"Für mich ist die ,Ampel' eine Alternative"

SPD. Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) über die norddeutschen Häfen, die Bundestagswahl und statt AfD - Alternative „Ampel“?

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Ihre Freitag-Redaktion

Herr Minister, ich möchte mit Ihnen heute vor allem über die Bundespolitik sprechen, aber beginnen wir mit einem regionalen Thema. Im Herbst 2012 wurde der JadeWeserPort (JWP) in Betrieb genommen. Wie lautet Ihre Bilanz für den Hafen heute?

Wir hatten zwei extrem schwierige und schlechte Jahre, das waren 2013 und 2014. Es kam dann im Jahr 2015 endlich der ersehnte Schwung mit den Linien von Maersk und MSC. Es hat sehr lange gedauert, im vergangenen Jahr hat sich die Lage jedoch stabilisiert. Wir haben jetzt 13 % an Wachstum hinzubekommen und sind inzwischen bei einer halben Million TEU (für Twenty-foot Equivalent Unit entspricht einem Zwanzig Fuß Container). Das ist bei weitem noch nicht der Zustand, den wir anstreben, aber immerhin. Über die jetzt getroffene Entscheidung der "Ocean Alliance" (Reedereiverbund) werden ja vier weitere große Redereien den Hafen anlaufen. Und nochmal zwei weitere Reedereien, über Hyundai und Hamburg Süd, die der Alliance bei Emden zugehören. Also ein positives Signal. Und wir hoffen jetzt, dass sich der Container-Umschlag in den nächsten Jahren auch entsprechend entwickeln wird. Unser Ziel: Im nächsten Jahr die Millionengrenze greifbar zu haben und damit auch schon in die Ausbauplanung der nächsten Stufe zu gehen.

Eingebetteter Medieninhalt

Im NDR wurde vor einiger Zeit in der Reportage "45 Min.", in der Sie auch zu sehen waren, ein Vorschlag des „World Wide Fund For Nature“ zur Kooperation der Häfen Hamburg, Wilhelmshaven und Bremerhaven angesprochen. Was halten Sie von dem Vorschlag?

Das ist eine Idee, die wir immer wieder in den Vordergrund stellen. Hamburg ist ein extrem starker Hafen, den wir auch brauchen. Das ist der größte Hafen auch für Niedersachsen. Da arbeiten mehr Menschen als je in Wilhelmshaven arbeiten können. Wir brauchen ein starkes Hamburg, ein starkes Bremerhaven und ein starkes Wilhelmshaven. Alle drei Standorte haben unterschiedliche Vorteile. Wilhelmshaven hat als einziger Hafen den restriktionsfreien Anlauf. Tideunabhängig; die ganz großen Schiffe können dort anlegen, was in Hamburg so immer schwerer wird. Und deswegen bin ich davon überzeugt: Wir brauchen gerade mit Blick auf die Digitalisierung eine Vernetzung der Häfen. Wir brauchen den virtuellen Hafen Norddeutschland als Plattform, die den Zugang eröffnet zu den Vorteilen unserer drei Standorte. Ich bin überzeugt davon, dass wir über eine solche Zusammenarbeit – die man jetzt im Detail ausarbeiten muss – wettbewerbsfähiger sind und sich das Motto von Wilhelmshaven erfüllt: Wir wollen nicht Container von Hamburg nach Wilhelmshaven verlagern. Wir wollen insgesamt mehr Container für Deutschland.

Sehen die Hamburger das denn auch so?

Nein, die Hamburger sehen das anders. Sie glauben daran, dass Hamburg sich auch allein positiv entwickelt. Sie diskutieren zum Teil sogar die Schiffsgrößenentwicklungen weg und behaupten, dass die Schiffe wieder kleiner werden. Nun zeigt sich gerade bei den neuen Linien, dass ja die ganz großen Schiffe mit 20.000 TEU und mehr jetzt auch Wilhelmshaven anlaufen werden. Also: Hamburg sieht das nicht so. Ich halte das für einen riesigen Fehler und werde daher auch nicht nachlassen im Druck. Wir müssen uns im Norden gemeinsam aufstellen. Wir müssen gerade mit Blick auf die Digitalisierung und neue Geschäftsmodelle, die sich ergeben werden, zukunftsfähig aufgestellt sein. Da geht es nicht um Konkurrenz zwischen Hamburg und Wilhelmshaven. Da geht es um die Konkurrenz, die wir westlich von uns in den ZARA-Häfen haben. Da geht es immer stärker auch um Südeuropa. Insofern ist noch viel Überzeugungsarbeit in Hamburg zu leisten.

