Friede Freude Eierkuchen für Europa

RR „We have beaten die Germans twice! Now they're back!“ Entrüstete sich Margaret Thatcher angeblich vor 25 Jahren. Und heute? Sind wir Darling oder Arschloch? Eine Glosse

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Griechenland. Die deutsche Hartz-Logik funktioniert inzwischen auch im Umgang mit Europas Staaten: Misstrauen, Kontrolle, Bevormundung, Sanktionen, Armut. Wer zu den unwürdigen Hilfeempfängern zählt, wer also im Verdacht steht, eine umfassende Arbeitsmoral nicht verinnerlicht zu haben, wer an „unser Geld“ will, hat ununterbrochen Demuts- und Unterwerfungsgesten zu produzieren. Sie sollen den Willen der Betroffenen brechen und ausreichend Qualen produzieren, um Nachahmer abzuschrecken. Bei „würdigen“ Empfängern dagegen, und davon gibt es viele, ist der Staat nicht so kleinlich. Wer das Glück hat, zu den feinen Kreisen mit den guten Beziehungen zu gehören, wer dank großzügiger Umverteilungspolitik in die richtige Richtung ganz von allein profitiert, wer sich dank laxer Gesetze legal bedienen und bereichern kann, hat nichts oder wenig zu befürchten. Wen das System begünstigt, der ist fein raus. Wer „big“ ist, dem wird gegeben.

Wenn die Reichen reicher werden, muss auch der Arme ein bisschen mehr haben, so lautete auf den Punkt gebracht John Rawls' (1921-2002) populäres Kurzrezept für ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit. Doch das bleibt graue Theorie, obwohl sich gerade SPD-Politiker (P. Steinbrück, G. Schröder, K. Lauterbach) mit der Kenntnis dieses Philosophen gern schmücken.

Lernen aus der Vergangenheit?

Seit Jahrzehnten pflegen wir in sentimentaler Selbstbeweihräucherung eine politische Symbolik, deren Botschaft lautet: Wir haben aus der Vergangenheit gelernt. Was wir gelernt haben nach dem Bankrott am Ende des „Dritten Reiches“, hat mit dem Wirtschaftswunder angefangen. Moralisch hat keiner mehr einen Pfifferling auf uns gegeben, aber wir haben uns da rausgekämpft, wir mit unserer sagenhaften wirtschaftlichen Tüchtigkeit, wir: die ebenso bösen wie genialen Deutschen. An diesem Mythos hat sich der öffentliche Diskurs aufgerichtet, ein neues Selbstbild darauf aufgebaut, eine gesellschaftliche Erzählung gesponnen. Man achtete uns zwar nicht als Menschen, aber man hatte Respekt vor unserem Geld. Wenn wir mit der dicken Kohle in der Tasche in fremde Länder kamen, dann haben sich die anderen verbeugt und kleingemacht, zähneknirschend zwar und hinter unserem Rücken Verwünschungen ausstoßend, aber wir durften uns breitmachen.

Diese Wahrnehmung der Geschichte hat sich in unser kollektives Gedächtnis eingegraben. Durch Arbeiten und Sparen sind wir wieder was geworden, das ist unser Rezept und unser Triumph. Alles andere passt nicht ins Bild und muss weg retuschiert werden. Wir waren arm an Moral und reich an Geld. Und mit dem Geld haben wir uns Stück für Stück neues Ansehen gekauft. In der Tiefe unseres kollektiven Bewusstseins haben wir nie an Versöhnung geglaubt, jedenfalls nicht an Versöhnung um der Versöhnung willen. Wir kennen nur ein Motiv: Andere wollten von unserem Reichtum profitieren, deshalb durften wir unser moralisches Mäntelchen wieder flicken. Nicht jeder glaubt an diese Geschichte, aber vielen erleichtert sie den Blick in den Abgrund. Und sie liefert das Material für einen Stolz, für den man sonst keine Begründung weiß.

