Die Geschichte vom Anfang vor dem Ende

Volkstheater Das Berliner Theater 89 setzt seit 20 Jahren auf junge Dramatiker, ins Abseits geratene Autoren - und auf Kämpfernaturen

Es war das vorletzte Jahr der DDR, als sich das Pausendeck im zweiten Stock einer neugebauten Schule in Berlins Mitte als Fehlkonstruktion erwies. Die Schüler, fürchtete man, könnten über die offenen Brüstungen fallen. Also entstand die verlockende Idee, dort ein unabhängiges Theater zu etablieren. Der Nutzungsvertrag mit dem Stadtbezirk kam zustande, die Initiatoren sollten die anfallenden Betriebskosten tragen und den notwendigen Ausbau selber leisten. Mauern wurden hochgezogen, Fenster eingebaut, Elektrik installiert, die Spielfläche drei Meter hoch, 12 breit, und 26 tief, keine Unterbühne, kein Schnürboden, ein Deck, 65 bis 99 Sitzplätze - für Leute, die eigentlich Schauspieler waren, eine harte Arbeit.

Der Regisseur Hans-Joachim Frank, die Schauspielerin Simone Frost, der Dramaturg Jörg Mihan waren von Anfang an dabei. Als sie sich im Winter 88/89 fragten, wie das Theater denn heißen solle, rief Simone Frost: "89!" Aber anders als der Name Uneingeweihte heute glauben lässt, ist das Haus kein Kind der Wende. Höchstens ein sehr frühes: Am 1. Mai wurde eröffnet, an den 9. November war noch nicht zu denken.

Eine szenische Lesung von Büchners Lenz hatte am 30. September 1989 Premiere, im Februar 1990 folgte Woyzeck. Bekannt geworden ist das Theater 89 allerdings durch die Stücke zeitgenössischer jüngerer Autoren, besonders durch solche von Oliver Bukowski oder Melanie Gieschen. Heute schreibt der 26-jährige Dirk Laucke diese Tradition fort. Neben der sozialen Relevanz des Stoffes und einer verdichteten "Sprache von unten" gibt es bei ihm auch jene poetischen, bildhaften Bruchstücke einer Erkenntnissuche, die man eben bei Büchner finden kann. Ein Autor, das ist "Tradition" des Hauses, der auf der Ebene seiner Figuren bleibt und nicht auf sie hinunter blickt.

Hans-Joachim Frank, der Leiter des Theater 89 und Lehrer Lauckes an der Universität der Künste in Berlin, betont, dass es sich bei Laucke nicht mehr um die Darstellung von Ostdeutschen dreht, die sich den Existenzkämpfen nach der Wende stellen und dabei tragisch scheitern wie einst in Oliver Bukowskis Stücken Londn-L.Ä.-Lübbenau oder Gäste. Bei dem Nachwuchsautor zeige sich im Scheitern seiner Helden nach kurzer Flucht in Illusionen oder den Versuchen, "etwas gebacken zu kriegen", nur mehr das traurige Beharren, das Zurückkriechen in die Verweigerung und in die Reste des Gewohnten. Laucke selber spricht von "Kämpfernaturen, die in ihrem eigenen Kleinscheiß stecken bleiben."

Drei Premieren an drei Tagen läuten dieser Tage das Jubiläumsjahr ein: die Stücke alter ford escort dunkelblau und Wir sind immer oben, beide von Dirk Laucke, und Industrielandschaft mit Einzelhändlern von Egon Monk, eine Uraufführung. Denn zum Konzept des Theater 89 - das verbunden ist mit Schauspielernamen wie Johannes Achtelik, Bernhard Geffke sowie Ekkehard Schall und dessen Markenzeichen die Plakate von Volker Pfüller sind - gehört auch das Ausgraben und Wiederentdecken vergessener Autoren.

So ist man im Hamburger Archiv auf den Text des Brechtschülers Egon Monk gestoßen, der 1953 die DDR und das BE verlassen hat. Industrielandschaft mit Einzelhändlern ist heute von erstaunlicher Aktualität. Ein Drogist, der seine Existenz durch die Konkurrenz großer Kaufhäuser verliert, wird nicht als unschuldiges Opfer dargestellt; vielmehr kommt er zu der schmerzlichen Einsicht, sich den ökonomischen Prozessen nicht genug angepasst zu haben: "Wie, wenn der große Unbekannte, welcher hindert, dass die Rechnung aufgeht, ich selber bin? Wenn ich, peile ich Umwelt und Verhältnisse auf der Suche nach dem Störfaktor an, ihn nie werde finden können, weil natürlich ich der Störfaktor bin?" Selber schuld ist in unserem kapitalistischen Bewusstsein noch jeder.

Anfangs wurde im Theater 89 ohne öffentliche Gelder gearbeitet, seit 12 Jahren wird das Haus vom Berliner Senat gefördert. In Brandenburg hat sich das Theater 89 eine zweite Spielstätte geschaffen, das "Haus" in einem einst kaputten, ehemaligen Offizierskasino bei Jüterbog. In der Eröffnungs­premiere Gäste saß dereinst Regine Hildebrandt. Und freute sich. Über ein Theater, das anspruchsvolle künstlerische Arbeiten mit gesellschaftlicher Relevanz macht, das nicht auf ein elitäres Publikum setzt und das "Volksstück" nicht scheut.

Die nächsten Premieren im Theater 89: alter ford escort dunkelblau (30. Januar, läuft bis Mai immer freitags). Wir sind immer oben, (31. Januar), samstags. Industrielandschaft mit Einzelhändlern (1. Februar), sonntags.

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