20.00 Uhr. Ich betrete das Stationszimmer der Station A. Ein kurzer Blick auf das Kartex-System. Es ist kein roter Reiter gezogen. Mündliche Übergabe zwischen Tag- und Nachtdienst findet nicht statt, da der Tagdienst um 19.00 Uhr endet. Wir arbeiten nachts zu zweit. Meine Kollegin beginnt vorne, ich beginne hinten. Frau X, eine Bewohnerin im Wachkoma, erhält eine neue Windel und wird auf die Seite gelagert. Ihr Mund zeigt mir, Mundpflege wurde wohl längere Zeit nicht mehr gemacht. Ich nehme es mir für den nächsten Rundgang vor. Windelwechsel, Lagerung bei sechs weiteren im Wachkoma liegenden Bewohnern. Hilfestellung für den Toilettenstuhl, anbieten von Flüssigkeit in den letzten drei Zimmern.
20.30 Uhr. Station B, Stationszimmer: Keine Neuigkeiten laut Kartex-System. Es folgt eine kurze Absprache, wer welchen Flur übernimmt. Danach werden die Nachtmedikamente ausgeteilt, Bewohner auf den Toilettenstuhl gesetzt, beziehungsweise die Bettschüssel gereicht. Jetzt trennen wir uns: Meine Kollegin geht auf Station C, ich gehe auf Station D.
20.45 Uhr. Station D, Stationszimmer: Einige rote Reiter sind im Kartex-System gezogen. Ich lese, was es Neues gibt. Schaue nach den betreffenden Bewohnern, kontrolliere Temperatur, Puls, Blutdruck, teile Nachtmedikamente aus, führe Bewohner auf den Toilettenstuhl, reiche Bettschüsseln, biete etwas zu trinken an, wechsle Windeln, lagere Bewohner auf die Seite, zeichne das Kartex-System von 32 Bewohnern ab.
21.00 Uhr. Station E, Stationszimmer: Im Kartex-System ist kein roter Reiter gezogen. An zwei Bewohnerinnen verteile ich die Nachtmedikamente, zeichne das Kartex-System von 30 Bewohnern ab.
Fertig mit dem ersten Rundgang.
Ich gehe zurück in das Stationszimmer der Station A. Stelle die Kaffeemaschine an und zeichne, während der Kaffee durchläuft, das Kartex-System von 31 Bewohnern ab.
Ich trinke Kaffee, rauche eine Zigarette und lasse meine Gedanken schweifen: Möchte ich so behandelt werden? Die Tür öffnet sich, das Licht wird angeknipst, jemand tritt an dein Bett, schlägt die Bettdecke zurück, meist alles ohne Worte, denn - Worte sind Zeit, können nicht dokumentiert werden, sind wertlos, bringen kein Geld ein - dreht dich auf die Seite, wechselt die Windel, freut sich, wenn kein Stuhlgang, lagert dich mit Kissen, deckt dich zu, knipst das Licht aus, schließt die Tür.
Reflexion mit der Kollegin? Der Versuch scheiterte. Sie, die Kolleginnen, arbeiten schon seit Jahren hier im Nachtdienst. Sie dürfen sich gar keinen Fragen stellen. Oder doch? Wie war das mit dem unwürdigen Leben und der Rolle der Krankenschwester im Nationalsozialismus? Kein Vergleich, meinen Sie?
Rückschau ins Jahr 1920: "..., dass ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen (gemeint sind psychisch Kranke) dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden." So der in Fachkreisen hohes Ansehen genießende Psychiater Alfred E. Hoche. Der Titel einer anderen Schrift, an der sich der Strafrechtler Karl Binding, ebenfalls eine Autorität seines Faches, beteiligte, lautet unmissverständlich: "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens." Binding: "Man könne nicht von einer Tötungshandlung im Rechtssinne sprechen, da in Wahrheit eine reine Heilbehandlung vorliege." Er führt weiter aus, dass es bei dieser Art der Lebensverkürzung auf die Einwilligung des Kranken nicht ankomme, da die in Frage kommenden Menschen nicht nur absolut wertlos, sondern negativ zu wertende Existenzen seien. Drei Personengruppen zieht Binding für die Heilbehandlung in Betracht: 1. Menschen, die wegen Krankheit oder Verwundung den Wunsch nach Erlösung besäßen, 2. unheilbar Blödsinnige und 3. Bewusstlose, die nur zu einem namenlosen Elend erwachen würden.
Ein geistiges Gedankengut, das die Nazis nach der Machtübernahme im Jahre 1933 in die Praxis umsetzten.
22.30 Uhr. Zweiter Rundgang Station B 15 Bewohner werden - je nach Bedarf - mit Windeln versorgt, auf den Toilettenstuhl begleitet, gelagert. Im letzten Zimmer angekommen, spüre ich meine Arme und den Schulter-Hals-Bereich vom Betten Hochkurbeln sowie Bettgitter Herunterlassen. Die Hälfte des Bettenbestandes besteht noch aus alten Krankenbetten. Rückenschonendes Arbeiten ist kaum zu realisieren.