Worin sehen Sie die Vorteile der von Ihnen vorgeschlagenen Umbenennung des JWP in „Containerhafen Wilhelmshaven“?

Als wir 2013 angefangen haben als Landesregierung, war ja klar, wie schwierig es sein wird, den Hafen am Markt zu positionieren. Wir haben damals eine Vermarktungsgesellschaft gegründet, mit Herrn Bullwinkel an der Spitze, also mit Topleuten, die sowohl national als auch international den Hafen vermarkten. Und schon damals habe ich gesagt: „Der Jade-Weser-Port ist ein toller Name. Aber Jade und Weser sind nicht in aller Welt bekannt. Und es gibt auch keinen bedeutenden Hafen weltweit, der nicht den Namen seiner Stadt trägt. Und deswegen haben wir damals schon gesagt – "Container-Terminal Wilhelmshaven ist der Name" – und darunter taucht auch immer noch der Name Jade-Weser Port auf. Also, ich will hier gar keinen neuen Namen. Aber ich glaube, dass wir deutlich den Bezug von Hafen und Stadt herstellen müssen.

Und, das will ich noch ergänzen. Ich bin gebürtiger Wilhelmshavener. Ich bin stolz auf diese Stadt und ich verstehe gar nicht, warum wir bei einem internationalen Welthafen den Namen der Stadt verstecken.

Auch in Anlehnung an die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Elbvertiefung müssen wir in Wilhelmshaven wohl nicht mit Verbandsklagen gegen eine Fahrrinnenanpassung oder dergleichen rechnen. Zahlen sich die strukturellen Vorteile des JWP – als Tiefwasserhafen – gegenüber dem Hamburger Hafen endlich aus?

Die Fahrrinnenanpassung Elbe ist losgelöst von der Frage der Kooperation im Norden. Wenn die vor 15 Jahren begonnene Planung der Fahrrinnenanpassung, nun umgesetzt wird, dann laufen da immer noch keine 16-, 17- oder 18-tausender Schiffe rein. Restriktionsfrei sowieso nicht, und es geht um die 13- bis 14-tausend-TEU-Schiffe. Da entsteht manchmal der falsche Eindruck in der Diskussion, auch von Hamburg geprägt, in dem Sinne: „Wenn wir die Fahrrinnenanpassung haben, dann ist die Zufahrt für alle Schiffsgrößen gesichert.“ Das ist natürlich überhaupt nicht der Fall.

Aber natürlich akzeptiere ich und kann auch nachvollziehen, dass Hamburg sagt: „Wir sind auf die Fahrrinnenanpassung angewiesen.“ Ich sage das auch deshalb, weil wir zeitgleich eine Fahrrinnenanpassung der Weser bis Brake und eine Anpassung der Außen-Ems bis Emden planen. Es ist ja nicht ungewöhnlich, dass man seine Häfen wettbewerbsfähig aufstellt.

Nur, es hilft nicht. Die großen Schiffe werden trotzdem nicht restriktionsfrei nach Hamburg fahren können. Eine Fahrrinnenanpassung ist kein Ersatz für die Zusammenarbeit der Häfen in Norddeutschland.

Themawechsel: Wie bewerten Sie die Aussage des früheren Aufsichtsratschefs Porsches, Ferdinand Piëch, er habe vier Aufsichtsräte, darunter den niedersächsischen Ministerpräsidenten Weil (SPD), bereits im März 2015 über Hinweise der Abgasmanipulationen VWs in den USA informiert? Der Betrug flog offiziell erst im Herbst 2015 auf.

Der Vorwurf richtete sich ja gegen vier Mitglieder des Präsidiums. Es hat sich deutlich herausgestellt, dass alle vier Mitglieder sagten, dass dieser Vorwurf nicht stimme. Übrigens nicht nur diese vier, sondern auch zwei Außenstehende waren dieser Auffassung, nämlich die von Ferdinand Piëch zitierten Zeugen. Also, ich glaube das ist das letzte, was wir brauchen. Das mit falschen Anschuldigungen eine solche Debatte noch angeheizt wird.