Wenn der Mann mit den angeblich durchdringenden blauen Augen und der knarrenden Stimme wieder auftauchen würde, wären heute vielleicht alle gewappnet. Vielleicht würde es dann wirklich einen Aufschrei geben, vielleicht würden wir uns schützend vor die Bedrängten stellen, vielleicht unsere tollen Jobs, die Karrieren unserer Kinder, unsere Posten und Positionen, womöglich Leben und Sicherheit riskieren, allzu optimistisch sollte man nicht sein. Aber er kommt nicht wieder. Denn wenn die Geschichte sich überhaupt wiederholt, was eine Sache der Interpretation und nicht der Empirie ist, dann nicht in Personen sondern allenfalls in Strukturen. Man stelle sich folgende Schlagzeile vor: „Faule Juden wollen an unser Geld !!!“ „Pleite-Juden plündern Geldautomaten !!!“ - Völlig unmöglich. Undenkbar. Ein Sturm der Entrüstung würde durch das Land und die Verantwortlichen hinweg fegen. Geht es dagegen um Fremdbilder notorisch eitler, gespreizter, leichtlebiger Südeuropäer, die ständig Pause machen statt morgens um fünf unter die kalte Dusche zu springen, dann ist die Lust an der Kaltschnäuzigkeit, am Spiel mit der eigenen Niedertracht längst zurückgekehrt, dann zetern bloß noch ein paar verschnupfte Intellektuelle über mediale Einseitigkeit, über Stereotypen und den nutzlosen Pomp diverser Gipfeltreffen.

Eigen- und Fremdbilder

Auch die Wiedervereinigung, auf die sich Thatchers Ausspruch bezog, wurde nur unter Geldaspekten abgewickelt und einer rein ökonomischen Logik unterworfen. Heute scheint sich kaum noch jemand erinnern zu wollen, dass vor etwa 25 Jahren in allen Talkshows, auf allen Kanälen, quer durch den Blätterwald genüsslich bis ausfallend über das neu erwachte Anspruchsdenken der Ostdeutschen und deren defizitäre sozialistische Arbeitsmoral endlos geeifert und infernalisch hergezogen wurde. „Faule Ossis in der sozialen Hängematte verprassen unser Geld“, so oder so ähnlich klang es lautstark von allen Seiten. Ein paar Ossiversteher, die natürlich auch dabeisein mussten, hatten einen schweren Stand. Auch damals stand eine aufgeblasene Sorge um (west-)deutsches Steuergeld im Vordergrund.

Zwei Hauptlinien des verbalen Angriffs gab es, mit denen ökonomische und moralische Aspekte verknüpft wurden: Die erste lief darauf hinaus, dass, wer aus dem sozialistisch verkorksten Osten kam, nichts von der Marktwirtschaft und erst recht nichts vom Arbeiten verstand, beides den Unbedarften also logischerweise von klügeren Menschen erst beigebracht werden musste, was als Rechtfertigung diente, dass es „keine Alternative“ zu westlichen Vorstellungen gab. Die andere untermauerte diesen Anspruch durch die diffus verbreitete Vorstellung, dass im Osten sowieso alle irgendwie bei der Stasi gewesen waren, also doppelt unwürdig, kein Geld und keine Moral, weshalb sie dankbar sein sollten, dass man ihnen überhaupt ein Stück Brot zum Fressen hinwarf.

