der Redaktion angekommen, kämpfe ich immer noch mit soviel ungewollt erfahrener Lebensintimität. Da sagt meine Kollegin: "Ach meinst du so 'ne kleine Aggressive, in schwarzen Sachen, mit fast geschorenem Kopf und ganz viel Klimbim an Augen, Nase und Ohren? Die erzählt jedesmal 'ne andere Geschichte. Wenn ich die rechtzeitig sehe, dann wechsele ich das Abteil ..."

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