Wir investieren sehr viel Zeit in die Aufklärung und Abarbeitung des Abgasskandals, damit die Kundenzufriedenheit wieder hergestellt wird.

Außerdem investieren wir viel Zeit darin, bei Volkswagen die Zukunft voranzutreiben – mit den Themen Digitalisierung und Elektromobilität.

Ich glaube an der Stelle haben sowohl der Ministerpräsident als auch alle anderen Beteiligten klar zu verstehen gegeben, dass die Anschuldigungen Piëchs falsch sind.

Schließlich möchte ich noch auf den Bundestagswahlkampf zu sprechen kommen. Hat Sie der Rückzieher Gabriels für die Kanzlerkandidatur und seine Aufgabe des Parteivorsitzes überrascht?

Ja, absolut. Ich bin bis zum Schluss eigentlich fest davon ausgegangen, dass Sigmar Gabriel die Kanzlerkandidatur angehen will. Ich glaube, er hat sich diese Entscheidung auch nicht leicht gemacht. Und er hat sie auch nicht sehr früh entschieden. Wie wir heute sehen, war es die richtige Entscheidung.

Haben Sie denn auch von der Entscheidung erst durch die Medien erfahren oder wurden Sie als SPD-Politiker bereits früher von Gabriels Entscheidung informiert?

Nein, das hat mich wirklich überrascht. Das habe ich wie viele andere aus den Medien erfahren. Das war wahrscheinlich die einzige Chance, am Ende auch ein Signal zu setzen: Der Wechsel an der Parteispitze sollte sich als Nachricht sozusagen nicht flüchtig und allmählich verbreiten, sondern es musste ein großer Aufschlag sein. Das ist Sigmar Gabriel an der Stelle ja auch gelungen, wie das ja typisch für ihn ist. Insofern ist die Frage der Kanzlerkandidatur sehr im Hintergrund behandelt worden. Ich glaube, dass nur sehr wenige eingeweiht waren. Das hat uns im ersten Moment sogar geärgert. Im Nachhinein war diese Vorgehensweise vielleicht sogar auch der richtige Weg.

Was ist das Geheimnis des heiligen „Sankt Martin“, der der Sozialdemokratie nun wieder die langersehnten Spitzen-Umfragewerte beschert?

Ich glaube, man sollte mit solchen Formulierungen wie Sankt Martin sicherlich vorsichtig sein. Aber natürlich erleben wir gerade als Partei etwas, auf das wir so viele Jahre gewartet haben. Das Gefühl, mit den eigenen Positionen, den eigenen Vorstellungen und dem eigenen Spitzenkandidaten so im Gleichklang unterwegs zu sein. Das haben wir bei den letzten Wahlen einfach nicht erlebt. Umso mehr tut es jetzt der Partei verdammt gut. Es tut übrigens auch der Demokratie gut. Der Demokratie in Deutschland schadet gerade nicht, wenn es eine starke SPD gibt. Und wir sehen aus den Schlussfolgerungen steigender Umfragewerte für die SPD ja auch, dass dies beispielsweise zu Lasten der AfD geht. Ich glaube, dass wir jetzt wieder in einer wirklichen politischen Auseinandersetzung sind, mit unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wohin sich unser Land entwickeln soll. Das ist gut für die Demokratie, gut für die Bürgerinnen und Bürger, gut für die Wählerinnen und Wähler. Die können sich jetzt wirklich entscheiden. Es gibt Unterschiede. Schauen wir uns diese an. Und für diese ganze Diskussion steht einfach das Gesicht Martin Schulz. Das ist für uns gut. Dass die Umfragewerte in einer derartigen Intensität in die Höhe schnellen, hat mich auch überrascht. Aber es gelingt ihm, authentisch, glaubwürdig und nicht vorbelastet von politischer Verantwortung in Berlin diese Positionen rüberzubringen.

Hat Sie der fulminante Aufschwung der SPD in den Umfragen auch selbst überrascht?

Ja, das auch. Früher wenn die Schlagzeilen schlecht waren, haben wir gesagt: „Das sind ja nur Umfragen.“ Und jetzt, wo die Zeilen gut sind. Da sagen wir natürlich: „Das sind ja Umfragen! Die weisen deutlich eine Tendenz vor!“ Ne, ich glaube damit muss man am Ende vorsichtig sein. Das sind natürlich Stimmungswerte zu dieser Zeit. Aber eines ist klar. Eine politische Partei im Aufwind ist anders motiviert, ist in der Lage anders aufzutreten, wirkt auch überzeugender als eine – und das haben wir ja viele Jahre erlebt –, die aus einer Defensivhaltung nicht herauskommt.

Bundesfinanzminister Schäuble hat in einem Spiegel-Interview Martin Schulz mit Donald Trump verglichen. „Die Art, wie Schulz populistisch die angebliche Spaltung der Gesellschaft beschwöre, folge der postfaktischen Methode des US-Wahlkampfs.[1]“war in dem Artikel des SPIEGEL zu lesen. Mal unabhängig von „rechts“ oder „links“, ist Martin Schulz ein Populist?

Martin Schulz benennt die Dinge sehr klar, mit Worten, die die Leute verstehen.

Politik findet ja nicht im Verborgenen statt. Politik findet statt, indem man in der Öffentlichkeit mit Menschen deutliche, klare Worte findet und kommuniziert. Das ist übrigens die einzige Chance, Leute, die mit wirklichen Populisten wie der AfD sympathisieren, wieder zurück zu gewinnen. Martin Schulz benennt einfach klare Fakten, die – das gebe ich zu – in der Vergangenheit zwar deutlich angesprochen, aber nicht öffentlich mit dieser Wirkung so benannt wurden. Er beschreibt die Situation in Deutschland sehr real. Und er beschreibt sie nicht nur statistisch, wie wir es gerne in der Politik machen, sondern er benennt auch die emotional kritischen Punkte. Das ist eine gewählte Form, in populärer Art Politik deutlich zu machen. Und das muss ja kein Nachteil sein. Schulz’ Inhalte allerdings mit dem Vorgehen im US-Wahlkampf zu vergleichen, ist eine Unverschämtheit.

Populismus per se kann man ja nicht nur negativ bewerten, oder?

Genau, der Begriff ist jetzt verramscht, auch durch den US-Wahlkampf im letzten Jahr. Da sind wir uns wohl sehr schnell einig. Aber das hat nichts damit zu tun, was Martin Schulz gerade in Deutschland macht.

Was halten Sie denn von den Vorwürfen seitens der Union, die in letzter Zeit wieder öfter gegen Schulz vorgebracht werden? Ich spreche von dem Vorhaben, engen Mitarbeitern Titel wie denjenigen des „Referatsleiters“ zu verleihen oder der Inanspruchnahme von Reisegebühren für nicht angetretene Reisen durch einen engen Mitarbeiter.

Das gehört zum politischen Geschäft dazu. Davon kann man sich nicht frei machen. Dass die Parteien natürlich mit großer Sorge auf die Gegenkandidaten schauen und es am Ende nicht nur um die sachlichen Argumente geht, sondern leider, leider viel zu oft nur darum, mit „Dreck zu werfen“. Das ist so. Davon kann sich am Ende keine Partei frei machen. Wichtig dabei ist, dass Sachverhalte transparent aufgeklärt werden. Und wenn dann die entsprechenden Aufklärungen zeigen: „Da ist nichts dran. Dann ist es eben so.“ Und dann ist es mir lieber, der Sachverhalt kommt auf den Tisch und wird abgearbeitet, als wenn man versucht irgendetwas unter den Tisch zu kehren. Ich glaube, dass Martin den Vorwürfen transparent begegnet. Deswegen verfängt der Versuch der Diskreditierung seiner Person seitens der Union ja auch nicht.

Aus kommunalpolitischen Kreisen, nicht nur bei uns in Norddeutschland, ist zu verlauten, dass die SPD wieder stärker die Interessen der Arbeitnehmer in den Blick nehmen solle. Von einem SPD-Kommunalpolitiker habe ich einmal sinngemäß gehört: „Für jeden Arbeitnehmer in Deutschland muss die SPD wieder die natürliche Wahloption sein.“ Was halten Sie von dieser Aussage?

Das sind wir. Ich glaube, das sind wir auch. Aber ist es uns einfach nicht mehr gelungen, aus einer Situation mit der Agenda 2010 im Rücken die Gesellschaft mitzunehmen. Die Agenda 2010 hat schon vieles verändert, sie hat in der Wirtschaft viel Positives verändert, zum Beispiel für die Entwicklung von Arbeitsplätzen gesorgt. Aber es ist uns gar nicht gelungen, uns von dieser Agenda zu befreien und mal wieder eine eigene Position der SPD aufzubauen. Und ich denke, dass gerade mit Blick auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – und dazu sollte man anmerken, dass gerade für eine Partei mit einer 154-jährigen Tradition, die entstanden ist aus dem Gedanken heraus: Was bedeutet eigentlich die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft für Menschen, die in Arbeit sind? Wie sorge ich eigentlich dafür, dass anständige Bedingungen für alle herrschen? Dass wir nun auch von den Umfragen in einer solchen Situation sind, in der uns ein Regierungswechsel gelingen kann. Es ist natürlich nicht so, dass wir plötzlich ganz andere Menschen sind oder völlig andere Positionen haben. Aber ein bisschen ist dieser erdrückende Deckel über uns weg und wir sind in der Lage, uns auch wieder kritisch auseinander zu setzen mit dem, was in der Vergangenheit war. Und wenn wir aber wieder Vertrauen als Wahloption bekommen wollen, dann müssen wir auch mal sagen, was wir falsch gemacht haben. Und falsch gemacht haben wir, dass wir die Debatte um den Mindestlohn viel zu spät begonnen haben. Wir haben ihn dann umgesetzt. Aber das war trotzdem zu spät. Falsch gemacht haben wir auch, dass wir nicht an den geeigneten, richtigen Stellen der Agenda 2010 Korrekturen vorgenommen haben. Nicht zurückdrehen, Korrekturen sind gemeint, weil sie Ungerechtigkeiten hervorgerufen haben.

Also, die erste Botschaft: Sich selbst eingestehen, wenn etwas falsch war. Die zweite Botschaft ist: vorzuschlagen, wie ein anderer Weg aussehen kann. Und dann ist man auch wieder eine Wahloption. Und dann hat der Wähler auch die Möglichkeit, sich zu entscheiden.

Meine Frage zielte eher auf die Überlegung ab, ob sich die SPD wieder mehr milieuspezifisch auf einige Wählergruppen fokussieren möchte oder, ob sie an der Ausrichtung als „Volkspartei“ seit “Bad Godesberg“ festhalten möchte?

Also, die SPD ist klar eine Volkspartei. Sie soll sich nicht ausschließlich an Arbeitnehmer richten. Das ist auch völliger Unsinn, denn wenn wir das Ziel erreichen wollen, dass hier in Deutschland gute und fair bezahlte Arbeitsplätze existieren, dann geht das nicht ohne Unternehmen. Es geht nicht ohne engagierte Familienunternehmen, die für gute Rahmenbedingungen sorgen. Es geht nicht ohne Investitionen, die in Deutschland getätigt werden. Wir brauchen, wenn wir das sicherstellen wollen, Rahmenbedingungen, damit die Wirtschaft in unserem Land auch existiert. Und deswegen bin ich fest davon überzeugt - nicht nur auf Grund der eigenen Ausrichtung – dass eine gute Politik im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch eine gute Wirtschaftspolitik bedeutet. Deswegen würde ich mich aber nicht darauf reduzieren lassen wollen, dass wir uns auf die Vertretung der Arbeitnehmerinnen UND Arbeitnehmer beschränken. Das ist viel zu kurz gedacht. Wir brauchen stattdessen eine Politik, die der ganzen Gesellschaft gerecht wird. Und zu dieser Gesellschaft gehören soziale Fragen, wirtschaftspolitische Fragen und auch Fragen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betreffen. All diesen Problembereichen muss die SPD gerecht werden.

Wie am vor einiger Zeit (9. März) in der SZ zu lesen war, unterstützen sowohl Parlamentarische Linke als auch Seeheimer Schulz’ Reformpläne. Parteivize Schäfer-Gümbel bezeichnete den Vorschlag als „echten Fortschritt in der Arbeitsmarktpolitik“, Johannes Kahrs nannte die Pläne „ausgesprochen vernünftig(...)“. Was halten Sie vom „Arbeitslosengeld Q“, das nicht auf die Zeit angerechnet werden solle, in der ein Betroffener Anspruch auf Arbeitslosengeld I hat

Wir haben Arbeitsmarktdaten, die so gut sind wie nie. Und eigentlich müssten alle zufrieden sein. So ist es aber nicht, weil wir auch die Menschen in der Statistik nicht mehr drin haben, die vielleicht zehn oder fünfzehn Stunden wöchentlicharbeiten oder die in Weiterbildung sind. Ich habe ein wenig die Sorge, dass die Zahlen etwas geschönt werden. Wenn ich das realistisch betrachte, dann fühle ich mich erleichtert, dass wir endlich die Themen, die uns lange schon auf dem Herzen liegen nicht nur offen ansprechen, sondern auch mit der Position des Spitzenkandidaten mit Lösungen versehen. Die Agenda 2010 – Menschen aus der Sozialhilfe wieder in die Arbeit zu bringen, Menschen eine Perspektive auf Arbeit zu geben - war richtig. Es gab aber Fehler dabei. Der erste große Fehler war, dass der Mindestlohn nicht bereits früher eingeführt wurde. Das hat zu riesigen Verwerfungen in Deutschland geführt. Man hätte vor Umsetzung der Agenda den Mindestlohn einführen sollen, dann hätten wir uns eine so starke Absenkung des Lohnniveaus ersparen können.

Und der zweite Punkt bezieht sich auf die Frage: Was ist mit älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern? Alle sagen immer: Der Arbeitsmarkt sucht dich, aber frag’ doch mal die 55-Jährigen, wie schwierig es ist, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. 55 Jahre heißt 18 Monate Arbeitslosengeld I. 58 Jahre heißt 24 Monate Arbeitslosengeld I. Und danach bedeutet es, am Existenzminimum zu leben. Menschen, die 30, 35 Jahre gearbeitet haben, kommen in eine Situation, in der sie in kürzester Zeit all das, was sie sich aufgebaut haben gefährdet sehen oder sogar verlieren. Und das ist ungerecht! Und deswegen ist es vollkommen richtig zu sagen: Die Lösungen die wir beim ALG I haben greifen nicht. Es darf nicht sein, dass jemand, der 55 Jahre alt ist, der 35 Jahre gearbeitet hat bereits nach 18 Monaten genauso behandelt wird wie jemand, der nur ein, zwei, drei Jahre gearbeitet oder sogar gar nicht gearbeitet hat. Solche Szenarien sind ungerecht! Genau diesen Punkt greift Martin Schulz, und greift die SPD auf. Und es ist ausgesprochen richtig, dass wir die Arbeitsmarktreformen, die das richtige Ziel hatten, korrigieren. Damit auch die sozialen Verwerfungen, die entstanden sind, verringert werden.

Das ebenfalls vorgeschlagene höhere sogenannte Schonvermögen von 300 Euro pro Lebensjahr statt den bisherigen 150 Euro halten Sie dann auch für sinnvoll?

Selbst dieser Vorschlag ist ja noch zurückhaltend. Man muss sich das nur einmal vorstellen. Das sind Menschen, die arbeiten ein Leben lang. Man kennt natürlich auch aus dem persönlichen Umfeld Betroffene. Die arbeiten ihr Leben lang 30, 35 Jahre. Und die sparen natürlich auch, weil sie sich für die Zukunft was haben wollen. Weil sie sich etwas gönnen wollen im Alter. Dann werden sie arbeitslos. Sind 55. Finden vielleicht keinen Arbeitsplatz mehr, weil die Praxis anders ist als die Theorie. Und all das, was sie erspart haben – wofür sie ja selbst gearbeitet haben, das haben sie ja nicht geschenkt gekriegt – sollen sie dann wieder aufgeben. Das ist einfach ungerecht. Und deswegen ist die Diskussion über das Schonvermögen – was ja an sich schon ein schwieriger Begriff ist – absolut richtig. Ehrlicherweise sind selbst die 300 Euro ein sehr bescheidener Anteil für Menschen, die das Geld ja nicht gestohlen, sondern erarbeitet haben als Vermögen. Also es ist richtig, dass wir darüber diskutieren. Und wir werden Lösungen finden müssen, die es denen ermöglichen, die für ihr Geld gearbeitet haben, dass sie nicht alles in kürzester Zeit verlieren.

