Wenn Katerina Petridi (47) von der Schule nach Hause kommt, möchte sie am liebsten alles hinwerfen und alles vergessen – das tägliche Chaos, die Furcht vor dem Abstieg, den Kampf um ihr berufliches Überleben. Sie ist Deutschlehrerin an einem Gymnasium im Athener Stadtviertel Neos Kosmos und seit 14 Jahren im Schuldienst, Verdienst 970 Euro netto. Das ist nicht viel, aber sie liebt ihre Arbeit.
Seit jedoch im Sommer die Regierung das von der Troika geforderte Gesetz zum Stellenabbau im öffentlichen Dienst verabschiedet hat, lebt sie in ständiger Angst.Es wurden bereits 2.000 Lehrer in die „Mobilitätsreserve“ versetzt, was so viel heißt wie Zwangsbeurlaubung mit einem um 25 Prozent gekürzten Gehalt. Wer nach neun Monaten keine andere Beschäftigung im öffentlichen Dienst gefunden hat, muss sich „dem freien Markt zur Verfügung stellen“. Das heißt, man ist gefeuert. Aus der „Mobilitätsreserve“ führt der Weg schnurstracks in die Arbeitslosigkeit. Dies immer wieder vor Augen zu haben, schockiert Katerina Petridi, die – wie jeder in ihrem Kollegium – darauf hofft, dass die Regierung Samaras den Spar-Vorgaben der Troika nicht Buchstabe für Buchstabe folgt. Denn bis Ende 2014 sollen weitere 12.500 Staatsbedienstete gehen, die meisten davon Lehrer. Wer sich dann zum Zahntechniker, Elektriker oder Friseur umschulen lassen will, muss selber dafür zahlen.
„Alles ist möglich. Heute bist du in der Schule und morgen auf der Straße. Es kann jeden treffen“, sagt Katerina. So, wie es die Putzfrauen an ihrem Gymnasium getroffen habe, den Hausmeister und den Wachdienst. Für Reparaturen am Schulgebäude sind die verbleibenden 45 Lehrer ab sofort selber zuständig. Und wenn ein Kollege in Rente geht, wird er nicht ersetzt. Weil ältere Lehrer aus Furcht vor weiteren Einkommenseinbußen scharenweise in den Ruhestand flüchten, werden mit einem Schlag Personallücken aufgerissen, besonders auf dem Land, wo kaum jemand unterrichten möchte. In vielen Schulen werden daher Fächer wie Biologie, Deutsch, Physik, Englisch oder Chemie gar nicht mehr gelehrt, weil keiner da ist, der sie lehren könnte.
Früher Verschwendung ...
Hinzu kommt eine um zwei Stunden erhöhte Arbeitszeit pro Woche. Ein Erlass, der nach dem Credo „weniger Personal, mehr Effizienz“ Entlassungen ankündigt. Als Deutschlehrerin hat Katerina Petridi kaum Schüler, weil die meisten in ihrer Anstalt Französisch als zweite Fremdsprache vorziehen. Also muss sie ihre Stunden bei Bedarf an anderen Schulen ableisten, schlimmstenfalls auf dem Peloponnes oder auf der 200 Kilometer entfernten Insel Euböa. Kommt sie nicht auf ihre Stundenzahl, droht der Absturz in die Mobilitätsreserve. Über das Versprechen von Konstantinos Arvanitopoulos, dem Erziehungsminister, kann sie nur den Kopf schütteln. Der will freigestellte Lehrer im Gesundheitswesen einsetzen. In den Kliniken fehle es schließlich an Personal. Künftig könnten Patienten von Pädagogen oder Grafikdesignern gepflegt werden. Ein Witz. Und wie immer entscheidet in Griechenland nicht die Qualifikation über die Besetzung einer Stelle, sondern Willkür. Kein Wunder, dass Lehrer, die nicht durch eine der vielen Hintertüren der Bürokratie in den Staatsdienst kamen, genau jene sind, die als Erste entlassen werden.
Auch an den Universitäten wird gestrichen und gekürzt. Betroffen sind Hausmeister, Bibliothekare und die Verwaltung. Empört über die Spardiktate hat sich der Senat der Universität Athen geeinigt, die Hochschule vorübergehend zu schließen.
Gewerkschaften und Verbände sprechen von einem drohenden Bildungsnotstand. Aber Katerina glaubt das nicht. Es gibt Lehrer genug. Das Problem sind schlechte Bücher, unmotivierte Lehrkräfte und ein schlechter Lehrplan. Ziel seien gute Noten statt guter Bildung. Tatsächlich habe erst der schlechte Unterricht an den staatlichen Schulen die Existenz der vielen privaten Nachhilfeinstitute ermöglicht.