Das alles hat sich am Ende wie selbstverständlich, wie zwangsläufig vollzogen, wenn auch von lautstarken Streitgesprächen begleitet. Man kann sich nicht mehr vorstellen, wie es anders hätte laufen können. Hat man den Weg A eingeschlagen, lässt sich nie mehr feststellen, wie der Weg B ausgesehen oder wohin er geführt hätte. Aber wenn das Ergebnis zu stimmen scheint, spielt der Weg dann überhaupt eine Rolle? Noch Jahre später erkennen wir, welche Spuren unser Weg A in der Mentalitäts- und Wirtschaftsgeschichte und nicht zuletzt in den Besitzstandsregistern des Ostens hinterlassen hat. Bis heute hört man, sobald Ostdeutsche zur Wiedervereinigung zu Wort kommen, den stillen, aber hartnäckigen Vorwurf heraus, dass westliche Politik und westliche Wirtschaftsmacht ihnen das Heft aus der Hand genommen und ihre Ideale gewissermaßen verscherbelt, in Richtung Westen zu Geld gemacht hätten.

Wir, die hässlich tüchtigen Deutschen

Sind wir also wieder da, wir hässlichen, rassistisch und hegemonial gesinnten Deutschen, so penetrant tüchtig und effizient, dass uns einfach nicht zu trauen ist? Es gibt uns auf jeden Fall in der Vorstellung der anderen, wer immer die sind, als Fremdbild, vielleicht auch als Feindbild, auch wenn es gelegentlich politische Taktik sein mag, alte Ressentiments wie einen Joker aus der Tasche zu ziehen. Aber es gibt ihn natürlich auch in unserer eigenen Vorstellung, als Selbstbild, als letzter kollektiver Rest eines historischen Unbehagens, woran uns die Mahner regelmäßig erinnern: ein Ritual, das immer wieder beschworen werden muss. Auch in der Bekundung unseres Abscheus vor jener Etappe unserer Geschichte, mit der wir uns bauchnabelreibend von anderen abgrenzen, möchten wir der Meister aller Meister sein. Und womöglich gehört es ganz einfach aufgrund von Größe und Lage zu unserer Rolle dazu, immer irgendwie verdächtig zu wirken.

Dadurch verstärkt sich jedoch die Logik, dass abweichende Ziele der wirtschaftlichen Dominanz geopfert und untergeordnet werden müssen, aller Ehrgeiz auf die gebetsmühlenartig zitierte „Wettbewerbsfähigkeit“ gerichtet ist und das kapitalistische Zentrifugalsystem, das bei steter Beschleunigung des Wettbewerbs die schwächsten Marktteilnehmer zuverlässig ausschleudert, kritiklos verherrlicht wird. Denn ein Fall von dem Podest, auf dem wir uns mit neuem Hochgefühl ganz in der Pose großartiger Bescheidenheit eingerichtet haben, könnte schmerzhaft und so furchtbar ernüchternd für unser Selbstbild sein.

Die Krise, die Krise, die Krise ….

Es wird keine 25 Jahre dauern, bis sich die Wolken über Athen verzogen haben werden, wie immer und überall werden sich Menschen notgedrungen in den Verhältnissen einrichten, auf die Zukunft hoffen oder auf Gott oder einfach darauf, dass die Sonne täglich neu aufgeht. Andere Ereignisse, andere Katastrophen, andere Skandale beherrschen die Tagesordnung, die eine Zitrone ist ausgequetscht, bis zum Ausbruch der nächsten „Krise“ gehört heute, morgen, vielleicht übermorgen den Flüchtlingskarawanen das Medienland: Dunkelheit, zwei Sekunden gleißendes Licht, Dunkelheit.

Was sich als „Griechenland-Rettung“ abgespielt hat, bleibt diffus, trotz des schrillen Dauertones der Medien über Wochen hinweg. Das geographische Europa rückt näher, das politische entfernt sich, jeder für sich und alle gegen einen, so sah es aus. Etwas Labyrinthisches haftet den Entscheidungen an: Wer was wann warum, in welchem Gremium und welcher Institution mit welcher Autorität beschließt oder beschlossen hat, wer überhaupt für wen mit welcher Legitimation spricht - anscheinend sollen die Bürgerinnen und Bürger Europas das nicht wirklich verstehen. Handelnde verschwinden oder verschanzen sich hinter Gremien und Institutionen; Gremien und Institutionen verschwinden hinter der Polit-Prominenz und dem Votum der Blitzlichter. Was es nicht gibt, ist die geordnete, öffentliche, europäische Aussprache, in der Argumente gebündelt und vorgetragen werden.

