Keinen Fußbreit

1991 Der FC St. Pauli gibt sich, initiiert von Fans und Verein, eine Stadionordnung, die rechtsradikale und rassistische Parolen ächtet – ein klares Bekenntnis mit Folgen

Der FC Remscheid ist in der Versenkung verschwunden, er spielt heute in der Landesliga Niederrhein, seine Gegner in der sechsthöchsten Spielklasse heißen SuS Haarzopf und Arminia Klosterhardt. Vor zwei Jahrzehnten aber kickte der FCR kurzzeitig in der 2. Liga, und am 3. November 1991 war der Klub an einem Spiel beteiligt, das auf dem weiten Feld zwischen Fußball und Politik einen durchaus historischen Charakter hatte. Die Remscheider traten beim FC St. Pauli an, bei dem an jenem Tag erstmals eine Stadionordnung galt, die um einen antirassistischen Paragraphen ergänzt worden war. Seitdem werden am Millerntor rechtsradikale Parolen und das Mitführen entsprechender Fahnen mit Hausverbot geahndet. Eine solche Regelung hatte es bis dahin im deutschen Fußball nicht gegeben.

Die 15.300 Besucher des Spiels bekamen vor dem Anpfiff über Stadionlautsprecher zu hören: „Beim letzten Heimspiel unseres Vereins hat es in unserem Stadion Zwischenfälle gegeben, die zunächst mit Rufen ausländerfeindlicher Parolen begannen und in einer Schlägerei endeten, bei der mehrere Personen auf einen einzelnen jungen türkischen Staatsangehörigen einschlugen und ihn erheblich verletzten. (...) Jeder Einzelne von uns hat hier im Stadion seinen Stellenwert bei der Bekämpfung von Aggressivität und Rassismus, so dass wir uns dieses Rufes nicht nur bei Auswärtsfahrten, sondern auch und gerade hier im Stadion als würdig erweisen müssen. Der FC St. Pauli erteilt all jenen, die Unfrieden in jeder Form verbreiten wollen, eine klare Absage.“

Live in die Türkei übertragen

Vor dem Spiel gegen Remscheid hatte der Verein auf die neue Rechtslage hingewiesen. Man sah auch den damaligen Geschäftsführer Manfred Campe, wie er mit deutschen und türkischen Fans das Transparent Keinen Fußbreit den Faschisten über den Platz trug. Wenige Tage zuvor hatten Redakteure des Fanzines Millerntor Roar auf der Jahreshauptversammlung die Änderung der Stadionordnung initiiert, ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zum heute für selbstverständlich gehaltenen antirassistischen Konsens im Stadion. Der Millerntor Roar schrieb damals: „Diejenigen im St.-Pauli-Publikum, die sich durch das herrschende Klima ermuntert fühlen, auch am Millerntor ihrem Stammtisch-Rassismus freien Lauf zu lassen, haben von der Mitgliederversammlung und von den Fans eine klare Abfuhr erhalten.“ Um seine Haltung zu bekräftigen, stellte St. Pauli am 26. November noch ein Freundschaftsspiel gegen Galatasaray Istanbul unter das Motto Gegeneinander spielen – miteinander leben. In der Türkei spürte man, dass dieses Spiel angesichts des in Deutschland mittlerweile „herrschenden Klimas“ – wie es die Fanzine-Autoren formulierten – eine besondere Sache war. Das türkische Fernsehen übertrug die Partie live.

Das herrschende Klima – es war geprägt von neonazistischen Attacken im sächsischen Hoyerswerda, die im September 1991 mehrere Tage andauerten und Krawalle an rund 30 Orten nach sich zogen. Die rechtsextreme DVU holte am 29. September 1991 bei der Bürgerschaftswahl in Bremen 6,2 Prozent und zog erstmals in ein Landesparlament ein. Schon vorher war die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Liselotte Funcke (FDP), zurückgetreten. Sie sei „von den jahrelangen Auseinandersetzungen mit dem Innenministerium zermürbt“ gewesen und habe „angesichts der neuen ausländerfeindlichen Welle resigniert“, schreibt der Historiker Ulrich Herbert in seiner Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland.

