Ein heftiges Heft

1966 Axel Springer nimmt mit „Kristall“ eine Illustrierte vom Markt, mit der sein Verlag einst gestartet war. Das Blatt hatte auf ein geschöntes Bild der Wehrmacht Wert gelegt

Wenn eine Wochenzeitung 375.000 Exemplare verkauft, klingt das nicht nach einem Nischenblatt. Geradezu üppig wirkt es, verglichen etwa mit der Financial Times Deutschland oder dem Magazin Prinz, die Ende 2012 zum letzten Mal erscheinen. Sie setzen – lässt man Auflagenkosmetik unberücksichtigt – weniger als 50.000 Exemplare ab. Für die Illustrierte Kristall waren 375.000 verkaufte Hefte pro Ausgabe zu wenig, um fortbestehen zu dürfen. Am 7. Dezember 1966 gab der Axel Springer Verlag bekannt, er wolle das Heft einstellen. Zum Jahreswechsel 1966/67 werde die letzte Ausgabe gedruckt. Die Auflage sei zu gering, „um eine äußerlich so aufwendig und farbenfroh gefertigte Illustrierte auch gewinnträchtig zu machen“, analysierte seinerzeit der Spiegel. Axel Springer hatte lange an Kristall festgehalten. Was kaum verwundern konnte, handelte es sich doch um das erste Presserzeugnis, das in seinem 1946 gegründeten Unternehmen erschienen war.

Eine aufwendige Gestaltung galt zu Recht als Markenzeichen. 1960 erschien in Kristall unter anderem Robert Lebecks berühmte Reportage Afrika im Jahre Null. Sie enthielt das Foto eines Afrikaners, der bei den Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit des Kongo dem belgischen König Baudouin I. seinen Degen entwendet. Die Aufnahme – sie steht ikonographisch für den Abgesang des Kolonialismus – ist bis heute in Ausstellungen zu sehen. Neben Lebeck wurde ein weiterer wichtiger Vertreter der bundesdeutschen Nachkriegsfotografie dank Kristall bekannt: Thomas Hoepker, später Präsident der Foto-Agentur Magnum.

Profilgebende Autoren

Geht es freilich um den medienhistorischen Stellenwert des Blattes, lassen sich dafür kaum Merkmale eines anspruchsvollen Qualitätsjournalismus geltend machen. Wenn die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft nur zu oft ein geschöntes Bild von Hitlers Wehrmacht serviert bekam, verdankte sie das auch diesem Periodikum und einem seiner profilgebenden Autoren: Paul Karl Schmidt alias Paul Carell (1911 – 1997) diente einst als Pressechef von NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop und schrieb für Kristall Geschichten, in denen er Wehrmachtssoldaten heroisierte. Der Herold deutscher Kriegsherrlichkeit begann 1952 seinen propagandistischen Feldzug bei Kristall, als er in der Serie „Die dramatischen Höhepunkte im 2. Weltkrieg“ den Überfall auf die Sowjetunion als präventive Selbstverteidigung verkaufte – eine Lüge, die Schmidt 1941 miterfunden und erstmals in der NS-Auslandsillustrierten Signal präsentiert hatte. Als Springer 1959 mit dem Slogan Erich Maria Remarque/Paul Carell – zwei Autoren von Weltruf – schreiben exklusiv für Kristall warb, empörte sich der Verfasser des Romans Im Westen nichts Neues, der gleich zu Beginn der NS-Herrschaft emigrieren musste: „Ich möchte nicht in zweifelhafte Gesellschaft kommen, um Gottes Willen. Ich will doch nicht in meinem Alter plötzlich noch zu den Nazis gehören.“

Ex-SS-Obersturmbannführer Schmidt-Carell machte aus zahlreichen seiner im Landser-Stil verfassten Kristall-Serien Buch-Reihen, deren Gesamtauflage bei über 2,5 Millionen lag. So erschien etwa 1963 Unternehmen Barbarossa. Der Marsch nach Russland. Das Machwerk basierte auf zwei Fortsetzungsgeschichten in Kristall, wurde in vielen Zeitungen wohlwollend rezensiert und bediente erneut die These vom „Präventivkrieg“ gegen Stalin.

Von 1960 bis 1965 wirkte Schmidt-Carell bei Kristall unter dem Chefredakteur und vormaligen Spiegel-Ressortchef Horst Mahnke, einem ehemaligen SS-Hauptsturmführer aus Heinrich Himmlers Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Schmidt-Carell kannte ihn gut, weil er seine Serien auch für den Spiegel geschrieben hatte. Horst Mahnke – einst rechte Hand des SS-Brigadeführers Franz Alfred Six, der die Logistik bei der Judenverfolgung in ganz Europa mit verantwortete – wurde nach seiner Kristall-Zeit bei Springer immerhin Vorsitzender des redaktionellen Beirats.

