Da erscheint die 'Alte Tante', wie man die Neue Zürcher Zeitung bei uns in der Schweiz nennt, im neuen Kleid – und schon wird sie entführt. Einfach weg war sie gestern, weder im Hausflur noch vor der Tür zu finden. Und das am frühen Morgen! Ich als alter Abonnent (seit bald 20 Jahren) war doch schließlich gespannt, hatte ja mitbekommen, dass die Krise, die auch alte Tanten nicht schont, durch einen ausgeklügelten Umbau des Blattes bekämpft werden soll.
Da hatte unsereins natürlich das Schlimmste befürchtet, auf angenehme Überraschungen leise gehofft – und jetzt das: der Blick ins Nichts, die totale Enttäuschung. Sie am Kiosk zu kaufen, wäre dann doch unter der Würde des Alt-Abonnenten gewesen! Auch der Blick ins Internet brachte nichts, online ist alles beim Bewährten geblieben. Am Abend zu Hause, da tigerte man rum, griff in der Verzweiflung zu einem Buch von Robert Walser.
Und heute Morgen, shit, da lag sie tatsächlich da, die neue NZZ, wie immer vor der Tür. Der tägliche Bückling. Dreimal blättern, und man hat's begriffen: Die Neue Zürcher Zeitung sieht ja aus wie der "Tagi"! (Anm. des Übersetzers: Der Tagesanzeiger, zweite große Tageszeitung aus Zürich) Sie ist jetzt eine Zeitung wie alle andern auch. Titel, Bilder, Spalten, Werbung, das Inhaltsverzeichnis, eine Leserführung wie für Kinder.
Meine persönliche Modernisierungskrise hält sich dennoch in Grenzen, Relaunches, was sie auch immer betreffen, steckt man besser einfach weg. Wie weiter? Sie unterscheide sich von anderem – immer noch – signifikant, so verkündet der Chefredaktor, durch ihre Qualität. "Der Substanz mehr Ästhetik geben", versprach er. Das ist die Sprache der NZZ, die wir schätzen und kennen. Die Qualität wird also hoffentlich bleiben; auf einen Blick ersichtlich ist es nun nicht mehr.
Unser Autor lebt in Bern, wo er das leitet. Ausserdem unterrichtet Reto Sorg an der Universität Lausanne.Robert-Walser-Zentrum
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