Zugegeben, als mich die Anfrage erreichte, das Buch Corona Fehlalarm? zu besprechen, habe ich gezögert. Ich hatte noch nicht davon gehört, kannte weder Titel noch Autoren genauer, bin kein Mediziner und beschäftige mich ohnehin seit März schon viel zu viel mit dem Thema Corona. Dann las ich den nebenstehenden Text von Dirk Engelhardt und war verblüfft: Dieses Buch ist ein Phänomen.
Es folgte die schnelle Nachfrage bei meiner Buchhändlerin in einem gutbürgerlichen Berliner Vorort, stärkste Partei wurden hier bei der Europawahl im letzten Jahr die Grünen, wie und an wen sie das Buch verkaufe? Ihre prompte Antwort: Das Buch verkaufe sich „gut bis sehr gut“. Bei den Käufern sei alles dabei: „vom überzeugten Verschw
rzeugten Verschwörungstheoretiker mit Sendungsauftrag, der direkt zehn Stück bestellt, über den interessierten Rentner bis zum Normal-Käufer“.Der Titel hat offenbar einen Nerv getroffen, seine Auflage ist inzwischen sechsstellig, was selbst für ein populäres Sachbuch enorm ist. Es füllt anscheinend eine Leerstelle, die in den letzten Monaten entstanden ist, und mit der hohen Verbreitung bekommt es eine gesellschaftliche Relevanz, der man versuchen sollte, auf den Grund zu gehen, auch oder gerade weil der Freitag-Redakteur bei seiner Anfrage schrieb, dass die deutschen Leitmedien den Titel überhaupt nicht wahrgenommen hätten. Und Ignoranz ist nie ein guter Ratgeber.Was mich letztlich davon überzeugt hat, mich mit dem Titel zu beschäftigen, war die tadellose Vita seiner beiden Verfasser: die Biologin und Biochemikerin Karina Reiss ist seit 2008 Professorin an der Universität Kiel, der Facharzt Sucharit Bhakdi, 1946 in Washington, D.C. geboren, leitete über mehr als zwei Jahrzehnte das Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Universität Mainz. Warum sollte man an ein Werk aus solcher Feder nicht unvoreingenommen herangehen? Auch im Verlauf der Lektüre stellten sich eine ganze Reihe solcher Warum-Fragen, die, das sei vorweggenommen, auch nach gut 150 Seiten nicht alle eine Antwort fanden.Schon der Buchtitel ist in Frageform formuliert, das ist heute beliebt, auch in Zeitungsüberschriften, weil es eine Offenheit, Ambivalenz, Unentschiedenheit suggeriert, die sich im Text meist schnell zugunsten einer Seite auflöst. So auch im Fall von Corona Fehlalarm?. Denn Reiss und Bhakdi halten die von den staatlichen Stellen verfügten Maßnahmen zur Eindämmung des Sars-CoV2-Virus für unverhältnismäßig und Corona für einen Fehlalarm, für eine Überschussreaktion von Politikern und einigen Virologen. Beide bestreiten nicht die Gefährlichkeit des Virus, allerdings nicht für die Gesamtbevölkerung, sondern primär für ältere Menschen mit mindestens einer Vorerkrankung, wie Diabetes, Übergewicht oder Herz-Kreislauf-Problemen. Diese Risikogruppe, insbesondere in Alten- und Pflegeheimen, gelte es besonders zu schützen.Lob für StreeckInteressant ist auch die Einordung des neuartigen Corona-Virus in eine jüngere Zeitgeschichte dieser Virenfamilie, in die auch Sars (2003) und Mers (2012) gehören. Die Sterblichkeitsrate sei vergleichbar mit der einer saisonalen Grippe und die Kollateralschäden der Maßnahmen seien inzwischen sehr viel höher als deren Nutzen. Reiss und Bhakdi führen eine ganze Reihe von Gruppen an, für die das in besonderem Maße gilt: Kinder, ärmere und ältere Menschen, Personen mit psychischen Erkrankungen, Behinderte. Den Medien werfen die beiden Autoren vor, oft nicht zwischen dem Virus und der Viruserkrankung zu unterscheiden. So werden die Infektionszahlen tagtäglich verkündet und bei ihrem Ansteigen auf die Titelseiten gesetzt, ohne zu betonen, dass nicht jede Infektion auch zu einer schwerwiegenden Erkrankung mit Krankenhausaufenthalt oder gar Beatmung führt, vielmehr