Warum gehen Sie ins Theater?

Das Bedürfnis zu proben, zu spielen Wie das Theater unter Schülern und Jugendlichen immer wieder neu entsteht

Im Deutschlandfunk war vor kurzem ein Ausschnitt aus einem noch unveröffentlichten Roman, Seltsam, des jungen Autors Tobias Hülswitt zu hören. Dort lässt er in einem theaterwissenschaftlichen Seminar den Professor an die Studentin Laura die Frage stellen: "›Warum gehen Sie ins Theater?‹ ›Ich?‹ Laura setzte sich aufrecht und lachte. ›Oh Gott.‹ Sie fand es selber seltsam, denn schließlich studierte sie nun im dritten Semester Theaterwissenschaft, und seit sie 17 gewesen war, hatte sie keinen größeren Wunsch gehabt, als Schauspielerin zu werden - aber sie ging einfach nicht gern ins Theater ... Seit ihrem letzten Bewerbungsvorspiel hatte sie praktisch keine Bühne mehr gesehen, weder von oben noch von unten. Sie wollte auch ehrlich sein. ›Ich habe immer das Gefühl, dass mich das nichts angeht, was da auf der Bühne passiert. Es hat irgendwie mir mit mir nichts zu tun, es ist immer so übertrieben. Im Kino fühl ich mich wohler.‹"

Man hörte weitere Äußerungen zum Theater, so wie Laura sie sieht und hört.

Der "Jodie-Foster-Typ" sagt: "Ich liebe das Theater. Ich liebe es für viele Dinge, die hier kritisiert worden sind. Dass es Schauspielerpersönlichkeiten gibt, dass es Ensembles gibt. Das Theater ist nicht der Ort, die Fehler irgendwelcher Kirchen wieder gut zu machen.... Es hat wie gesagt keine Pflichten ... und ich bin enttäuscht von meiner Generation, denn irgendwie ist es auch cool geworden, nicht gerne ins Theater zu gehen. Und das Theater ist altmodisch und ..."

Die mit der rosa Pony-Perücke: "Ja, das ist doch auch so ein Ding, von wegen keine Pflichten, kein Auftrag. Wenn du aus dem Theater kommst, weißt du jedes Mal nicht mehr, was richtig und was falsch ist, du hast nur alles auseinander genommen und herumgedreht und durchanalysiert und ironisch behandelt bekommen, und das ist genau das, was ich schon auf der Schule zum Kotzen fand. Immer total am Kritisieren und dabei vollkommen standpunktlos. Und auch ohne jede Konsequenz."

Ich höre die Lesung, es ist spannend, es trifft. Zynisch ist es nicht. Ich fühle mich mitverantwortlich für jenes Seminar, das Laura am Ende nicht mehr gefällt. "Sie mochte auch den Professor nicht mehr, er hatte sie und die anderen hier her gebracht und dann losgelassen wie einen Strauß Luftballons."

Theater ist eine aussterbende altmodische Kunstform, die in den letzten Atemzügen liegt. Oder eine, die unsterblich immer wieder in jedem Schulkind aufersteht, das sich danach drängt, vorzuspielen und nachzuahmen. Oder in jeder Menschengruppe wieder neu spontan entsteht, wo der Mitzuschauer, der Mitdenker und Mitfühler nah am eigenen Leib erlebt werden will, wo man den Mitbürger am öffentlichen Kunst-Diskurs-Ort unmittelbar neben sich sucht.

Im Kino sitzt man mit ausgestreckten Beinen unter einer großen Leinwand im Stereodröhnen, hat mehrere freie Plätze vor und hinter und neben sich, kann sich allein in weiches Dunkel gehüllt verstecken, verlieren. Schön! Noch schöner aber ist es doch, wenn der Kinosaal gefüllt ist, wenn viele mit einem atmen, still werden, in Lachen ausbrechen.

Im Theater drängt man sich in enge Reihen, hockt auf Stufen, schwitzt und verrenkt sich. Man muss schon etwas aushalten, um den leibhaftigen Darstellern und den auf unsere leibhaftige Anwesenheit reagierenden Darstellungen zuzusehen und zuzuhören. Man muss sich immer wieder der Bild- und Sprachhöhe des Theaters gewachsen zeigen, muss über die Deutung, die Erkenntnis, den Erfolg augenblicklich mit entscheiden im spannenden Dialog zwischen Zuschauer und Bühne. Was heißt da altmodisch?

Als 1982 die Schüler einer EOS Klasse in Berlin, mit der ich viel Theater gespielt hatte, sich für Studienrichtungen bewarben, stellte sich heraus, dass elf von 21 Schauspieler, Kulturwissenschaftler, Germanisten, Sänger oder Theaterwissenschaftler werden wollten. Ich wurde von der Schulleitung gerügt, was für ein schädlicher Einfluss, die volkswirtschaftliche Notwendigkeit forderte Lehrer, Offiziere und Maschinenbauingenieure. Meine Schüler aber liebten das Theater, viele von ihnen wollten in Berufe, die dem nahe waren. Sie liebten die Begeisterung, die damit für sie verbunden war, das befreiende Auslachen, den subversiven Kampf gegen die Doktrin, das außergerichtliche öffentliche Gericht, den gewagten Einsatz aller ihrer Kräfte, ihrer Stimme, ihres Körpers, ihres Gefühls in einem Spiel, das sie sich selber ohne große Voraussetzungen organisieren konnten, mit sich und für etwas öffentlich auftreten, etwas vertreten und doch nicht Ernst machen, sich ausprobieren.

