Stimmen und tierische Parties

BERLINER ABENDE Über Nacht ist die Stadt gefroren, der Gehweg vor unserer Haustür, gestern noch durch Nachbars Hand voller Eifer vom Schnee befreit, hat sich einen ...

Über Nacht ist die Stadt gefroren, der Gehweg vor unserer Haustür, gestern noch durch Nachbars Hand voller Eifer vom Schnee befreit, hat sich einen Eismantel übergestreift. Busse und Bahnen verkehren unregelmäßig, Autos werden gebeten, zu Hause zu bleiben. So erklärt es eine Stimme im Radio. Auf vieles gefasst, mache ich mich auf den Weg zur Arbeit. Zugegeben, ein paar Sandkrümelchen auf den spiegelblanken Straßen wären schön gewesen, aber ich erreiche auch so die nahegelegene Bushaltestelle. Es würde an diesem Tag nicht auf die Minute ankommen. Irgendwann biegt ein Bus um die Ecke und bringt mich zum S-Bahnhof. Von da an fröstelt's mich.

Wuhletal, das ist jener Bahnhof im Osten der Stadt, wo man bequem von der U-Bahn in die S-Bahn oder auch umgekehrt wechseln kann, steigen zwei hübsche Mädchen ein und setzen sich neben mich. Sie sind vielleicht 16 oder 17 Jahre alt, dezent geschminkt, sorgfältig gekleidet, angenehm ihre Sprache. Unwillkürlich wechsele ich vom aktiven Zeitungslesen ins passive Lauschen und erfahre: Die Eltern des einen Mädchens sind verreist. Also ist Party angesagt. Ihr Gegenüber warnt, sie war neulich auf einer Party, bei der die elterliche Wohnung übel zugerichtet wurde. Aber nein, zu ihr kommen nur gute Freunde, beruhigt das Mädchen und außerdem dürfe die gute Stube ohnehin nicht betreten werden. Von soviel Wohlerzogenheit überwältigt, lese ich in meiner Zeitung weiter. Erst durch ständiges Kichern werde ich wieder aufmerksam und will nicht glauben, was ich höre. Es ist immer noch von Parties die Rede, aber nicht mehr vom bösartigen Beflecken der häuslichen Auslegware, sondern von ganz witzigen Partyspielchen. Die Mädels übertreffen einander mit Geschichten vom Meerschweinchen in der Mikrowelle, Hamster im Tiefkühlfach, Wechselbäder für Aquarienfische, die dann so lustig trieselig durch die Gegend schwimmen und nach zwei Tagen tot sind. Kicher, kicher. Entsetzt stelle ich fest, da sitzen zwei Monster mit blondem Engelshaar neben mir und merken es nicht.

Auf der Warschauer Brücke reckt sich mir das Probeabo einer großen Berliner Tageszeitung entgegen, wenn ich zugreife, bekomme ich auch eine Telefonkarte schmeichelt es. Ich spüre schon die Fußangel und eile weiter zur U-Bahn Linie 1. Auf dem Bahnsteig stehen ratlos wirkende Menschen, einige scheinen einen Wagen zu besichtigen; sie steigen ein, laufen durch, steigen wieder aus, gucken auf die Anzeige, lauschen ins Leere. Endlich ertönt eine weibliche Lautsprecherstimme und verkündet die alsbaldige Abfahrt eines Zuges in Richtung Krumme Lanke. Eine Einstiegswelle bricht los. Kurz darauf weiß eine männliche Stimme zu berichten: "Der U-Bahn-Verkehr zwischen Warschauer Straße und Hallesches Tor ist zurzeit unterbrochen!" Eine Ausstiegswelle folgt nicht, wer einen Platz besetzt hat, beharrt auf diesem. Die Frauenstimme wird munterer: " Der Zug in Richtung Krumme Lanke fährt um 9.46 Uhr, mit Fahrgästen!" Das finden wir Fahrgäste wirklich großzügig, die Stimme auch. Sie wiederholt ihre Einladung mehrmals überschwänglich. Und wirklich, nach dem üblichen Abfahrtsprozedere setzt sich der Zug in Bewegung. Die Stimme begleitet uns, beschwört die Stehenden sich gut festzuhalten, da die Stromschiene stellenweise noch gefroren sei und es daher zu unvorhergesehenem starken Ruckeln kommen könne. Ich sitze gut und sicher auf einem Eckplatz und beobachte irritiert, wie es draußen blitzt und knallt. Natürlich riecht es auch schon brenzlig. Aber noch rollen wir und irgendwann wird diese Bahn endlich werden, was sie vorgibt zu sein, eine U-Bahn! Unter der Erde dürften Schienen nicht vereisen, beruhige ich mich. Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, da stehen wir, auf freier Strecke. Nichts bewegt sich mehr. Niemand sagt was. Nur eine junge Frau, im Türbereich auf der Erde hockend, Rucksack und Tasche unter die ausgebreiteten Arme geklemmt, klagt ihrem Handy von akuter Geldnot. Zum Schluss sagt sie in den Hörer: "Okay, ich komme dann gleich vorbei." Optimistin oder Ignorantin? Es ertönt die bekannte weibliche Stimme aus dem Off und amüsiert sich darüber, dass es nunmehr überhaupt keinen Strom mehr gebe, sie rät uns ruhig und vor allem in der U-Bahn zu bleiben. Sehr witzig, wer wollte schon bei verriegelten Türen mitten auf einer Brücke aussteigen?! Eine halbe Stunde später, mir ist inzwischen schon ziemlich kalt, bringt sich jene Männerstimme, die vor der Abfahrt vom unterbrochenen Zugverkehr gesprochen hatte, wieder in Erinnerung. Nein, hämisch war sie nicht, eher gemütlich. Es werde alles getan, um die Stromunterbrechung umgehend zu beheben. Ich sehe den Körper der Stimme vor mir, wie er, die Beine auf dem Bürotisch, den Oberkörper weit in den Drehsessel zurück gelehnt, gerade sein Stullenpaket auspackt. Woraus speisen sich nur meine Phantasien!

Gute Argumente sind das beste Geschenk

Legen Sie einen Gutschein vom digitalen Freitag ins Osternest – für 1, 2 oder 5 Monate.

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden