Die Gitarre – vom Sein und Schein

PR mit der Virtuosität Auf der Suche nach der Wahrhaftigkeit anhand der Flamencogitarre

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Vor einiger Zeit bekam ich von einem Bekannten den YouTube-Link zu einem Gitarristen, ja, einem Ausnahmegitarristen, wie er sagte, der mich als Synonym für ein oft zu beobachtendes Ärgernis beschäftigte und zu einigen Gedanken Anlass gibt.

Vorab ist jedoch unbedingt zu sagen, dass ich die Musik/das Musik machen als die ursprünglichste zugängliche universelle Quelle zunächst bloßer energetischer Schwingungen und schließlich sublimiert identitätsstiftender Dimension als eine der herausragendsten kulturellen Fähigkeiten des Menschen begreife. Auf dieser Basis ist selbstverständlich alles erlaubt, was irgendwie Töne produziert. Und da sich über Geschmack bekanntlich nicht streiten lässt, soll es um solcherart Kategorien auch nicht gehen.

Das Thema ist anhand der (vornehmlich) akustischen Gitarre, vor allem auch der Flamenco-Gitarre der Widerspruch zwischen Sein und Schein im Hinblick auf instrumentale Fertigkeiten und den daraus resultierenden „Missverständnissen“ in Rezeption und Beurteilung. Und, verdammt nochmal, es geht auch irgendwie um „Gerechtigkeit“. Jawohl.

Zurück zu dem YouTube-Link: Es handelt sich um den (mir vorher völlig unbekannten) ukrainischen Gitarristen Estas Tonné, der überwiegend mit aus dem Flamenco entliehenen Techniken die phrygische Tonleiter hinauf- und hinab hangelt. Ja, ich war geradezu geschockt: Denn Tonné ist für die Tonne! Das ist wirklich ganz schrecklich. Es gibt vor allem auf der Gitarre (gelegentlich auch Klavier, Geige, natürlich auch der Panflöte) eine beharrliche Spezies Gitarristendarsteller, die wie im vorliegenden Fall mit viel Tamtam und Gedöns einen Gitarristenvirtuosen inszenieren wollen. Manche krebsen, wie Tonné, in der Straßen- und Kirchenkonzertliga herum, andere scheffeln mit dieser Illusionisten-Nummer ärgerlicherweise Millionen wie z.B. Ottmar Liebert. Alle eint jedoch, dass sie nur über eine bescheidene Grundtechnik verfügen und sich auf die wirklich schwierigen Techniken der verschiedenen Stile nie ernsthaft eingelassen haben. Ebenso eint sie ein „künstlerischer“ Habitus in Outfit und Gestik, der offenbar Außergewöhnliches verkünden soll. Das Spiel selbst begleitet dann gern eine wechselnd dramatisierend-meditative Gesichtsakrobatik. Multimillionär Liebert tritt z.B. gerne barfuss auf, um seine geradezu spirituelle Naturverbundenheit zu demonstrieren.

Aber kurz zu den trockenen technischen Fakten für diejenigen, die mit dem (akustischen) Instrument etwas vertraut sind. Tonné ist hier deshalb interessant, da er beispielhaft für viele andere seiner Zunft steht. Seine „Flamencotechniken“, vor allem seine Rasgueados wie generell seine seltsamen Klopf- und Scharrgeräusche auf dem leidenden Instrument sind zum Fremdschämen (für diese Art „Techniken“ hat sich ja das plastische Bild vom „Gitarre-Wichsen“ eingebürgert – international übrigens, in jeder Sprache). Im Ernst: Das ärgert natürlich, wenn man weiß, dass es Jahre braucht, diese Rasgueado-Techniken zu erlernen. Ebenso sind seine klassischen Grundtechniken recht mäßig. Und wie jeder Mensch, dem ein Sinnesorgan fehlt, dieses mit den verbleibenden Sinnen überkompensiert, so entwickelt jeder Gitarrist, dem entscheidende Techniken fehlen, eigene Techniken zur Überkompensation oder extendiert bereits vorhandene. Tonné macht das z.B. mit seinen Arpeggios so, da ihm die schnelle, flüssige a-m-i-Sextole fehlt. Dieses Manko versucht er nun mit über die schnelleren Arpeggio-Passagen seiner Stücke einseitig durchziehenden p-m-i-(seltener p-i-m)-Triolen auszugleichen. Eine sehr häufige Kompensationsmethode. Als eine sich selbst an diesem Instrument Mühende musste das gesagt sein.

Aber nochmal: Warum ist das Urteil über diesen Musiker, der sicher sehr vielen Menschen viel Freude schenkt so hart? Weil er nun einmal ein hervorragendes Symbol für viele Gitarristen ist, die sich als Virtuosen wahrgenommen sehen wollen. Und weil mich die Haltung bzw. Nicht-Haltung dahinter stört. Weil es Show ist. Weil es unehrlich ist. Und weil es ungerecht ist. Deswegen.

Jeder, der ehrliche Musik macht und sie nicht (nur) als Geschäftsmodell begreift, hat meinen ungeteilten Respekt! Es geht deshalb selbstverständlich nicht um den „Musiker“ an sich, es geht dezidiert um diejenigen Instrumentalisten, die für sich (und das tut ja Tonné), ich wiederhole, Virtuosität reklamieren.

Ottmar Liebert z.B. („Nouveau Flamenco“, „Luna Negra“) nannte immer wieder (den leider viel zu früh verstorbenen) Paco de Lucía als Quell seiner Inspiration – bis diesem der Kragen platzte: Er möchte seinen Namen nicht in Zusammenhang mit einer solchen Art von „degenerativem, karikaturhaften Flamenco“ erwähnt wissen, teilte er einmal mit. Der Südfranzose Manitas de Plata ist wohl einer der ersten gewesen, der Mitte des letzten Jahrhunderts diesen „Betrug“ an der Flamencomusik im großen Stil (außerhalb von Spanien natürlich) hoffähig machte. Er ist auch der Urvater aller in Flamencokreisen als „Rumbista“ geschmähten Gitarristen- und Formationen, die immer wieder, vor allem in den späten 80iger und 90iger Jahren weltweite Erfolge feierten (Gipsy Kings, auch gleich noch etwas zu denen). Manitas de Plata allerdings war definitiv ein Virtuose seines Instruments, das soll zu seiner Ehre gesagt sein. So konnte er ja auch Zeitgenossen wie Pablo Picasso oder Salvador Dalí zu seinen begeisterten Mäzenen zählen. De Platas „Betrug“ war und ist heute bei allen seinen vielen Nachfolgern nach wie vor der gleiche: Die Umgehung des für den Flamenco zwingenden compás, dem rhythmischen Korsett, das sozusagen das Herz des Flamencos und damit seine Identität ist. Im compás zu spielen braucht nun einmal viele Jahre konsequenter Übung… Aber solange der Flamenco-Laie keinen Unterschied hört: Warum sich dann Jahre lang für nix abrackern? Die Gipsy Kings (in denen neben dem Reyes-Clan auch Manitas Söhne mitwirken) haben diesem „Betrug“ dann endgültig zur weltweiten Akzeptanz und Ruhm verholfen. Doch andererseits: So streng darf man freilich nicht sein, denn diese spielten als klassische Rumbista zu über 90% immer nur Rumba gitana, die keinen compás kennt. Jedoch bleibt bei dieser wie auch jeder anderen Formation oder Gitarristen der Rumbista das unangenehme Gefühl, dass ein (ursprünglich flamencofremder) Stil wie die Rumba, die gerade mal etwa 1,5 % aller Flamencostile ausmacht (wenn man sie, wie gesagt, überhaupt dazu zählen will) unter dem Label Flamenco verkauft wird. Und sich natürlich auch unter diesem Label in die internationalen Ohren eingebrannt hat. Aber wie gesagt, hier sollte Milde walten. Schließlich wurde Paco de Lucía auch erst durch seine Rumba „Entre dos aguas“ bekannt und nicht durch einen, den ausländischen Hörer mit quälenden Melismen traktierenden cante jondo als Begleitgitarrist von Camarón de la Isla.

Ich selbst habe diesen Flamenco-Pop der Gipsy Kings immer sehr gerne gehört. Das war einfach gut gemachte, leichte Musik mit dem Touch Melancholie, den ich mochte. Nicolas Reyes, der Sänger der Gipsy Kings, der, der in seinen Texten sogar einen wunderbaren andalusischen Zungenschlag zelebriert, spricht übrigens überhaupt kein spanisch! Ich finde das umwerfend. Aber gut, er ist nunmal Franzose.

Um vom Flamenco wegzukommen: Carlos Santana ist gitarristisch gesehen ja auch ein Phänomen. Jeder, der ein bisschen was von der Gitarre versteht, sah und hörte ja von Beginn an, dass der Mann über nicht wirklich außergewöhnliche technische Möglichkeiten auf der E-Gitarre verfügt. Um es mal so zu sagen. Was sich auch nach über 40 Jahren nicht geändert hat. Aber warum auch? Bei dem Sound! Zum Hinknien! Ich meine vor allem die Zeit von Ende der 60er bis Ende der 70er. Es zeigt jedenfalls, dass Technik natürlich nicht alles ist – vor allem im Rock und Pop. David Gilmour von Pink Floyd oder Andy Powell von Wishbone Ash u.v.a.m haben immer wieder deutlich hörbar gemacht, welch fantastischer individueller Sound in Rock-/Jazz-Musiken entstehen kann, wenn die Gitarretechnik zweitrangig wird. Joe Pass oder Pat Matheny: Drei Töne – und man weiß, wer…

Gut, übel nehmen tue ich dem Carlos Santana schon persönlich, dass er sich von dieser Lachnummer Ottmar Liebert hatte ködern lassen und auf einem von dessen Alben mitspielt.

