Die verschüttete Wahrheit

Hörfunk Wo einst Menschen starben, blühen heute Gartenpflanzen und Gewerbegebiete - kaum etwas erinnert an das Nebenlager Gusen bei Linz. Nun gibt es einen Audioguide

Lange Zeit war das Lager Gusen vergessen. Es lag in der Nähe von Linz, der Europäischen Kulturhauptstadt 2009, die Hitler einst zu seiner Hauptstadt machen wollte. Das Nebenlager war größer und mörderischer als das Stammlager Mauthausen.

Dass die Erde von Gusen vermengt ist mit der Asche von 35.000 durch Arbeit vernichteter, verhungerter, mit eisigem Wasser tot gebadeter, in ihren Baracken vergaster Häftlinge, das sieht man gar nicht mehr. Das riesige Areal ist überbaut mit Siedlungen, blühenden Gärten und Gewerbegebieten. Die bombensicheren, unterirdischen Tunnel der Rüstungsindustrie (Messerschmidt, Daimler) wurden zubetoniert, eine Gedenkstätte gibt es nicht. Aber einen Audioweg, entstanden als Kunstprojekt.

Eine Stimme (Jule Böwe) führt den Hörer. Sie macht das Unsichtbare sichtbar, den Elektrozaun, die Schleppbahn. Dazwischen andere Stimmen, O-Töne, Bruchstücke, Geständnisse, bisher nie Erzähltes, Englisch, Jiddisch, Dialekt. Wie in der Erde wird in der Sprache nach der Geschichte gegraben.

Der Autor des Audiowegs, Christoph Mayer, ist in der Gegend aufgewachsen. Er fühlte als Kind, dass jene Schotterwege und Tunneleingänge im Felsen nicht einfach Reste von Flugzeugwerken waren, wie man ihm sagte. Als Erwachsener wollte er die Wahrheit wissen. Als Einheimischer hat er eine große Nähe zu den Befragten. Die Sprache, die er hervor lockt, ist verständlicher und zugleich schwerer verständlich als die Sprache anderer Berichte. Die weiche, oberösterreichische Mundart verbirgt manchen Unwillen, sich zu erinnern. Wer ein Lagerbordell zum Wohnhaus machte, verdrängt das. An anderer Stelle klingt im Dialekt ein großes Bekenntnis an: „Ham mir das doch nit ewig eini nehme können ins Herz, da wärm ma oi drauf ganga“, sagt eine Frau, die in St. Georgen bei Gusen aufwuchs und Entsetzliches gesehen hat. Englische Sprachbrocken lassen die Gefühle von Überlebenden ahnen. Im gebrochenen Deutsch sagt ein ehemaliger Kriegs­gefangener, der die Schreie noch im Ohr hat: „Gusen ist so ruhig, ist das Gusen hier?“ Mit raschen Schnitten wird Erzähltes und Erfragtes gegeneinander gesetzt, man wartet auf die noch zurückgehaltene Wahrheit. Der einst zum Tode verurteilte, später begnadigte SS-Mann fühlt immerhin das Drängen nach Wahrheit: „Wir können nicht zusammen durch diese Tür gehen.“

Eine Radiofassung des (audioweg.gusen.org) wird am 20. Juni im Deutschlandfunk gesendet: Das unsichtbare Lager (20.05 Uhr).

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