Zukünftige „Rettungen“ wird man zweifellos geräuschloser verwalten, ohne schockierende Blicke durchs Schlüsselloch und ohne die vulgären Zutaten der Schlammschlacht. Dennoch: ein Ziel wurde erreicht, aber nur Eingeweihte scheinen genau zu wissen, welches es war. Und auch für die Beseitigung diverser Schuldenberge wird man diskrete Lösungen finden: Auf einem noch fernen Gipfel der Zukunft tauscht man politisches Entgegenkommen auf der einen Seite gegen den einen oder anderen Schuldenerlass auf der anderen Seite ein, was in der Berichterstattung dann bloß noch als Fußnote erscheint. Seit es ständig um Milliarden geht, ist des Steuerzahlers viel zitiertes Geld irreal geworden, ein Buchungsvorgang, der mit einem Handgriff auf der Tastatur erledigt werden kann. Wenn die Mächtigen es denn so wollen ....

Zuviel Bürokratisierung oder zuviel Personalisierung, zuviel Apparat oder zuviel Roter Teppich, selten wirkte Politik so grotesk inszeniert wie in den Tagen der „Griechenland-Rettung“. Nur der Prozess öffentlicher Skandalisierung folgte bewährten, bereits bekannten Mustern staatstragender Rhetorik: An Arbeiten und Sparen soll Europa genesen. Erst sehr viel später wird man sich vielleicht auch in Richtung Griechenland eine sparsame Dosis reuiger Zerknirschung gönnen: Sorry, der Rudelzwang verhinderte Sachlichkeit. Eines ist unübersehbar: Der Versuch, die Weichen in Europa nach links zu verschieben, ist erstmal gründlich gescheitert.

Regieren wie auf Rosen gebettet

Ob und wann die Muster nationaler Selbstbehauptung verblassen werden, ist wieder eine viel diskutierte Frage. Und noch eine andere Frage schält sich aus den Konvulsionen der letzten Wochen heraus: Warum macht nie jemand Angela Merkel das Regieren ein bisschen schwerer? Lohnt sich das nicht mangels Aussicht auf Erfolg oder gibt es nichts zu verbessern, wie ein Rufer aus der SPD forsch behauptete. Gab es je einen Kanzler von der Gründung der BRD bis heute, der so wenig Feinde hatte, so wenig Widerstand aus den eigenen Reihen erfuhr, sich kaum einer Opposition, keiner hartnäckig nörgelnden Presse zu erwehren hatte, der von einer Welle allgemeiner Zustimmung und Wertschätzung getragen, um nicht zu sagen wie auf Rosen gebettet, regieren konnte?

Ein paar bekümmerte Abweichler in Sachen Griechenland - nun ja; eine CSU, die über zuviel Flüchtlinge murrt - gibt sich wieder; Kommentatoren, denen ihr kritisches Geschäft fast peinlich zu sein scheint - putzt sie sich mit links von der Backe. Immerhin hat die Kanzlerin neulich eine Flüchtlingsunterkunft besucht, hat sich persönlich überzeugt, „dass hier sehr akkurat gearbeitet wird“, ist ins Schwärmen gekommen, wie sehr es sich lohne, „sich um jedes einzelne Kind zu bemühen“. Kein Wunder also, dass alles nur darauf zu warten scheint, sie bald wieder ungestört anhimmeln zu dürfen.

Einst wurde Brandt von Wehner attackiert, Schröder wusste sich nur mit „Basta“-Politik zu helfen, und Kohl, der „Kohlkopf“, wurde derart mit Häme überhäuft, dass selbst Nicht-Kohlianer schon mal Mitleid verspürten. Ausländische Medien tobten über die deutsche Sparpolitik, über das „buchhalterische Deutschland“ (Le Figaro), das eine „Beggar-thy-neighbor“-Politik (Social Europe) betreibe, aber an Merkel alias Teflon prallte alles ab.

