Worte wie Arsen

Aufruf Victor Klemperers legendäre Analyse der Sprache des Nationalsozialismus liegt nun als Hörspiel vor. Das Radio sollte diese Debatte dringend fortführen
Ausgabe 34/2016

Zuerst betrieb Victor Klemperer seine Analysen der nationalsozialistischen Sprache als „parodistische Spielerei“, später half ihm das Schreiben, die Nazi-Zeit durchzustehen. Als Hochschullehrer war er 1935 wegen der Rassengesetze entlassen worden. Täglich drohte die Gefahr der Deportation, Klemperer wurde auch zu Zwangsarbeiten verpflichtet. Der jüdische Sprachwissenschaftler überlebte diese Jahre an der Seite seiner „arischen“ Ehefrau Eva, die ihn und sein Werk schützte. Ihr ist LTI – Notizbuch eines Philologen gewidmet. Das Buch wurde 1947 erstveröffentlicht. Nun gibt es eine überaus eindrückliche Hörspielbearbeitung, die kommenden Sonntag im Kulturradio des RBB uraufgeführt wird.

Klemperers philologische Einsichten hatten ihren Ursprung nicht nur in der Analyse der offiziellen Propagandasprache und ihrer Mechanismen. Sie wurden besonders schmerzhaft, wenn er die „LTI“, die „Lingua Tertii Imperii“ (wie Klemperer die Sprache des „Dritten Reichs“ als Kürzel verballhornend nannte) in seinem Umfeld vernahm. Wenn also etwa ein früherer Freund, fast Pflegesohn, die „LTI“ wie selbstverständlich verwendete und fröhlich von einer „Strafexpedition“ gegen Kommunisten berichtete, an der er sich beteiligt habe. Besucher, Nachbarn, Freunde, „keiner war ein Nazi, aber vergiftet waren sie alle“, schrieb der Philologe.

Sprache ist mehr als Blut

Die Hörspiel-Macher Tilman Hecker und Dag Lohde hatten zunächst vor, von den Erlebnissen und Anekdoten des Philologen auszugehen, um so einen erzählenden Bogen zu finden. Das fünfte Kapitel des Buchs ist eine direkte Übernahme aus den Tagebüchern, das sechzehnte schildert das Denken und die Sprache der „arischen Kollegen“ in der Fabrik. Hecker und Lohde entschieden sich stattdessen für ein Sprechtheater: Vier Stimmen – Betty Freudenberg, Christine Groß, Toni Jessen und Thomas Schmauser – sprechen in heftigem Wechsel, was eine leidenschaftliche und drängende Erkenntnissuche vorwärts treibt.

Die Bereitschaft, schnell zu begreifen, wird den Hörern abverlangt. Wir erleben kein übliches Funk-Drama, keinen Kampf der Charaktere, sondern ein Frage- und Antwortspiel Gleicher, eine Deutung und Suche nach der Herkunft von Worten, ein Erschrecken und Empören gegenüber der Lüge, den verzweifelten Zweifel gegenüber der allgemeinen Vernebelung, ein lachendes Erkennen der Dummheit. Modulation, Artikulation, Musik verstärken oder dämpfen den Diskurs, das erzeugt auch Spannung. Es gibt nachdenklich Leises, Langsames, besonders wenn Klemperer die eine Klammer benennt, unter der jede Art Feind zusammengefasst und verfolgt wird: jüdisch-marxistisch, jüdisch-kapitalistisch und so weiter.

Dazwischen immer wieder das Zitat „Sprache ist mehr als Blut“ von Franz Rosenzweig, das Klemperer seinerzeit für sein Notizbuch als Leitgedanke diente, und das Klemperer-Zitat: „Worte können sein wie Arsendosen, sie werden unbemerkt verschluckt und scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“

Die „LTI“-Sprache ist heute ebenso wenig gelöscht, wie sie keine Neuschöpfung der Nazis war. Es gab diese Worte und Wendungen schon, und es gibt sie weiter. AfD-Rhetorik und Pegida-Formeln erzeugen heute einen unheimlichen „Wiederhöreffekt“.

Vergiftete Wirkung

Da ist nicht nur die Wiederbelebung der „Lügenpresse“. Es gibt neue Zusammensetzungen, Wiederholungen und Umdeutungen mit entsprechend vergiftender Wirkung, zum Beispiel der vordergründig so harmlos daherkommende „gesunde Instinkt“.

In der Sprache der NS-Zeit wurde die Überlegenheit des Instinkts und des Gefühls gegenüber dem Intellekt betont, was zum Ausschluss allen kritischen Hinterfragens führte und letztendlich zur Abtötung allen Mitgefühls im Namen eines Überlebensinstinkts. „Die stärkste Wirkung wurde durch nichts erzielt, was man mit bewusstem Denken oder bewusstem Fühlen in sich aufnehmen musste. Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfacher Wiederholung aufzwang und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden“, hält Klemperer in LTI fest.

Dass die „Festung Europa“ von Deutschland verteidigt werde, hört Klemperer gegen Ende des Zweiten Weltkriegs immer häufiger in der NS-Kriegspropaganda. Im Hörspiel bekommt das sein Gewicht. Der politische Machtkampf mit den Mitteln der Sprache lebt. Wie auch einst vergiftete Worte heute wieder gebräuchlich werden, „total“, „fanatisch“ oder „abartig“ gehören dazu. Wichtig ist es, einen größeren Widerstand zu wecken, wenn reaktionärer Sprachgebrauch durch die Hintertür reanimiert wird. Aber auch über gedankenlose unkritische Nachahmung und Wiederholung angeblich „politisch korrekter“ Formeln könnte klüger diskutiert werden.

Sprachkritik sollte nicht auf eine Kampfmethode verfeindeter politischer Lager reduziert werden, auf eine Möglichkeit der jeweiligen Gegner, den Sprachgebrauch öffentlich-rechtlicher Medien oder den ihrer Kritiker bestimmter Verdummungs-, Täuschungs- und Vergiftungsabsichten zu zeihen. So etwas kann erzählt, dokumentiert oder essayistisch sein. Die Sprachkritik der Gegenwart wäre generell eine wichtige Aufgabe fürs Qualitätsradio. Jenes gegenseitige Belehren, Befragen, miteinander Erkennen, wie es das Hörspiel LTI demonstriert. „Hast du das gehört“, möchte man oft ausrufen, überrascht von einer mutigen Wahrheit oder empört über eine deutliche Lüge, aber wir hören Radio meist allein.

Es gibt ein neues Bedürfnis nach Philosophie, dem wir nachgehen sollten. Philosophie wurde in der „LTI“ totgeschwiegen, es gab, so Klemperer, nur Weltanschauung von einem „nationalsozialistischen Boden“ aus, auf dem man fest und unverrückbar steht, „… bis alles in Scherben fällt“.

Info

LTI – Notizbuch eines Philologen Victor Klemperer Kulturradio des RBB, 28. August, 14:05 Uhr

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