Platonows Weg nach Weimar

KULTURSTADT WEIMAR Das Maly Drama Theater aus St. Petersburg zeigte »Unterwegs nach Tschewengur«

Sechster Februar 1919: Die Nationalver-sammlung der Weimarer Republik tritt im Nationaltheater zusammen. Goethes Geburtstag jährte sich 1919 zum 170. Mal.

22. März 1949: Otto Grotewohl hält in der Weimarhalle eine Rede an die deutsche Jugend: »Amboß oder Hammer sein«. Die mit humanistischer Bildung gut ausgestattete Rede endet so: »Die Menschheit hat es satt, Amboß zu sein, sie muß endlich Hammer werden.« Was für eine Utopie! Die ganze Menschheit ein einziger Hammer. Die Wirklichkeit war dann eher so, wie Grotewohl aus den Venezianischen Epigrammen mahnend zitierte: »Wehe dem armen Blech, wenn nur willkürliche Schläge ungewiß treffen und nie fertig der Kessel erscheint.« Goethes Geburtstag jährte sich 1949 zum 200. Mal. Weimar war russische Besatzungszone.

19. Februar 1999: Eröffnung des Kulturstadt-Jahres im Nationaltheater, Goethes Geburtstag jährt sich zum 250. Mal.

Ein großer Geist der russischen Literatur, Andrej Platonow, wurde 1899 geboren. In seinen Werken finden sich viele Bezüge zu Goethes Faust. 100. Geburtstag Andrej Plato-nows! Wie sich die »Anlässe« häufen, in der europäischen Kulturstadt!

Schon vor dem offiziellen Eröffnungsakt am vergangenen Wochenende hatte im E-Werk das Maly Drama Theater aus St. Petersburg mit einer Uraufführung nach Platonows Roman Tschewengur im E-Werk Premiere. Tschewengur, entstanden zwischen 1926 und 1929, wurde lange zur Veröffentlichung nicht zugelassen und erschien erstmals 1988 in der Sowjetunion.

Voll Furcht und Mitleid schildert der Autor, wie der Versuch, Utopie ins Leben zu zwingen, tötet. Mit grotesken Metaphern bewältigt er die unerträglichen Widersprüche der revolutionären Wirklichkeit. Die Realität und das Phantastische mischen sich und werden Gleichnis. Die Figur Sascha Dwanow in Tschewengur ist teilweise autobiographisch angelegt. In Tschewengur, einem russischen Provinznest, »verwirklichen« der Analphabet Tschepurnij zusammen mit dem Bauernsohn Proschka und wenigen anderen ehemaligen Rotgardisten den Kommunismus. Marx haben sie nicht gelesen, er hätte gar nicht erst schreiben brauchen, sie haben schon alles »verwirklicht«. Sie erschießen die Hausbesitzer und evakuieren die Familien. Sie schaffen Platz für den Kommunismus und warten, daß er über sie komme. Die Stadt versteppt. Sie arbeiten nicht. Die Natur wird sie ernähren, die Sonne für sie arbeiten. Arbeit und Erwerb sind Ausbeutung. Wissen und Verstand sind auch Besitz und werden Ausbeutung hervorrufen. Dwanow und sein Freund Kopjonkin stoßen zu ihnen. Für das Glück der »Übrigen«, der Besitzlosen und Waisen, fühlen sie sich verantwortlich. Stets sind die Tschewengurer von Zweifeln geplagt, ob der Kommunismus wirklich ausgebrochen ist. Für die Rettung eines schwachen Alten, eines lieben Freundes beginnen sie allmählich sich zu regen. Kopjonkin pflügt, um Sascha ernähren zu können. Sascha flickt ein Dach, damit ein anderer nicht naß wird. Tschepurnij gar will ein totes Kind wieder beleben, es sei doch im Kommunismus geboren. Andere stellen »Kunst« her, um einen Freund zu erfreuen. Unbeholfen und lächerlich sind ihre Bemühungen, aber deutlich von dem Bedürfnis nach menschlicher Nähe nach »Brüderlichkeit« bestimmt. Am Ende wird ihr wunderliches Leben, von dem nichts nach draußen drang, da alle Amtspapiere unbeantwortet blieben, von der Verwaltung bemerkt. Simon Serbinow kommt und erstattet Bericht. Eine unerkennbare mechanische Macht vernichtet die lächerlichen Apostel. Sascha sucht den Tod im Wasser wie sein Vater. Übrig bleibt Proschka, der den Besitz der Verjagten und Getöteten an sich brachte, der halbverdaute Theorien zu seinem eigenen Vorteil »ausformulierte«.

Platonow hat fast bis zu seinem Tode den »Glauben« an den Kommunismus nicht aufgegeben und die Utopie verteidigt. Utopie sei wie eine Krankheit, die jeden Menschen befalle. Glück sofort und für jeden - eine trügerische Hoffnung. Die Tragödie der Utopien besteht darin, daß der Mensch im Namen von Liebe und Güte glaubt, Grausamkeiten begehen zu dürfen, schließlich triumphiert die Grausamkeit, und die Utopie ist diffamiert. Am härtesten drückt das der Satz im Stück aus: »Solange man den Menschen nicht kalt macht, lebt er unordentlich.«

Der Regisseur Lew Dodin und die Truppe des Maly Drama Theaters lösen die Geschichte vom Weg nach Utopia-Tschewengur ab vom historisch Konkreten, mehr als das schon Platonow im Roman tut. Dabei arbeiten sie streng mit Metaphern. Das Bühnenbild setzt die »Elemente« ein. Schwarzerde wurde extra aus Rußland nach Weimar gefahren, Wasser, Feuer, Steine. Zwischen der Bühne und dem Publikum verläuft ein Wassergraben, es gibt ein Gitter, das ihn freigibt oder verschließt.