Ein auffälliger Widerspruch

Schmidt-Carells Geschichtsklitterungen seien „bis heute wirkmächtig“, schreibt Christian Plöger in seiner 2010 erschienenen Dissertation Von Ribbentrop zu Springer. Der Kristall-Autor sorgte für ein NS-freundliches Bild des Zweiten Weltkriegs, das Wehrmacht-Ausstellungen wie die von 1995 und 2001 erst nötig machte, auch wenn dabei Schmidt-Carells revisionistische Publizistik nicht explizit erwähnt wurde. Die war in der frühen Bundesrepublik des Öfteren Anlass für eine Art Crowdsourcing avant la lettre. Der Historiker Erhard H. Schütz schreibt in seiner Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert: „Aufgrund der Illustriertenveröffentlichungen waren die Publikationen über den Krieg in gewisser Weise zugleich Work in progress (...) Die offenbar zumeist sehr zahlreichen Rückmeldungen von Lesern konnten einerseits zur Markterkundung dienen, andererseits lieferten sie zusätzliches anekdotisches, illustrierendes Material.“

Am Beispiel Kristall lässt sich der Einfluss von NS-Eliten auf den westdeutschen Journalismus der sechziger Jahre anschaulich beschreiben. Wer genauer hinsieht, erkennt einen auffälligen Widerspruch zu der von Axel Springer gepflegten Selbstdarstellung. Der Einfluss alter brauner Kameraden wie Mahnke und Schmidt-Carell konterkarierte die Aussöhnungspolitik mit Israel, zu der sich das Unternehmen ausdrücklich bekannte, und die Millionen-Spenden des Verlegers an israelische Institutionen. Als dieses Thema mit der Ausstellung Bild dir Dein Volk! Axel Springer und die Juden zur Sprache kam, die von März bis August 2012 im Jüdischen Museum Frankfurt zu sehen war, kritisierte Springers Welt, die Macher hätten „eine ‚Ambivalenz‘ in den Vordergrund“ gerückt, die zwar existiert habe, „deren Bedeutung aber durchaus relativiert werden“ müsse.

Dass Kristall sich zu einer geschichtsrevisionistischen wie optisch ambitionierten Illustrierten entwickeln würde, hatte sich beim Start mitnichten absehen lassen. Die erstmals 1946 erschienene Publikation hieß zunächst Nordwestdeutsche Hefte und wurde von Springer im Auftrag des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) produziert. Als Herausgeber fungierte der Schriftsteller Axel Eggebrecht, der 1933 in einem Konzentrationslager interniert gewesen war. Anfangs bestanden die Publikationen überwiegend aus nachgedruckten Sendemanuskripten, sodass auch Karl-Eduard von Schnitzler, später Chefkommentator des DDR-Fernsehens, kurzzeitig zum Springer-Autor avancierte (beim NWDR, dem Vorläufer von NDR und WDR, arbeitete von Schnitzler von 1945 bis 1947 als Redakteur).

Für das „verschriftlichte Radio“ existierte in den ersten Nachkriegsjahren eine beachtliche Nachfrage, in der sich das Interesse am neuen demokratischen Rundfunk spiegelte. Als Hommage an diese Periode gibt es heute die Nordwestdeutschen Hefte zur Rundfunkgeschichte. In einer 2005 erschienenen Ausgabe dieser sporadisch herausgebrachten Reihe weist Benjamin Haller darauf hin, dass Springer einst von der Popularität des NWDR profitierte, der Sender aber nicht vom Gewinn, den die Zeitschrift verbuchen konnte. Der Springer-Verlag habe nur eine fixe Summe von 1.000 Reichsmark zahlen müssen, um die NWDR-Inhalte publizieren zu dürfen. 1948 mutierte die Zeitschrift schließlich zur Illustrierten, ab September erschien sie als Kristall.

Dass ein öffentlich-rechtlicher Sender Springer zur Seite stand, um die Basis für ein Medien-Imperium zu legen, entbehrt nicht der Ironie. In den sechziger Jahren wurde die Springer-Presse schließlich zum erklärten Gegner des öffentlich-rechtlichen Systems. Einer der ersten Feinde, die man bekämpfte, war 1963 Gert von Paczensky, damals Leiter des NDR-Politmagazins Panorama. „Der Spitzbart muss weg!“ forderte die Bild-Zeitung, die den Journalisten in Anspielung auf sein Äußeres als „zu links“ bezeichnete. Die Stimmungsmache zeitigte Wirkung. Der NDR ließ von Paczensky bald fallen.

René Martens schrieb zuletzt über den antirassistischen Fan-Konsens des FC St. Pauli

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