Dann breitete sie kurz die Arme aus, ihr Mühseligen und Beladenen kommt zu uns, „wir schaffen das“, was zu einem Freudentaumel führte, den eine englische Zeitung „heart-warming“ fand (The Telegraph). Und wau, Merkel zeigt Emotionen, auch das wurde tausendmal vermerkt. Aber in Wochenfrist ging es vorüber und sie war wieder die Alte.

Es ist ihr Image, die dosierte Verkörperung einer bei vielen Deutschen überaus beliebten Kultur des Kargen und Genügsamen, womit sie einen Nerv in der Bevölkerung trifft, einen phänomenologischen Typus aus dem kollektiven Gedächtnis abruft, der schon lange darauf gewartet hat, wieder geweckt zu werden: Arbeiten und Sparen, diese ureigensten, großartigsten Tugenden der Deutschen, versprechen endlich wieder höchsten Lustgewinn. Jene Phase, in der Kohl gegen die „Freizeitgesellschaft“ wettern musste, ist endgültig passé: die Arbeitnehmerschaft ist gezähmt, ein neues „Metropolis“ zieht herauf.

Arbeiten und Sparen, das ist unser Bollwerk gegen die anstürmende Nach-Post-Moderne mit ihrer Technisierung und Globalisierung, mit der Rund-um-die-Uhr-Kommunikation, mit dem kritischen Konsumenten, dem Fitsein, dem Aktivsein, dem Drill am Arbeitsplatz, dem Dauerfeuer schlimmster Katastrophen weltweit, und es ist unsere Kanzlerin Angela Merkel, die all dies mit einer gewissen Biedermeierlichkeit einhegt und überschaubar macht. Und dafür sind ihr viele Bürgerinnen und Bürger sehr, sehr dankbar, auch wenn klar ist, dass das ständige Höher-Schneller-Weiter des Wettbewerbs immer mehr Fliegen irgendwann brutal an die Wand klatschen wird.

Die Botschaft lautet: Erstens, es geht uns gut und um unseren Wohlstand ist es bestens bestellt. Zweitens: An unserer geliebten „Sozialen Marktwirtschaft“ wird nicht gezweifelt und nicht herumgemäkelt sondern dem Unternehmertum möglichst freie Hand gelassen, hier und vor allem weltweit. Und drittens: Wir haben es uns verdient!

Zwar scheint die Welt vor unserem Gartentor permanent in Aufruhr zu sein, zwar setzen die Armen und Verirrten da draußen zum Äußersten entschlossen zum Sturm auf die Festung Europa an, aber wir müssen nicht teilen und unser Marktverhalten nicht ändern. Sparen für den Konsum ja, aber nicht Sparen am Konsum und an der Ressourcenverschwendung, am Ausnutzen von Marktmacht.

Hat uns einer was geschenkt, ist uns was in den Schoß gefallen, hat uns jemand gefragt?

Nein!

Waren wir solche Schlappschwänze, solche Weicheier, verwöhnt bis zum gehtnichtmehr? Nein! Wir haben uns da rausgekämpft, wir: die genialen Deutschen, wir haben aus unserer Niederlage etwas Großes gemacht, obwohl wir doch nichts dafür konnten …

Darf man selber wie die Made im Speck leben wollen, während andere um uns herum verkommen, verkümmern, verzweifeln? Darf man diesen verwehren, dahin zu gehen, wo es, wenn auch nicht für jeden, alles im Überfluss gibt, wo geprasst und verschwendet wird, dass die Mülltonnen nur so überquellen? Darf man vergessen, dass auch andere Eltern ihre Kinder am Leben erhalten wollen, dass milde Gaben, die netten Gesten des Überschwangs nicht reichen? Darf man aufhören zu fragen, warum die einen immer die Rosinen, die anderen die Arschkarte haben? Die Antwort lautet: Ja, man darf! Man darf, wenn der eigene Wohlstand ein verdienter Wohlstand ist, wenn man ein würdiger Empfänger seines Wohlstandes ist, wenn der Wohlstand auf Arbeiten und Sparen beruht. Dann darf man sagen, ja sogar laut schreien: Ihr Habenichtse aller Länder bleibt gefälligst zuhause oder verschwindet dahin, wo ihr hergekommen seid!