Es heißt ja auch so schön Probe, man probt. Je länger ich das Theater liebe, um so mehr liebe ich die Proben. Aber mehr noch als bei den Proben der großen Theaterkünstler zuzusehen, liebe ich es, jene Anfänge der Theaterbegeisterung bei Schülern und Jugendlichen zu beobachten. Ich baue meine Hoffnungen auf diese Theater spielenden Jugendlichen, denen traue ich allerhand zu, auch wenn die später überhaupt nicht Theater spielen, sondern was ganz anderes machen. Die jungen Laienschauspieler lernen etwas ganz Entscheidendes, die Steigerung der eigenen Kräfte in der Gruppe. Sicher, junge Sportler, junge Naturforscher, Musiker, Chorsänger, Balletteleven, Ministranten lernen so etwas auch, aber sie können bei ihren Übungen auch in alten Riten verharren und ganz unpolitisch bleiben. Jugendliche Schauspieler dagegen wollen immer ihre eigene Gesellschaft und deren Kämpfe mit in Szene setzen, spielend.

Eine Gruppe, die so arbeitet, ist die Gruppe P 14 von der Volksbühne am Rosa Luxemburgplatz. Gesehen habe ich einmal ihre Selbstbefragung zum Berufswunsch Schauspieler und Regisseur, Sehnsucht nach Kunst texten faxen. Das war ein Spiel mit Improvisation, die die geplante Zeitspanne, die im Lampenfieber die vorher angedachten Argumente verkürzt, schnell zusammenschnurren lässt. Zuerst hockten sie sich Schutz und Nähe suchend zu acht in ein kleines Zelt, und dann kamen sie heraus und aus sich heraus. "Nein das soll nicht zum Beruf werden, immer diese Geldnot, diese Unsicherheit, plötzlich kann man den Strom und das Telefon nicht bezahlen", sagt einer. "Doch, ich werde Schauspielerin, unbedingt", kommt es von einem runden, tapferen Mädchen, "und wenn sie mich noch weitere fünf mal ablehnen, und immer sagen, ich soll es doch Mal beim Kabarett versuchen, weil, wie du aussiehst, viel zu dick". Und: "Ja, ja, doch ich will Kunst und Schauspielerin", sagt auch das schlanke Mädchen, "denn in keinem Feld kann ich mich selber so überprüfen, so auf meine Wahrheit kommen." Sie denken zu wenig daran, dass sie für die Zuschauer da sein werden, denke ich. Sie entwickeln Ideen zum Theatermachen, dass man dem Regisseur nicht absolut unterworfen sein will, aber auch nicht unterfordert sein möchte und dass es gerade dann etwas wird, wenn da auch heftige Konflikte sind, die etwas Unvorhergesehenes hervorbringen zwischen Regieabsicht und Schauspielerwiderstand. So schlau sind sie schon, diese P 14. Und sie klagen bereits, dass doch manches Theaterhaus wie ein Krankenhaus geführt werde, "mit so einer sturen Hierarchie, schrecklich".

Als ich P 14 mit 39 Kriegsspiele delegiert zum 24. Theatertreffen der Jugend 2003 wieder sah, da erschienen sie mir als ein nachwachsendes Theater mit basisdemokratischer Methode. Während die Meister der Volkbühne For ever young spielten, zeigte P 14, wie ewig jung Theater ist.

Eigenproduktion, das heißt, sie spielten ihre eigenen Szenen und Texte, inspiriert aus ihren eigenen Erlebnissen. Viel chorisches Sprechen und Choreografie, die jungen Körper sehen wie Choren aus. Kriegsspiele? Nachgefühlte, vorgeführte, auch die Macht, Herrn Bush, den befreiend weggespielt. Dann das selber Gelebte, immer mit Genauigkeit von Körper, Stimme und Ausdruck hochgezeichnet zur Identifikation und zur Deutung. Eine Szene, in der ein Mädchen die Welt so im Kopf hat, dass sie panisch an der nächsten Straßenkreuzung eine Bombenexplosion im Bus erwartet, überlegend, ob sie ein kleines Kind noch schnell ergreifen und retten könne. Eine andere Szene - auf der Wiese liegen an einem See, Plätze wechselnd, sich aalen, ökologisches Sinnieren über Wasser, Wassertrinken aus der Plasteflasche, dann eine Bemerkung: "Fünfzig Faschos kommen!" Das war nur ein Witz, Entspannen, dann kommen fünfzig Faschos, Pantomime gegen Unsichtbare, das Zusammengeschlagenwerden, das sich Wehren. "Geh lieber spielen, eh du was zerschlägst, geh Theater spielen!" Die Gruppe finden, das wollen alle, nur eben was für eine, das ist die Frage.

Im Wettbewerb der Kinder und Jugendtheater 2003 Augenblick mal lief Furiosi, ein vom Stuttgarter Theater mit Schauspielern und Laien inszeniertes Stück nach Nanni Balestrinis Roman über Hooligans, über ihren Alltag, ihre Not, ihre Lust. Hauptzitat: "Ich habe mich nie so lebendig gefühlt wie im Augenblick der Gewalt."

Die gefährliche und gefährdete Gruppe, die Hackordnung wurde gespielt, der Teufel wie an die Wand gemalt und beschworen. Das Spiel besaß Momente der Lust, in denen man glaubte, die Spieler meinten selber, das sei unvermeidlich, dieser Gruppenterror der Gewalt, als sei das eine Möglichkeit, am Leben teil zu haben, Nähe und Gefühle zu empfinden. Nur das dazwischen komponierte Stillhalten im tiefen Erschrecken stand dem entgegen. Furcht und Mitleid.

Ich liebe das Theater, und ich tröste mich mit Marcuse, der sagt: "Es wird immer schwerer für die großen Toten zu überleben. Die Geschichte wird zu lang. Man kürzt nicht am Beginn, er hat schon Jahrhunderte überdauert." Eben, man kürzt nicht das Theater, das am Beginn war in Athen und eine Bürgerpflicht.

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