Die AfD liegt derzeit in den Umfragen bei circa 9 bis 10 % und hat insbesondere nach dem Bekanntwerden der Kandidatur von Schulz und den Äußerungen Höckes zur deutschen Erinnerungspolitik an Prozentpunkten eingebüßt. Wie sehen Sie die Chancen der AfD für die Bundestagswahl?

Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, eines ist doch klar: Wenn wir uns mal die Wahlergebnisse ansehen und auch die Umfragen betrachten. Dann ist das nicht das Potenzial der Menschen, die rechtes Gedankengut hegen. Stattessen ist ein großer Teil extrem unzufrieden mit der Politik. Ich will es mal offen formulieren: Mit Politikern. Denn die Kritik stört sich doch weniger an inhaltlicher Politik und Parteien. Meistens geht es eher um uns Politiker als Personen, die in einem kritischen Licht gesehen werden.

Die AfD hat in letzter Zeit aber immer nur gesagt, was sie alles nicht will. Die Partei hat in Wahrheit doch keine inhaltliche Substanz.

Die Menschen erkennen jetzt langsam, dass die AfD den internen Richtungsstreit sehr, sehr eindeutig für entschieden hat. Die Rechtsaußen haben das Sagen. Sie ist ja aus einer ganz anderen „Historie“ heraus entstanden, ist aber eine rechtspopulistische Partei geworden, die sogar sehr bewusst mit rechtspopulistischen und radikalen Thesen darauf setzt, den Menschen Angst zu machen und sie in ihren Bann zu ziehen. Und das alles natürlich in einer Phase, die schwierig war, wenn ich an die Situation der fliehenden Menschen 2015 denke. Die uns aber auch gezeigt hat, wie stark Deutschland ist, weil es zigtausende von Ehrenamtlichen waren, die sich eingesetzt haben und sich heute noch für die Integration der Geflüchteten engagieren. Wir können auch stolz auf unser Land sein und sollten dieses Bild in den Vordergrund stellen und nicht die vermeintlich neuen „Montagsdemonstrationen“ Einzelner.

In Bezug auf unser parlamentarisches System ist das große Problem derzeit, dass wir in Berlin keine starke Opposition haben. Es gab bezüglich der Flüchtlingspolitik beispielsweise keine sich deutlich unterscheidende Positionen im Bundestag. Egal, ob es die große Koalition war oder, ob es die Oppositionsparteien Grüne und Linke waren. Ich denke, dass ein Land davon lebt, dass es eine starke Demokratie hat. Und diese lebt wiederum von politischer Auseinandersetzung. Und wenn jetzt die politische Auseinandersetzung wieder hauptsächlich zwischen den größeren Parteien stattfindet, nimmt das der AfD den Raum.

Übrigens, auch mit Blick auf die Landtagswahl 2018 ist unser Ziel, dass die AfD nicht in das niedersächsische Parlament einzieht. Es wird uns gelingen, die Menschen zu überzeugen, dass wir „Alternativen“ genug bieten zwischen den demokratischen Parteien, die wir haben.

Die Linke hat vielleicht keine grundsätzliche, aber teilweise doch recht deutliche Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik erhoben? Hat die AfD in der Hinsicht der Linken ihre Stellung als Protestpartei abgegraben?