Ein Übermaß an Harmoniebedürfnis

Manchmal beginnt man sich im eigenen Land fremd zu fühlen. Kann es wirklich sein, dass der Zustand unserer Wirtschaft so viele Menschen derart glücklich und zufrieden stimmt, dass die Verkündung positiver Wirtschaftsdaten die öffentliche Meinung in regelmäßigen Abständen verzückt aufjauchzen lässt? Es scheint insbesondere eine Spezialität öffentlich-rechtlicher und anderer Meinungsführer zu sein, dies unentwegt zu suggerieren und den Realitätskuchen in Minihäppchen verpackt auf dem großen Gefühls-Buffet zu servieren, auch wenn stets eifrig das kritische Geschäft betont wird. Thomas Mann wählte einst den Begriff der „Verhunzung“, um dem Einbruch des Irrational-Grausamen und Brutalen in eine gepflegt kulturelle Welt einen Namen zu geben. Ein hilflos ohnmächtiger Versuch.

Ist die Sprache, die wir politisch-medial verwenden und vernehmen, den Möglichkeiten der Politik einigermaßen angemessen? Wie ist es um jene bestellt, denen sich der eigene Erfahrungsraum nicht als Konsum-Paradies präsentiert, deren Wahrnehmung sich nicht im medial angeheizten Betroffenheitswahn, im Gefühligen erschöpft, die anderen Realitäten begegnen? Leiden die an einem überdimensionierten Problembewusstsein, sind das nur einige wenige Kaputte, Gescheiterte, notorische Neinsager, die nicht sehen wollen, was für alle anderen offensichtlich ist? Nämlich: Wem es hier nicht gutgeht, wer hier was auszusetzen hat, der kommt nirgends zurecht, der hat ein ganz individuelles Problem, der gehört ganz einfach nicht zu uns, der ist selber schuld! Oder ist es andersherum so, dass das politische Terrain, das Geflecht von Verpflichtungen, die Eigengesetzlichkeit des Apparates, die Pfadabhängigkeit des Politischen, ist das alles viel zu komplex, als dass man den Mächtigen zumuten könnte, sich auf das Niveau von Nobodies herabzulassen, auch wenn sie denen womöglich ihr Mandat verdanken? Müssen unsere Eliten und Spitzenkräfte mehr aus der Not heraus denn vorsätzlich dem Publikum etwas vormachen, um arbeitsfähig und ggf. wählbar zu bleiben?

Es scheint Ewigkeiten herzusein, dass in alternativ und gesellschaftskritisch angehauchten Subkulturen mit spöttisch plakativer Witzelei über „Friede Freude Eierkuchen“ gegen alles polemisiert wurde, was im Verdacht stand, ein Übermaß an Harmoniebedürfnis zu verbreiten. Heute hat die Kanzlerin persönlich die Aufgabe übernommen, den Harmoniesehnsuchtspegel ihrer Landsleute zu stimulieren und in die Höhe zu treiben. Wenn wir nur alle arbeiten und sparen, wenn nur alle bereit sind, für ein möglichst großes Wirtschaftswachstum tagaus tagein die immer gleichen Phrasen geduldig zu ertragen und in ganz Europa weiterzuverbreiten, wenn sich nur möglichst viele ein bisschen engagieren und ganz lieb zu denjenigen unter den fremden Menschen sind, die helfen sollen, den Arbeitsmarkt flüssig und die Löhne niedrig zu halten, dann wird hier unser Wohlstand bewahrt, dann ist hier die Idylle ausgebrochen, dann sind wir unerwartet auf der Insel der Glückseligen angekommen.