23.00 Uhr. Station D
Windeln wechseln, lagern, Bettschüssel reichen, auf den Toilettenstuhl begleiten, zu trinken anbieten bei 17 Bewohnern. Ich komme mir vor wie ein Computer, der bei Bedarf ausspuckt: Geduld im Umgang mit alten verwirrten Menschen.
Nicht jeder Bewohner geht, wenn er nachts geweckt wird, freudestrahlend auf den Toilettenstuhl oder dreht sich, wenn er kann, für den Windelwechsel auf die Seite. Im Gegenteil: Viele verstehen nicht, warum sie sich auf den Toilettenstuhl setzen sollen, um anschließend wieder ins Bett zu gehen. "Ich muss doch gleich in die Stadt", höre ich nicht selten.
24.00 Uhr. Station E
Sieben Bewohner warten auf die nächtliche Versorgung. Inzwischen fällt es mir schwer, angemessen auf die Bedürfnisse des Einzelnen einzugehen. Bin froh, wenn die Station fertig ist.
0.30 Uhr. Station A. Es dauert eine Weile, bis ich die verkrusteten Lippen und den Mundraum bei Frau X gesäubert habe. Sollte mir eigentlich mehr Zeit für die Mundpflege nehmen. Frau X reagiert auf orale Stimulation mit Schmatzbewegungen. Ein nonverbales Zeichen, dass es ihr gefällt. Nein, ich muss ins nächste Zimmer gehen. Der Blick meiner Kollegin spricht Bände, wenn ich etwas länger brauche. Zwei Aussprüche: "Wir sind nachts nicht dazu da, mit den Leuten zu reden." "Die im Wachkoma nehmen doch eh nichts wahr!" Ich zucke innerlich zusammen. 1920 bis 2000? Wo ist der Unterschied in unserer Einstellung und unserem Verhalten gegenüber alten Menschen, chronisch oder psychisch kranken Menschen?
Vernehmungsprotokoll der Krankenschwester Luise Erdmann vom 23. 8. 1961:
"Anders ist es bei den Fällen gewesen, wo ich die Tötung nicht für notwendig oder angebracht hielt. Wenn ich mich bei diesen Tötungen doch beteiligte und somit gegen meine innere Einstellung und Überzeugung handelte, so geschah es deswegen, weil ich es gewohnt war, die Anordnungen und die Befehle der Ärzte unbedingt auszuführen. Ich bin so erzogen und auch ausgebildet worden. Als Schwester besitzt man nicht den Bildungsgrad eines Arztes und kann daher nicht werten, ob die vom Arzt getroffene Maßnahme oder Anordnung richtig ist. Die ständige Übung, den Anordnungen eines Arztes zu folgen, geht so in Fleisch und Blut über, dass das eigene Denken ausgeschaltet wird."
Und heute? Einrichtungen sind zu Sparmaßnahmen, besonders bei der Einstellung von Fachpersonal, gezwungen, der Zeitdruck, unter dem Pflege ausgeübt wird, nimmt zu, Aggressionen werden geweckt, die sich gegen die Bewohner richten. Wird nicht auch das eigene Denken ausgeschaltet, wenn keine Reflexion mehr über mein Tun erfolgt? Stillhalten ("Ich brauche die Arbeitsstelle"), das Beste aus der Situation machen und eine gehörige Portion Masochismus als Kennzeichen für das Pflegepersonal?
1.30 Uhr. Zweiter Rundgang beendet.
Wenn nichts dazwischen kommt, wie Sterbefälle, Stürze et cetera, haben wir nun bis halb vier Uhr Ruhe. Ich setze mich hin, die Beine lege ich hoch.
Gedankensplitter: Pflegeversicherung, Fachkräftequote, Dokumentation, die Pflege kann noch so miserabel, das heißt unwürdig sein, Hauptsache, sie ist dokumentiert und garantiert so ein wirtschaftliches Arbeiten. Oder - ohne Dokumentation kein Geld. Geld: Der Pflegesatz in einem Pflegeheim liegt zwischen 4.000 DM und 5.500 DM. Die Pflegeversicherung zahlt für einen Bewohner der Pflegestufe III einen Betrag von 2.800 DM. Die Differenz zahlen andere Leistungsträger, oder die Angehörigen. Letztes Jahr wurde bekannt, dass die Pflegeversicherung über Rücklagen von über neun Milliarden Mark verfügt.
3.30 Uhr. Dritter Rundgang
Beinahe mechanisch wechsle ich die Windeln, begleite die Bewohner auf den Toilettenstuhl, reiche die Bettschüssel, biete etwas zu trinken an, lagere die schwerst pflegebedürftigen Bewohner. Sehe inzwischen den einzelnen Bewohner nicht mehr als eine Persönlichkeit, nur noch als der/die muss auch noch gemacht werden ...
Sterbebegleitung? Wenn jetzt ein Bewohner im Sterben liegt, denke ich, hoffentlich schafft er es noch, bis der Tagdienst da ist. Und - wenn nicht, fällt mir folgendes Bild ein: Eine Maschine wird entsorgt. Eine Maschine mit gefalteten Händen, in die ein Rosenkranz gelegt wird. Ja, ja - auf den Rosenkranz wird Wert gelegt.
6.00 Uhr. Mein Nachtdienst ist beendet.
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