"Wir wollten den Spieß umdrehen"

Protest Kann man einen Grenzübergang blockieren, und dabei für offene Grenzen demonstrieren? Die Aktivistin Lieselotte Rettich im Gespräch
"Wir wollten den Spieß umdrehen"

Bild: Johannes Simon/Getty Images

Liebe Lieselotte Rettich, vor einigen Tagen hat eine Gruppe von Aktivist*innen unter dem Stichwort „No Border Action“ den Autobahn-Grenzübergang zwischen Deutschland und der Schweiz blockiert. Die Symbolik „Grenzen dicht“ ist ja eher von Seiten der AfD und anderen rechten Parteien bekannt. Sollte man sich als Linke nicht für offene Grenzen auszusprechen?

Nicht nur als Linke. Als empathischer Mensch sollte das eine logische und indiskutable Zielstellung sein. Die Frage ist immer: Wessen Mobilität ist von Grenzschließungen betroffen? Und die Antwort ist immer unfair. Diesen Spieß wollten und werden wir umdrehen, bis die Grenzen offen sind: „Wenn ihr die Bewegungsfreiheit von Flüchtenden und Migrierenden einschränkt, schränken wir eure Bewegungsfreiheit ein.“ Unsere Aktion war auch zum Teil symbolischer Natur – um aufzurütteln. Wir wollten zeigen, dass es ein Privileg ist, hier zu leben, wo der Pass einer EU-Landes oder der Schweiz ein Türöffner ist, der Grenzen sozusagen unsichtbar macht. Das ist keine Selbstverständlichkeit, obwohl es eine sein sollte.

Die Balkanroute ist dicht gemacht worden, ohne dass es einen nennenswerten gesellschaftlichen Aufschrei gegeben hätte. Unser Protest war eine Aktion, um da einzugreifen, wo es Leute aufregt und Entscheidungsträger*innen stört: Auf deutschen Autobahnen. Denn die Einzelschicksale, die in Idomeni und an all den anderen geschlossenen Grenzen geschaffen werden, scheinen niemanden zu interessieren. Aber wenn privilegierte Leute mal zwei Stunden im Stau stehen müssen...

Warum habt ihr gerade eine Autobahn als Ort für eure Aktion genommen?

Weil es da weh tut. Gerade die A5 ist warenverkehrstechnisch von hoher Relevanz. Eine Autobahn zu blockieren stört den Ordnungssinn der Deutschen. Zudem haben wir die Aktionsform von den Protesten der Geflüchteten übernommen: Es gab vor einigen Monaten Autobahnblocken an der slowenisch-kroatischen Grenze von Geflüchteten, mit deren Hilfe einzelne ihrer Forderungen erfüllt werden konnten. Auch die Aktionen der letzten Woche in Idomeni haben uns inspiriert.

Warum gerade die Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz? Die Flüchtlingsroute führt doch meist eher über Österreich nach Deutschland.

Es war eine bewusste Entscheidung, eine Grenze zu blockieren, die nicht mit der Durchreise von Geflüchteten assoziiert ist. Wir wollten auf keinen Fall Menschen daran hindern, weiter nach Europa hinein zureisen. Außerdem organisieren die Geflüchteten selbst sehr kraftvolle Proteste an den Grenzen, die sie an ihrer Weiterreise hindern. Da brauchen wir kein Spritgeld zu verfahren, um uns dann dort großartig und aktivistisch zu fühlen. Gleichzeitig sind auch viele Menschen mit deutschen Papieren zu dieser Zeit im Osterurlaub. Damit sollten sie "sensibel" für das Thema Reisefreiheit beziehungsweise Bewegungsfreiheit sein.

Wie lief die Aktion konkret ab? Man kann schließlich nicht einfach so auf eine Autobahn stürmen.

Doch, das geht. Gerade an Stellen, wo die Autos nicht besonders schnell fahren. Und es ist auch möglich, sich als Kleingruppen gut miteinander abzusprechen, um solche Aktionen zu koordinieren.