Am Anfang des Stückes klettern und kriechen die Darsteller über eine Plexiglaswand. Sie räsonieren und schwärmen sich die Seele weit: »Der Sinn des Lebens«, »der Tod«,«die Sterne«, »der Mensch«, »die Musik« und »die Frau«. Ein Kofferradio mit Opernklängen, Nachrichtenfetzen, sogar Worte des Bundeskanzlers zu Europa bilden den Klanghintergrund. Nach dem Selbstmord »des Fischers« schaffen die Helden Platz für ihr »neues Leben«. Die einen erschlagen die anderen, nackt stopfen sie sie in Plastiksäcke und schütten die »heilige russische Erde« darüber. Dann duschen sie, waschen sich rein von ihren Taten. Das sieht schön aus, erinnert aber an Waschkauen, an Arbeitslager.

Überhaupt sind alle Bilder zugleich mehrdeutige Zeichen. Die Spaten, Werkzeuge der Umwälzung der Erde, der großen Bewässerungskanäle (Platonow war Meliorationsingenieur) bilden an ihren oberen Enden Totenkreuze. Eine Schablone für den Kommunismus wird erfunden, die liegende Acht, unendlich. Als man über den fünfzackigen Stern debattiert, erklärt Tschepurnij, das sei der Mensch, der breitbeinig auf den Bruder zugeht und ihn nicht nur mit den Armen sondern mit allen Gliedern umfängt. Die Tschewengurer umklammern sich gegenseitig als ein Menschenklumpen, zitternd.

Oft handelt eine ununterscheidbare Gruppe. In einigen Szenen aber erschaffen die Darsteller deutlich Figuren. Sascha ist der von allen geliebte Jünger. Proschka sammelt besorgt Gegenstände. Tschepurnij agitiert fanatisch. Er artikuliert das Wort »Kommunismus« so stimmhaft, als sei es greifbar. Sonja, Saschas Liebe, erzeugt mit hoher Stimme und der Rede vom »glücklichen Warten« das komische Bild eines adretten sowjetischen Ideals. Serbinow kommt mit weißem Kassettengerät, auf dem er die Namen und Stimmen der anderen einfängt. Sie zeigen sich freudig selber an. Umwerfend ist die traurige Komik wie sich einer stolz Dostojewski, Pisatel, nennt. Aber oft lachen die Darsteller das befreite Lachen allein. Die klangvolle russische Sprache ist für die meisten Zuschauer eine Hürde. Der dunkle Witz der Zitate bekommt nicht genug Echo im Publikum. Das Lesen und Begreifen der Sätze auf Deutsch über der Szene fällt schwer, und Dodin verweigerte aus ästhetischen Erwägungen eine Simultanübersetzung, so daß die Bemerkung von Lothar Trolle, »Das erste Opfer in jedem ernsthaften Gespräch über eine Utopie ist die Sprache«, sich hier mehrfach verkehrt bewahrheitet.

Die Bühnenfassung hat ein anderes Ende als Platonows Roman: Serbinows Berichte rufen nicht jene von außen kommende Macht der Vernichtung herbei. Die Tschewengurer räumen sich selbst weg. Sonja wird von Serbinow erschossen, als sie für alle zur Erinnerung an Mutter, Frau oder Geliebten wird. Da fühlen die Tschewengurer, daß sie vor dem Leben versagt haben. Sie nehmen sich jeder einen Feldstein und gehen ins Wasser. Sascha spricht am Ende die für das heutige Rußland gültigen Worte: »Ich bedaure meine Heimat nicht und verlasse sie«.

Der Zuschauer hat nicht nur den Eindruck eines kollektiven Selbstmordes, sondern auch den vom Untertauchen und vom Durchtauchen in eine andre Welt. Auch Proschka wirft die gierig aufgesammelten Kleider weg. »Wartet Bürger, Dummköpfe«, schreit er und folgt. Bravo rufen einzelne Zuschauer den Schauspielern zu, bis diese mitklatschen - eine russische oder eine sowjetische Sitte?

Die Utopien der deutschen Revolution und der »Geist von Weimar«, der im Februar 1919, in der Nationalversammlung beschworen wurde, sind diskriminiert worden, weil die Verbrechen des Nationalsozialismus ihnen folgten. Diese deutsche Geschichte zeigt derzeit die Ausstellung »Wege nach Weimar« im Landesverwaltungsamt Weimar. Hier stößt man auch auf die Forderung der USPD nach Ausschluß bürgerlicher Mitglieder aus der Regierung. Die SPD antwortete, das gefährde die Volksernährung.

Die Utopien der russischen Revolution haben zu schrecklichsten Hungerkatastrophen geführt. Die Tschewengurer bei Platonow ernähren sich am Ende von Steppengras.

Ein Geheimnis nennt Platonow die Kräfte, die von der Utopie genährt werden. Die russischen Künstler haben dieses Geheimnis auf der Bühne aufleuchten lassen, aber nicht aufgeklärt.

Die Truppe betrachtet sich als europäisches Theater und spielt selten zu Hause: Überall, in Palermo, in Paris, in London inszenierten sie auf Russisch. Sie werden demnächst nach Lyon gehen, auch nach Berlin. Sie brauchen einen Spielort, so wie Weimar, wo sich für Materialisierungen des Geistes - wozu sie immer viel Wasser und Erde brauchen - Mittel fließen und Geister finden.

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