Mit dem Sender Fritz wurde er populär; im Hessischen Rundfunk findet er zur Zeit jeden Mittwoch im Talk XXXL für 120 Minuten neue Zuhörer. Zu den Höhepunkten seiner Kunst aber zählen immer noch die Videoschnipsel-Vorträge in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Dr. Jürgen Kuttners Vorträge sind intensivste Fernseherziehung, die allerdings nicht im Fernsehen stattfindet, sondern im Theater. Warum nicht im Fernsehen? Da müssen wir den Blick selber werfen, wie er sagen würde.
»Voll bis krachend voll« sind seine Veranstaltungen in der Volksbühne in der Regel. Die Bühnenausstattung ist stets karg - vorn die große Leinwand, Andreas mit Bier und Technik am Tischchen, daneben der beleuchtete Erheller, neugierig und nervös selber, - wie wird es heute? Dr. Jürgen Kuttner benutzt das Wort »erhellend« oft und gern.
Das Thema im Januar war zum Beispiel: Schlager und democracy. Es gab Schnipsel vom Baden-Badener Schlagerfestival mit bundesweiter Telefon-Abstimmung aus dem Jahr 1966 sowie Ausschnitte aus Basar, einer Sendung des DDR-Fernsehens, jugendfrisch, Mode, moderne Musik, Hully-Gulli, auch 1966. Demokratisierungsübungen seien das gewesen »mit dem Knüppel über den Köpfen«, der Bevölkerung gegenüber voller Misstrauen, so sagt Kuttner, eher verlogene Versuche, Jugendkultur zu steuern.
Eines von Kuttners Lieblingsworten ist auch »medientechnisch«, sicher meint er die üblichen Instrumente der Bewusstseins-Treibjagden der Medien, deren Geblinke, Gerassel und Getute er ja gerade der Lächerlichkeit preisgibt, nicht ohne seinerseits »medientechnische« Instrumente einzusetzen. Zum Beispiel die Publikums-Terrorisierung mit einer Schlager-Refrain-Schleife: »Jajajaa, jajajaa, jajajaa, neinneinnein«. Die unendliche Wiederholung ist kaum zu ertragen, das immer gleiche Plärren, das Schulterzucken, das neckische Brauenhochziehen von vier steif frisierten Schlagerpuppen. Wenn das doch nur aufhören wollte! Soll man schreien? Erwartet er Widerstand wie Schleef oder Schlingensief? Das durch ungerichtete Reize noch abgelenkte Publikum wird mit einer schmerzhaften Überreizung für den kommenden Erkenntnisprozess vorbereitet. Mit kräftigen Stromstößen einer Augen- und Ohrenfolter werden erschlaffte, verwurstelte Sensoren aufgerichtet, ausgerichtet, eingerichtet. Jajaja.
Das sture, dumme, tötende »jajaja, neinneinnein« im Vorspann führe penetrant auf das nervende Getue um Parteinahme, Mitbestimmung und Wahlfreiheit, verweise auf dieses tägliche, auf allen Kanälen ausgerufene:»Wählen Sie jetzt!«, das »letztendlich« oft ins Leere läuft. »Wählen Sie!« Wie viel Punkte geben sie welcher Dummheit?
Um der in den Tod führenden aktuellen Forderung nach einem - »Auge um Auge, Zahn um Zahn«- entgegentreten zu können, um die notwendige Distanz gegenüber dem »Jajaja, Neinneinnein« herzustellen, erfindet Kuttner das Wort »stalingraduell«. Der Ansager und Fersehzeichner, der schon in der Nazizeit Journalist war und nun 1966 in Baden-Baden wie nebenbei plaudert: »lieber nicht mit links zeichnen, kann noch mal anders kommen«, der sei wenigstens »stalingraduell«. Der ausgeschnittene DDR-Schnipsel mit dem Moderator Ingo Graf zeige schmerzhaft, wie die schüchterne aber noch lebendige, unordentliche Sendung Basar zum toten bürokratischen Mist, zu einer falschen Ordnung hinunter moderiert wurde. Lieber » stalingraduell« als so ein Ingo Graf? Wir sehen, wie die 17-jährige Bettina Wegener schön, aber hinter einem dekorativen Gitter singt und sich mit verweigertem Lächeln vor einer falschen Vereinnahmung durch Ingo Graf zu schützen sucht. Die Sendung Basar, eingerichtet mit der Hoffnung auf eine neue Ordnung, sei so zur verlogenen Unordnung verkommen. So eine Wertung heißt Brecht weiterdenken und ordentlich Unterricht am Material machen.
Wie schon in seiner Videovortragsreihe mit den Schnipseln zu den Jakob-Sisters (Rollende Road Schau 2001) erklärt Kuttner ein großes Erschrecken: Schädliches und Schändliches, das er einst für alle Zeit als überwunden hinter sich zu lassen glaubte, habe ihn mit katastrophaler Gegenwärtigkeit eingeholt. Die Jakob-Sisters besetzen mittlerweile flächendeckend, da viel breiter geworden, Sendeplätze im MDR, genauso der älter, aber nicht lebendiger gewordene Ingo Graf.