Wie reagierten die Autofahrer auf die Blockade und wie auf die verteilten Handzettel?

Die Reaktionen waren positiver als erwartet. Viele sind ausgestiegen, vorgelaufen zur Blockade und haben mit ihren Handys gefilmt. Die allermeisten haben die Flyer gerne genommen und sehr interessiert gelesen. Auf einem Flyer stand „Hupt, wenn ihr gegen Grenzen seid!“ Schönerweise haben das auch einige gemacht. Insgesamt haben die Reaktionen geschwankt zwischen Solidaritätsbekundungen und Aussagen wie: „Ihr gehört alle an die Wand.“

Wie haben die Polizei und die Grenzbeamten reagiert?

Wir haben die deutsche Polizei ziemlich überrascht. Wir konnten in Ruhe Barrikaden bauen, Transpis aufhängen, unsere Sitzblockade an einer günstigen Stelle einrichten und uns auf den Polizeieinsatz vorbereiten. Einige Cops haben probiert, einzelne Leute rauszugreifen oder eine Kletter*in am Aufstieg zu hindern. Aber das konnte verhindert werden. Auf der Polizeiwache kam es dann zu mehr Repressionen. Dort wurden die Gefangenen gezwungen, sich zu entkleiden, ihnen wurde Essen verweigert und Schmerzgriffe und sexistische und homophobe Sprüche angewendet.

Welche Menschen waren an der Aktion beteiligt, wie konnten sie mobilisiert werden?

Viele waren an der sogenannten Balkanroute unterwegs, um dort Menschen auf der Flucht zu unterstützen. Praktische Solidarität ist wichtig, aber den meisten ist dabei klar, dass es nicht reicht, unentgeltlich humanitäre Hilfe zu leisten, dabei rassistische Helfer*innenklischees zu bedienen und als „Freiwillige Feuerwehr“ das Versagen der Staaten notdürftig zu kitten. Die Aktivist*innen haben sich transnational gegenseitig mobilisiert.

Was kritisiert ihr an der EU-Flüchtlingspolitik?

Die Frage ist doch eher, was gibt es nicht anzuprangern? Durch das Abkommen mit der Türkei ist das Asylrecht faktisch außer Kraft gesetzt. Menschen werden von einer Staatengemeinschaft, die mal den Friedensnobelpreis bekommen hat, in ein Land zurückgeschickt, das wie die meisten anderen Länder Flucht mit verursacht und Menschen unterdrückt. Aber diese ganze Abschottungspolitik ist nichts Neues. Der reiche, sogenannte „Westen“ will „unter sich“ bleiben. Alles, was angeblich den Wohlstand hier gefährdet, soll draußen bleiben. Sichere Herkunftsstaaten, die nicht für alle sicher sind, die völlig menschenunwürdigen und verschobenen Maßstäbe, die hier an die Unterbringung von Geflüchteten angelegt werden, die Asylverfahren und all diese Vorurteile gegen Geflüchtete. Das ist es, was wir angreifen wollen. Doch das Hauptproblem sind Grenzen. Die Verteidigung dieser Grenzen kostet tausende Menschen ihre Würde oder ihr Leben. Deshalb sagen wir: Alle Grenzen auf. Und zwar sofort!

Habt ihr mit eurer Aktion euer Ziel erreicht?

Wir hätten natürlich gerne länger blockiert und noch mehr gestört. Aber zwei Stunden lang eine Autobahn lahmzulegen ist richtig gut. Darüber hinaus hatten wir einige gute Gespräche mit Autofahrer*innen und haben es geschafft, Öffentlichkeit herzustellen.

Das Gespräch führte Richard Diesing

Lieselotte Rettich, 24, gehört zu der Gruppe, die den Grenzübergang blockiert hat

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Geschrieben von

Richard Diesing

17 Jahre, Schüler, freier Journalist, unter anderem für Ze.tt, Vice und die Rheinische Post

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