Besonders innerhalb der akustischen Gitarre als Soloinstrument bzw. als dominierendem Ensemble-Instrument finden sich immer wieder Instrumentalisten, die verschiedene Stile und Techniken in ihren Kompositionen mischen und solch Mixtur dann als Fusion, Weltmusik, New Age oder sonstwie bezeichnen (auch Tonné gehört dazu). Hier fühlen sich geradezu magisch angezogen auch alle jene Gitarristen, die mit mageren instrumentalen Fertigkeiten, aber dafür umso größerem Sendungsbewusstsein Gehör finden wollen. Das finde ich in Ordnung. Es gibt ja auch Hervorragendes unter diesen Labels zu finden! Man muss nur unterscheiden lernen. Denn natürlich: Mit nur zwei Harmonien, einer klaren rhythmischen Linie und fünf Tönen Melodie lassen sich Wunderwerke der Schönheit, der Innerlichkeit und einer großen Musikalität intonieren, die berühren und tiefe Wirkung entfalten können. Dazu braucht es eigentlich nichts (jedenfalls keine große Technik) – und doch ALLES.

Doch eben gerade auch an dieser Stelle haben wir es oft mit einer oft ärgerlichen Spreizung zwischen Sein und Schein zu tun. Denn das Problematische an dieser Kategorie, die ja PR-technisch gesehen auf das – freilich immer positiv besetzte - Sprengen von den (engen) Grenzen stilistischer „Einseitigkeit“ hinweisen soll, ist in vielen Fällen allerdings nichts weiter als die Unterschlagung der eigenen Begrenzung als Ursache. Es wird nur sehr, sehr wenige Gitarristen geben (ich meine selbstverständlich wieder nur diejenigen, die mehr oder weniger als Virtuosen ihres Instruments wahrgenommen werden wollen), die einst ihre Praktika am Instrument mit dem Ziel begannen, Weltmusik zu machen. In der Regel standen auch hier der Wunsch und die Hoffnung an erster Stelle, sich in der Kunst des Gitarrespiels so weit als möglich zu vervollkommnen. Die Abbiegestelle in den die „Stile überwindenden“ unendlichen Kosmos der Musik ist dann freilich von recht banaler Natur. Und last not least schützt derselbe Kosmos schließlich vor jeglicher eventuellen Kritik daran, einzelne Techniken nur rudimentär zu beherrschen.

Ich verstehe mich hier als Anwältin derer, die Tag für Tag stundenlang in ihrem Kämmerchen üben, um sich echte (!) und nicht inszenierte Hardcore-Techniken draufzuschaffen und sich z.B. im Flamenco in die Fesseln des compás oder in der Klassik in die dort geforderten Techniken zu begeben. Das kostet alles viel, viel Zeit. Ich kenne in Spanien und Südamerika viele Dutzend hervorragender Gitarristen, die eigentlich auf die größten Bühnen gehörten, sich aber leider völlig unbekannt mit übelsten Jobs über Wasser halten müssen. Dasselbe gilt in verstärktem Maße freilich für die klassische Gitarre. Und dieser bittere Umstand wässert selbstverständlich meine Ressentiments gegenüber den genannten Blendern.

Aber auch das ist klar: Klappern gehört zum Geschäft. Musik ist eben (auch) Unterhaltung, ist Show, im Symphoniekonzert wie auf der Straße. Schein als Sein auszugeben muss ein Stück weit legitim sein. Und wenn’s dem Publikum gefällt, dann ist dies der einzig relevante Gradmesser. Natürlich.

Die Kritik ist eh nie relevant, war sie nie und wird es nie sein. Da kann sich, als Beispiel für den Buchhandel, die internationale Kritik völlig einig sein, dass Paolo Coelho ein mäßiger Schriftsteller ist; über 130.000.000 Buchkäufer sahen und sehen das anders. Punkt. Das zählt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Reyes Carrillo

Argentinische Kinder- und Jugendpsychologin. Lebt in zweiter Inkarnation in Deutschland. Selbsttherapie: Polemiken verfassen

Reyes Carrillo

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