Schreit einer laut auf, schlägt jemand um sich: Nein, alles falsch, das geht so nicht, diese Mischung aus Rührseligkeit und Berechnung ist abstoßend?

Natürlich nicht.

Die Kanzlerin hat gesprochen. Und alle loben sie, alle sind ergriffen, alle fühlen sich gut. Oder jedenfalls ist es das, was das Publikum hört und sieht. Das Anti-Merkelsche? Alles buh, alles pfui …

Gäbe es nicht die weiten Halden des Internets, man könnte glauben, es gibt gar keine „Andersdenkenden“ mehr. Es gibt nur noch Kuscheltiere und alle Stachelschweine sind tot. Im Weihrauch umgekommen.

Die SPD als Ewig-Zweiter

Ein großes Land mit 80% Regierung und 20% Opposition ist Eierkuchen pur, wie er fantasie- und alternativloser kaum sein könnte, auch wenn die 20%-Opposition sich zweifellos Mühe gibt, die parlamentarische Denkfaulheit in Grenzen zu halten. Seit das Publikum nur noch den Weg A kennen darf, verengt sich die politische Vorstellungskraft, verflüchtigt sich am Ende der Sinn des Wahlaktes. Mag ja sein, dass die Kanzlerin einen tollen Job macht, dass sie die beste Kanzlerin aller Zeiten ist, als belächeltes „Trampeltier“ hat sie angefangen und es allen gezeigt, eine tolle Leistung, ja klar, man gönnt ihr durchaus, was sie sich erarbeitet hat, auch wenn sie immer erst dann an der Spitze der Bewegung auftaucht, wenn die schon vor unserer Haustür steht, - aber wäre es nicht trotzdem schön, könnte man etwas mehr vergleichen, gäbe es ein Gegengewicht zu ihrer übermächtigen Erdenschwere, gäbe es womöglich gar einen Hauch von Idee in einem Kosmos von Zahlen, es wäre eine Wohltat.

Doch Aussicht auf Besserung ist nicht in Sicht, da die Sozialdemokraten es inzwischen viel entspannter finden, nur der kleinere Koalitionspartner zu sein. Das Kalkül ist nachvollziehbar: Kanzler kann es ohnehin nur einen bzw. eine geben, dafür gibt es auch für den Steigbügelhalter attraktive Ministerposten und jede Menge anderer begehrter Positionen zu besetzen. Die Angst, ein neuer Schröder könne hervortreten, lastet auf der Partei wie Blei. Das historische Projekt der SPD, den Elitenwandel zu betreiben, es ist verloren gegangen. Die Arbeiter-, dann die Arbeitnehmerschaft, sie haben es aus ihren engen Milieus mit Hilfe der SPD in die anerkannte Mitte der Gesellschaft geschafft. Aber nicht wirklich weiter.

Nach mehr Aufstiegsmobilität und sozialer Durchlässigkeit der Gesellschaft zu verlangen, wirkt zunehmend wie der Griff in die Mottenkiste. Bildung als Verhikel des Aufstiegs bleibt eine Fata Morgana. Wenn eine Partei vom historischen Format der SPD kaum Ehrgeiz zeigt, in der politischen Arena wieder an die Spitze zu wollen, sich stattdessen lauwarm in der Rolle des ewigen Zweiten einzurichten sucht, Leuten nachhechelt, die immer ein Haar in der Suppe finden, wenn es um „Sozen und Rote“ geht, verstärkt sich in der Gesellschaft der Eindruck, alles sei vorherbestimmt, jeder an seinem Platz, aber bloß nicht höher hinaus, denn dort ist alles besetzt von denen, die nicht nur schon immer da waren, sondern die es auch besser können, die doch eigentlich ganz angenehme Verhältnisse geschaffen haben. Und zuviel Ansprüche zu stellen, ist am Ende auch gar nicht so gut, jedenfalls nicht für die Nobodies, die Leute müssen eben etwas mehr Bescheidenheit lernen, ein bisschen Agenda 2010 für alle, das ist das schlichte Rezept der Parteispitze statt komplizierter Begründungen à la John Rawls. Die SPD-Führung geniert sich nicht mehr, vor den Augen der ratlos mitgeschleiften Basis der Konkurrenz freiwillig den Vortritt ins Kanzleramt zu lassen und mit dieser gemeinsam der Besitzstandswahrung zu frönen. Das mag viele Befürworter finden, nur die SPD wird dafür nicht gebraucht.