Kuttner reißt alles an Worten herauf und herbei, was in der Nähe liegt. In der Nähe liegt auch unbedingt das Ostberlinerische, diese Art zu denken. Er nimmt noch die Sprache seines Körpers und seiner Hände dazu, fängt die Begriffe förmlich mit den Händen ein, wenn sie vorüberhuschen. Er steht 20 Minuten vor einer leeren Leinwand, damit man in den mit Spannung erwarteten Sekunden, in denen der Ausschnitt endlich gezeigt wird, erhellt werde und sehen kann, was er sah: Die ästhetische Katastrophe, der Bewegung und Mimik gewordene Selbstbetrug, die peinliche Lüge, die Beschränkung des Bewusstseins. Ungewöhnlich freie, durch aktuelle Situationen, historische Gleichnisse und kulturgeschichtliche Räume hindurch rasende Assoziationen kennzeichnen die Arbeitsweise des Schnipsel-Künstlers. Er wird als guter Lehrer von seinem Publikum akzeptiert, das beweist die geistige Anspannung, die er über Stunden bei seinen Zuhörern herstellt.
Wir sehen, was wir ohne seine wortreichen Eskapaden, ohne seine aufreizenden und wilden Jagden nach möglichen und unmöglichen Zusammenhängen nicht sehen würden.
Um seine Methode zu erklären, könnte man an ein Fuchsjagd-Gleichnis denken. Ein schlaues, rötlich schimmerndes Erkenntnismoment taucht sekundenlang in den Bildfolgen alter Fernsehaufzeichnungen vor seinem geistigen Auge auf, und er, Kuttner, muss es am Schwanz zu packen kriegen.
Wie er das in vielen Annäherungen und Anläufen versucht, eines Treffers nicht sicher, das machen die reichlich purzelnden Füllwörter deutlich: »gewissermaßen, quasi, letztendlich«. Eventuelle Bewegungen seines Publikums versucht er reaktionsschnell zu parieren. Möglichst keine direkte Wiederholung, kein endgültiges Manuskript! Der Bewusstseinsstrom, in dem er heute rudert, ist ein anderer als gestern, er hat neu und an anderen Stellen den roten Fuchs vorbeihuschen sehen. Die öffentliche Jagd nach Erkenntnismomenten in den Videovorträgen ist vorbereitet durch die Auswahl der Schnipsel, aber ihr Erfolg ist nicht gänzlich vorauszusehen.
Kuttner hat eine Scheu vor dem definitiv festgeschriebenen Wort. Das der Wahrheit mit hängender Zunge nachhastende Mündliche ist ihm lieber. Haken schlagen, nicht falsch festgelegt werden können.
Vor der Vorstellung sitzt er gerne neben der Bar im Foyer. Er will sehen und hören, wenn er kurz seine Zettel überfliegt, er guckt sich um. Von seinen jugendlichen Fritz-Fans sind viele da. Er sieht auch Ältere, mehr so »die Leute«. Ich spreche mit einer größeren Runde, ja, sie kommen wegen ihm, sie kommen öfter, und sie werden immer mehr. Überhaupt Volksbühne, ja sie kennen sich von der Arbeit, von der Post. Sieht fast aus wie »Brigade-Abend, gemeinsamer Theaterbesuch«. Sie lachen. Ich liefere ihm meine Nachrichten ab. Er freut sich.
Von der Bühne herunter macht Kuttner unverkleidet und unverstellt seinen Unterricht. Dazu kommt eine besondere Selbstironisierung, die er als » ost-typisch« bezeichnet. Beifall in einer Ecke des Saales: »Ach, dieses Minderheitenklatschen, das waren fünf Prozent«, allgemeiner Beifall: »Nicht so ein Mitleids-Scheiß, fünf Prozent ist in Ordnung.« Seit einigen Jahren habe man ja immer so was wie Nachkriegszeit oder Vorkriegszeit, und in diesen Zeiten kämen eben viele zu ihm, »so die orientierungslose Masse, die suche in der Volksbühne ihre Selbstvergewisserung.«
Kuttner arbeitet an der Bewusstseinsmasse, die ihm nicht groß und nicht unterschiedlich genug sein kann, schiebt viele Schichten zugleich voran. Wie schön er den im Fernsehen abgeschafften Abspann verteidigt, er wolle uns alle zu Abspann-Gourmets erziehen. Gerne fügt er kleine kunstgeschichtliche Informationen ein: Suprematismus, Malewitsch, barockisierenden Scheiß, Bildung eben.
Das Ende seines Vortrags gestaltet Kuttner für das Publikum in einer Form, die schon Routine ist, ausgehend immer vom gleichen Schnipsel: Josef Beuys, der auf einer Wahlveranstaltung der Grünen singt. Der Vortragskünstler will dann doch »in ein Vertrautes, in ein Wiedererkanntes« zurückkommen. Breite Lachsalven erlösen dann in der Regel all diejenigen, die es mehrere Unterrichtsstunden lang ohne Rauchen und Pinkeln bei Kuttner ausgehalten haben. Da ist der einfache Rhythmus des Gutmenschen-Liedes, zu dem Josef Beuys eingeordnet und überfordert singt »Ob West, ob Ost, auf Raketen gehört Rost«. Etwas komisch Triumphales wird dadurch in den Raum getragen, so dass sich die notwendige Schluss-Euphorie einstellt.
Der Mann vorne ist zufrieden mit dem Beifall. »Danke Kuttner!« rufen einige der Unterrichteten und Erhellten, oder vielleicht auch nur Selbstvergewisserten beim Verlassen des Saales ihm zu. »Danke Kuttner!«
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