In den deutschen Stadien hörte man um diese Zeit imitierte Affengeräusche, wenn aus Afrika stammende Spieler am Ball waren. Oder es flogen Bananen. Auf das von Staccato-haftem Klatschen untermalte „Sieg“-Gebrüll folgte ein resolutes „Heil“. Bezeichnenderweise zeigte sich an jenem Tag, als am Millerntor der antirassistische Paragraph Premiere hatte, 260 Kilometer nordöstlich von Hamburg, wie eng verflochten die neonazistische Szene mit Teilen des Fußball-Milieus war. Eine Liga weiter unten traf der Greifswalder SC (heute Greifswalder SV) auf den FC Berlin (heute BFC Dynamo). Als während des Spiels Asylbewerber aus einer nahe gelegenen Unterkunft ins Stadion kamen, attackierten Nazis aus beiden Fan-Lagern die Besucher. Die am Kampf gegen Ausländer stärker als am Spiel interessierten Anhänger jagten die Flüchtlinge zu ihrem Heim zurück. Einen Tag später mussten die Bewohner nach Schleswig-Holstein verlegt werden. Mit seinem antirassistischen Paragraphen mischte St. Pauli den Fußballbetrieb auf, der bis dahin dem Rechtsextremismus in den Stadien allenfalls Lippenbekenntnisse entgegenzusetzen hatte.

Mittlerweile sind solche Paragraphen in den Stadionordnungen gang und gäbe – auch das wohl ein Grund dafür, dass heute mancherorts nur noch Sieg! und nicht mehr Sieg Heil! gerufen wird. Aber Nachholbedarf gibt es hier und dort: beim Zweitligisten SC Paderborn etwa, der in seiner Stadionordnung einen konservativen Extremismus-Diskurs bedient und „links-, ausländer- und rechtsextreme Tendenzen“ für unerwünscht erklärt. In der dortigen Arena gilt, dass „Personen, die insbesondere von ihrem äußeren Erscheinungsbild in Zusammenhang mit ihrer politischen Einstellung den Eindruck einer extremen Haltung erwecken, von Veranstaltungen ausgeschlossen werden“ können.

Wie Staaten im Staate

Die 1991 vom FC St. Pauli verabschiedete Regelung markierte noch in anderer Hinsicht einen Einschnitt. Die Entscheidung wurde überwiegend von Fans getroffen. Heute ist es Normalität, dass sich Anhänger in ihrem Verein engagieren und versuchen, auf dessen Politik einzuwirken – 1991 jedoch hatte so etwas einen exotischen Touch. Was damals begann, war jedenfalls erfolgreich. Es gibt zwar immer noch Rassismus in den Stadien, aber in geringerem Ausmaß. Ob freilich der derzeit aktuelle fußballpolitische Kampf Erfolge zeitigen wird, ist schwer abzuschätzen. Der DFB und die Deutsche Fußball-Liga (DFL) begreifen sich als Staaten im Staat und halten es – um ein Beispiel zu nennen – für selbstverständlich, Strafen zu verhängen, wenn in einem Stadion, das oft genug direkt oder indirekt vom Steuerzahler mitfinanziert wurde, Meinungen präsentiert werden, die als anstößig gelten. So wurde der FC St. Pauli vor einigen Monaten verdonnert, 5.000 Euro zu zahlen, weil sich auf einem 174 Quadratmeter großen Riesentransparent eine zweit Meter große Comicfigur befand, die einen Schal mit der Aufschrift Bullenschweine trug. Der Verein hat die rechtlich so absurde wie haltlose Strafe akzeptiert.

Es ist ohnehin so, dass der in fußballpolitischen Dingen einflussreiche Klub sich im momentanen Streit um die Fan-Kultur nicht so verhält, wie ein Großteil seiner Anhänger sich das wünscht. Als die DFL vor Kurzem einen Maßnahmenkatalog mit dem irreführenden Titel Sicheres Stadionerlebnis präsentierte, reagierte das Präsidium der Hamburger mit einer windelweichen Stellungnahme, obwohl das DFL-Papier die Forderung enthält, vor den Stadien Container für sogenannte Nacktkontrollen einzurichten. Das ist eine der Passagen, die etwa den VfL Wolfsburg zu der Einschätzung veranlasste, „große inhaltliche Teile“ des Katalogs seien „rechtlich bedenklich, unverhältnismäßig“, dazu „praxisfern“. Das St.-Pauli-Präsidium schwadronierte hingegen, es erscheine „sinnvoll, bestimmte Grundsätze des ‚Fußballstrafrechts‘ zu konkretisieren“. Was gibt es da zu „konkretisieren“? Schließlich existiert ein Strafgesetzbuch, und zwar seit 140 Jahren.

Via Twitter äußerten St.-Pauli-Fans ihr Entsetzen darüber, dass sie sich mit der Position eines VW-Tochterunternehmens eher identifizieren können, als mit der des eigenen Präsidiums. So etwas hätte 1991, als Galatasaray am Millerntor spielte, niemand für möglich gehalten.

René Martens ist Autor der Bücher Wunder gibt es immer wieder. Die Geschichte des FC St. Pauli und Niemand siegt am Millerntor. Die Geschichte des legendären St.-Pauli-Stadions



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