Corbymania schlägt Merkelmania, oder?

Als kürzlich in Großbritannien ein gewisser Jeremy Corbyn, bekannt als rastloser Mann der Demos, der Kampagnen und Komitees, der Flugblätter und Pamphlete, für den Vorsitz der Labour-Partei kandierte, ist Ex-Premier Tony Blair, Gerhard Schröders Kumpel im Geiste, gleich ausgeflippt und hat den Rückfall Labours in die ideologische Dürre der 80er Jahre mit viel Wählerabstinenz und damit auch gleich den wahrscheinlichen Untergang Labours, “annihilation“, prophezeit. Denn Corbyn ist ein Altlinker, geradezu die Karikatur des archetypischen „bearded leftie“, wie seine Kritiker giftig spotten (BBC News), ein gewerkschaftstreuer Aktivist, der stets entschieden für den weiteren Ausbau des Sozialstaates bis hin zu Verstaatlichungen eintrat, sich folglich ebenso energisch gegen Sparrunden für Arme und Steuergeschenke für Reiche wandte und, wie man hört, sogar die Abschaffung der Monarchie nicht bedauern würde.

Über 30 Jahre lang saß er als Hinterbänkler für Labour im Unterhaus in Westminster, pflegte seine Prinzipien und ist laut Medienberichten vor allem dadurch aufgefallen, dass er mit schöner Regelmäßigkeit gegen die offizielle Parteilinie stimmte. Ein Dinosaurier also aus Sicht seiner Gegner. Doch Corbyn störte das nicht. Zunächst hat die Kandidatur auch keiner so richtig ernst genommen, zumal es Kandidaten gab, die besser zum Establishment der Partei passten. Jetzt wurde dieser Unbeugsame in einer Urwahl von Mitgliedern und Unterstützern mit deutlicher Mehrheit zum neuen Vorsitzenden gewählt, das Wort von der „Corbymania“ macht bereits die Runde. Natürlich unkt das offizielle London von allen Seiten, er werde bei der nächsten Unterhauswahl ein krachendes Desaster erleben. Die findet allerdings voraussichtlich erst 2020 statt und 5 Jahre sind eine lange Zeit, um den einen oder anderen Kometen am politischen Himmel aufsteigen und verglühen zu sehen.

Doch um künftige Wahlergebnisse geht es womöglich im Augenblick gar nicht. Was heute und jetzt grell ins Auge fällt, ist der Umstand, dass Corbyn offensichtlich gewählt wurde, um die Kluft zwischen Parteibasis und bisheriger Parteispitze zu schließen, aus deren Reihen denn einige auch gleich die Mitarbeit in seinem Schattenkabinett verweigerten. Dafür gab Corbyn auf einer Gewerkschaftskonferenz am Dienstag bekannt, dass seit dem Wochenende bereits um die 30.000 neue Mitglieder in die Partei eingetreten sind, die Basis will also Macht zurück. Ob unsere Spitzengenossinnen und -Genossen in Berlin da wohl etwas ins Grübeln kommen?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ribanna Rubens

oder Tote dürfen länger schlafen.

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