Der Bollwerker

Porträt Kyriakos Mitsotakis setzt als griechischer Premier in der Flüchtlingsfrage auf eine Politik der harten Hand
Ausgabe 11/2020
Mitsotakis versteht sich als „Postpopulist“ und als Erneuerer der Nea Dimokratia
Mitsotakis versteht sich als „Postpopulist“ und als Erneuerer der Nea Dimokratia

Foto: AFP/Getty Images

Tränengas, Steine werfende Migranten vor brennenden Grenzzäunen, Soldaten, die Maschinenpistole im Anschlag, Heerscharen von Polizisten und patrouillierende Bürgerwehren. In Endlosschleife laufen im griechischen Fernsehen die immer gleichen Bilder von der Grenze zur Türkei, unterbrochen nur von neuesten Nachrichten zur Corona-Krise. Der EU-Flüchtlingspakt mit der Türkei sei faktisch tot, Griechenland werde seine Grenzen verteidigen und sich vor illegalen Übertritten schützen, beteuert Premier Kyriakos Mitsotakis in einem CNN-Interview. Sein Englisch ist flüssig und elegant, das Gegenteil zur mehr fragmentarischen Sprachbeherrschung seines Vorgängers Alexis Tsipras. Von ihrer Vita her könnten die beiden Alphatiere der griechischen Politik unterschiedlicher kaum sein. Tsipras besuchte öffentliche Schulen, Mitsotakis das elitäre Athens College. Der eine träumte von einer anderen Welt, den anderen lockte die Finanzwelt. Tispras wollte ein Europa der offenen Grenzen, der andere vollstreckt gerade einen nationalen Plan, um die Landesgrenzen zu sichern.

Kyriakos Mitsotakis (52) kommt aus einer der ältesten Politikerdynastien des Landes. Sein Großvater war Parlamentarier, sein Vater Premier, die Schwester Außenministerin – ein Neffe ist der Bürgermeister Athens. Mitsotakis studierte in Harvard und Stanford, arbeitete dann als Finanzanalyst in London. 2004 ging er für die konservative Nea Dimokratia (ND) ins Parlament, trat dort weder als Scharfmacher noch als charismatische Figur in Erscheinung. Bis heute gilt er als Technokrat und – verglichen mit dem rechten Flügel seiner Partei – als eher moderat. Man müsse den Flüchtlingen das Leben so schwer wie möglich machen, damit sie verstehen, in Griechenland unerwünscht zu sein, hört man von Adonis Georgiadis, Wirtschaftsminister und Vizepräsident der Nea Dimokratia. Ein Ansinnen, das Mitsotakis wohl nicht über die Lippen käme, doch er lässt es unkommentiert.

2016 wird Mitsotakis – trotz seiner gemäßigten Positionen – mit knapper Mehrheit zum Parteichef der Nea Dimokratia gewählt und skizziert bei einem Meeting auf Samos seine Flüchtlingspolitik. Da heißt es, die Lebensumstände der Flüchtlinge in Idomeni, einer Gemeinde in Nordgriechenland, seien inhuman. Die Zeltcamps gehörten aufgelöst und durch landesweite Auffangzentren ersetzt. Dem damaligen Premierminister Tsipras wirft er vor, in der Flüchtlingskrise zögerlich zu handeln. Man müsse die Asylbescheide beschleunigen und die Besetzungen leer stehender Häuser in Athen durch Geflüchtete beenden. Außerdem brauche Griechenland einen Notfallplan, falls der Flüchtlingspakt EU-Türkei in die Brüche gehe.

Als Mitsotakis nach gewonnener Wahl Mitte 2019 Tsipras als Regierungschef ablöst, setzt er auf verjüngte Berater und Regeln, wie sie sonst für Firmen gelten. Stichwort: Zielerfüllung messen und bewerten. Er versteht sich als „Postpopulist“ und Erneuerer der Nea Dimokratia. Bei seinem Amtsantritt sagt er, illegale Migration an den Grenzen müsse verhindert werden, und kommt umgehend zur Sache. Doch statt wie versprochen den Migranten auf den Ägäis-Inseln rasch zu helfen, nimmt er zuerst Athen ins Visier. Das seit 2016 besetzte und von gut 400 Flüchtlingen bewohnte Hotel City Plaza wird geräumt. Durch die Hauptstadt patrouillieren bewaffnete Polizisten. Der Bevölkerung soll ein Gefühl der Sicherheit vermittelt werden. Auch im Quartier Exarchia löst Mitsotakis sein Wahlversprechen ein. Das Viertel in Athen ist eine Hochburg von Anarchisten und Linken, zugleich ein Terrain der Drogenhändler. Von Flüchtlingen bewohnte, sonst leer stehende Häuser werden geräumt. Ein illegal erbautes, aber allgemein toleriertes Informationszentrum für Flüchtlinge muss schließen. Mittlerweile ziehen Spezialkräfte mit Spürhunden fast täglich durch dieses Stadtgebiet, das die Polizei unter der Linksregierung von Syriza nur selten betrat.

Seit 2019 sind die Flüchtlingszahlen erheblich gestiegen, seither kommt es in oder vor den Lagern häufig zu Konfrontationen, seither verschärft die ND-Regierung das Asylrecht, von dem – so Mitsotakis – die Botschaft ausgehe: Jeder könne in Griechenland bleiben. Doch wie schon Alexis Tsipras scheitert auch seine Regierung mit dem Vorhaben, annähernd 20.000 Migranten von den hoffnungslos überlasteten Inseln aufs Festland zu bringen. Zu groß ist dort der Widerstand der Bevölkerung, zu unkalkulierbar erscheinen die politischen Kosten. Kein Parlamentarier, egal welcher Partei, möchte den eigenen Wahlkreis verlieren. Zwar werden eintausend Migranten von den Inseln nach Thessaloniki verlegt, an den furchtbaren Lebensbedingungen in den Camps jedoch änderte sich nichts.

Gegen den Willen der Inselbewohner beschließt die Regierung schließlich den Bau geschlossener Zentren – auch das scheitert. Angerückte Sondereinheiten der Polizei werden durch einen martialisch anmutenden Abwehrkampf in die Flucht geschlagen. Ein vollends überforderter Staat bleibt – wie so oft in der Flüchtlingsfrage – sich selbst überlassen. Niemand in der EU hilft. Die schaltet sich erst wieder ein, als der türkische Präsident Erdoğan Tausende von Migranten an die Grenze mit Griechenland zu lotsen beginnt.

Wie der Kampf gegen die Forderungen der EU-Troika 2015, mitten in der Schuldenkrise, Alexis Tsipras gestärkt hat, eint nun die Grenzschließung ganz Griechenland und stützt Mitsotakis. Die aktuellen Umfragen besagen, 90 Prozent stehen hinter seinem Vorgehen, 92 Prozent halten die Zahl der Migranten im Land für zu hoch.

Richard Fraunberger ist freier Autor und lebt seit 2001 in Griechenland

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