Gleichfalls ein Problem sind vom Staat geschaffene kafkaeske Strukturen, die sich nicht aufbrechen lassen, ohne einen Sturm der Entrüstung zu entfachen. Lehrer arbeiten fast überall, wo man sie nicht vermutet. In Gewerkschaftsbüros, in Bibliotheken, Ministerien und Parlamentsbüros – als Sekretäre, Küchenhilfen oder Telefonisten. Allein das Bildungsministerium beschäftige etwa 1.100 Lehrer, mehr als die Hälfte aller dort Angestellten. Um ihre offenen Stellen an den Schulen zu füllen, in die sie jederzeit zurückkehren können, werden gern Lehrer mit Zeitverträgen eingestellt.
Doch das bleibt nicht der einzige Kunstgriff des Staatsapparats. Für Schlagzeilen sorgte die Insel Agios Efstratios. Auf dem dortigen Gymnasium unterrichteten bis vor Kurzem elf Lehrer acht Schüler. Absurde Zustände, die aus einer Zeit stammen, als PASOK-Regierungen ihr Klientel bedienten und Heerscharen von Lehrern einstellten, die nie gebraucht wurden. Besonders Ausschreibungen an entlegenen Orten waren begehrt, weil Zulagen winkten. Kaum hatte man die bewusste Stelle angetreten, ließ man sich umgehend nach Athen zurückversetzen. Dass trotzdem weiter jahrelang die Zulage kassiert wurde, versteht sich von selbst.
Seit 2010 nun, seit dem offenen Ausbruch der Schuldenkrise, versucht die Regierung in Athen, den Sparauflagen der Troika zu gehorchen, und schleift das Bildungssystem. Dabei geht es oft kopflos und willkürlich zu. Im Sommer beispielsweise strich das Bildungsministerium für bestimmte Klassenstufen der Gymnasien die Fächer Kunst, Musik und Biologie. Kaum ging ein Aufschrei durchs Land, wurde der Beschluss wieder zurückgenommen. Den Plan, den sogenannten Technologieunterricht abzuschaffen, gab das Ministerium ebenso auf. Derzeit kursieren Gerüchte, es werde beabsichtigt, alle Fremdsprachen an den Schulen ersatzlos zu streichen und an private Institute auszulagern. Damit wäre Griechenland der einzige Staat in der EU, der seine Schulkinder in einer toten Sprache, nämlich Altgriechisch, unterrichtet und sie hinterher, zum Erlernen einer für Studium und Berufsleben unentbehrlichen Fremdsprache an Privatschule schickt, die sich nicht alle leisten können. Eine Absurdität und ein Akt der Verzweiflung, den eine Regierung, vorführt, die weder einen Plan hat noch den Willen besitzt, den Staat ernsthaft zu reformieren, zu hoch sind die politischen Kosten.
... heute Verelendung
Für die Elternhäuser bedeutet die harte Sparpolitik vor allem eines: Auch sie müssen noch mehr sparen. So müssen viele Kinder auf Schulausflüge verzichten, auch das Geld für Ballett- und Musikunterricht ist weniger geworden, von Nachhilfestunden ganz zu schweigen. Die größte Hilfe in der Krise sind die Großeltern. Von ihrer Rente kaufen sie Schulranzen, Computer, Bücher, sie kochen und helfen aus mit Oliven, Käse, Brot und Eiern aus dem eigenen Stall oder Garten. Sie bezahlen die Gebühren für den kommunalen Kindergarten, die – je nach Verdienst der Eltern – zwischen 40 und 100 Euro pro Monat liegen. „Wer sich das als Alleinerziehender nicht leisten kann, hat die Möglichkeit, seine Kinder in Privatkindergärten zu schicken, die mit EU-Strukturgeldern finanziert werden“, sagt Maria Tsaflidi. Sie leitet in Piräus kommunale Kinderläden und weiß, wie sich die Krise auswirkt. „Die Kinder spüren, dass es Probleme in der Familie gibt. Noch fällt niemand vor Hunger in Ohnmacht, Einzelfälle ausgenommen.“
Auch Katerina Petridi möchte nicht von „Kinderelend“ sprechen. Im letzten UNICEF-Report liegt Griechenland jedoch klar unter dem Durchschnitt der OECD- Länder. Haushalte gelten als arm, wenn deren Einkommen um mehr als 50 Prozent das nationale Durchschnittseinkommen unterschreiten. Doch was sagt das aus über die tatsächliche Lebenslage von Kindern?
Die Lehrer in Petridis Schule legen nicht selten Geld zusammen und kaufen bedürftigen Schülern Pausenbrote und Milch. Es sind oft die Töchter und Söhne arbeitsloser, alleinerziehender Mütter, oft Kinder aus Libyen, Algerien, Pakistan, Bulgarien, vor allem aus Syrien, deren Eltern keine Arbeit finden. Beinahe zwei Drittel der Schüler in ihrer Schule seien Migranten, sagt Katerina Petridi. Ihre Eltern schufteten als Gelegenheits-Tagelöhner für 30 Euro. Viele der Kinder würden gut Griechisch sprechen, aber es fehle an einem helfenden Elternhaus. „Die Kinder entbehren, worauf sie gerade jetzt in der Krise am meisten angewiesen sind – den Halt der Großfamilie.“
Richard Fraunberger ist freier Autor und lebt in Athen
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