der überwiegende Teil der Ansteckungen symptomfrei verläuft.Die beiden Autoren kritisieren die Rolle des Robert-Koch-Instituts und seines Präsidenten Lothar Wieler (einer dem Gesundheitsministerium unterstellten Bundesoberbehörde mit einem Tierarzt an der Spitze, wie die Autoren betonen) und von Christian Drosten, der die politischen Entscheidungsträger dieses Landes einseitig beraten habe.Lob hingegen haben sie für Hendrik Streeck, den Bonner Virologen und Leiter der sogenannten Heinsberg-Studie. Für einen kurzen Moment blitzt beim Rezensenten der kontrafaktische Gedanke auf, wie die Krise wohl verlaufen wäre, wenn die Regierung noch in Bonn sitzen würde und sich dort vor Ort von Streeck hätte beraten lassen und nicht in Berlin, wo die politischen Entscheidungen und ihr Zustandekommen nicht nur im Fall von Corona von einer Kurzatmigkeit und Eigendynamik geprägt sind, die einen manchmal schwindeln lässt. Gelegenheit zum Innehalten, zur Reflexion und zur Selbstkritik lassen den Verantwortungsträgern dort weder die klassischen noch die neuen, sogenannten sozialen Medien. Nimmt das politisch-mediale Karussell erst einmal an Fahrt auf, ist es kaum noch zu stoppen. Das erklärt vielleicht zum Teil die Warum-Frage im Hinblick auf das Regierungshandeln.Reiss und Bhakdi benennen viele dieser Problempunkte, viele weitere reißen sie an. Als Referenzen führen die beiden Autoren ausschließlich Internetquellen an. Das Buch ist ein Schnellschuss des Verlages, und das ist nicht nur negativ gemeint. Aus ökonomischen Gründen ist es nachvollziehbar, gerade jetzt ein solches Werk auf den Markt zu bringen, wo es ein Momentum dafür gibt, das im Herbst längst von einem neuen Thema verdrängt worden sein kann, von dem weder die Buchverlage noch die Öffentlichkeit bereits jetzt etwas ahnen.Dennoch wünscht man sich bei der Lektüre mehr Tiefgang, eine differenziertere Argumentation, besser aufbereitete Daten und Fakten, gerade als Laie, der die mehr als 400 derzeit wöchentlich erscheinenden Corona-Studien weltweit ohnehin weder überblicken noch in ihrem wissenschaftlichen Aussagewert einschätzen kann. Gerade bei einem so sensiblen und kontroversen Reizthema hätte auch der eigene Ton weniger alarmistisch ausfallen können. Aber das macht wahrscheinlich den Erfolg dieses Buches aus, scheint es doch für eine Zielgruppe geschrieben, die sich ohnehin vor allem im Internet informiert und in den sogenannten sozialen Netzwerken ihre Hauptinformationsquelle hat und zu deren Rezeptionsgewohnheiten kurze Sätze, Wiederholungen und eine hohe, manchmal stakkatoartige Informationsdichte gehören. Das alles muss heute kein Nachteil sein, wie die Verkaufszahlen des Buches zeigen. Es soll hier nur als Leseeindruck konstatiert, jedoch nicht vom akademischen Elfenbeinturm und aus einer Elitenblase heraus bewertet werden.Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der vor einigen Wochen in einem viel kritisierten Interview davor warnte, den Wert des Lebens absolut zu setzten und die Verfassungsgüter Freiheit und körperliche Unversehrtheit gegeneinander auszuspielen, erinnerte kürzlich in einem anderen Gespräch, mit dem Spiegel, im Zusammenhang mit der Pandemie an eine Stelle aus Friedrich Schillers Lied von der Glocke, die als Motto auch dem Buch von Bhakdi und Reiss vorangestellt sein könnte: „ Gefährlich ist’s, den Leu zu wecken,/ Verderblich ist des Tigers Zahn; /Jedoch der schrecklichste der Schrecken, /Das ist der Mensch in seinem Wahn.“ Gewidmet aber ist das Buch dem gemeinsamen dreijährigen Sohn von Reiss und Bhakdi, geschrieben ist es mit der Absicht, dass sich die Geschichte der Coronavirus-Eindämmung im Jahr 2020 niemals wiederholt.Placeholder infobox-1
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