Die AfD war so ein Stück außerparlamentarische Opposition. Weil es in Wahrheit, von einigen Nuancen mal abgesehen, auch keine Alternativen zu Merkels Entscheidung im Herbst 2015 gab. Und somit gab es auch keine wirkliche Opposition in dieser Frage. Ehrlicherweise: Was sollte man denn machen? Die ganzen Debatten über Obergrenzen. Wie sollte man das denn umsetzen. Die Menschen waren da, standen an unseren Grenzen, sie waren in Not. Und es gab in Europa nur ein Land, das maßgeblich geholfen hat, nämlich Deutschland.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Aufnahme der Geflüchteten sich für Deutschland als Erfolg herausstellen wird. Wir haben international auch gezeigt, wie die deutsche Gesellschaft zusammenhält. Das hat mich auch an die plötzlich ganz andere Wahrnehmung Deutschlands im WM-Jahr 2006 erinnert. Das haben wir 2015 in anderer Form wieder geschafft. Deutschland ist anders wahrgenommen worden. Wir haben hier zusammen gehalten. Und das lasse ich auch nicht von denen zerstören, die gegen Flüchtlinge auf die Straße gehen.

Aber im Bundestag hat eine kritische Auseinandersetzung dazu gefehlt, weil auch die Opposition keine wirklich andere Meinung hatte. Diese parlamentarische Gleichförmigkeit hat auch dazu geführt, dass die Leute gesagt haben: „Das kann doch nicht sein, dass die da alle gleicher Meinung sind. Wo sind denn die Andersdenkenden?“ Und zwar nicht, weil sie rechten, nationalistischen Gedanken anhängen, sondern weil das Gefühl der Alternative gefehlt hat. Deswegen ist eine große Koalition nicht förderlich für den demokratischen Prozess.

Sprechen Sie sich damit klar gegen eine große Koalition nach der nächsten Bundestagswahl aus? Auch wenn diese unter roter Führung stünde?

Da müssen wir erstmal die Ergebnisse abwarten. Aber ich will das mal beschreiben. Die große Koalition zerstört politische Debatten auch im Parlament. Sie gibt nicht genug Raum dafür. Ich würde mir wünschen, dass wir nach der Bundestagswahl dieses Jahr Mehrheiten haben, die eine andere Regierungskoalition ermöglichen.

Haben Sie ein präferiertes Koalitionsbündnis?

Aus der guten Arbeit in Niedersachsen zeigt sich, dass eine rot-grüne Koalition eine gute Basis ist. Aber ehrlicherweise müssen wir sagen, dass wir nicht wissen, ob die Mehrheiten dafür ausreichen. Und aus der praktischen Lebenserfahrung heraus, aus der Zusammenarbeit, ist die „Ampel“ für mich eine echte Alternative. Drei Parteien sind zwar immer schwierig, alle drei haben unterschiedliche Profile, die manchmal nicht zusammenpassen. Aber immer noch besser, als eine große Koalition, die erdrückend wirkt in der Demokratie.

Wie wahrscheinlich halten Sie einen Parteiausschluss des thüringischen Landesvorsitzenden und wozu dient Ihrer Meinung nach das Verfahren?

Meinen Sie Bernd oder Björn Höcke? Nein, Spaß beiseite. Welche Mitglieder eine andere Partei ausschließt oder nicht, da möchte ich mich nicht einmischen. Wenn hier allerdings der Eindruck erweckt werden soll, dass mit dem Ausschluss Björn Höckes auch das rechte Gedankengut verschwinde; das ist doch ein bisschen zu kurz gegriffen. Da gibt es eine ganze Reihe führender AfD-Politiker, die mindestens genauso mit dem „rechten Feuer“ spielen und diese nationalsozialistischen Anlehnungen, beispielsweise hinsichtlich ihres Vokabulars, in ihre politische Strategie einbetten. Wenn die AfD glaubt, der Ausschluss Höckes sei ein politischer Befreiungsschlag, dann greift ihre Einschätzung viel zu kurz. Das werden die Bürger der „vermeintlichen Alternative“ auch nicht abkaufen. Aber die Entscheidung darüber muss die AfD selbstverständlich selbst treffen.

Was für mich persönlich schwierig ist: Ich möchte nicht Mitglied einer Partei sein, wo derartige Meinungen geäußert werden, wie dies der thüringische AfD-Landesvorsitzende tut.

Die AfD hat ja in einigen Bundesländern wie Sachsen-Anhalt mit 24,3 % enorm stark abgeschnitten. In Niedersachsen hört man von der AfD vergleichsweise wenig. Sie liegt in einer Umfrage zur niedersächsischen Landtagswahl Anfang 2018 derzeit bei 8 %. Warum ist die AfD in Niedersachsen und anderen norddeutschen Bundesländern wie Schleswig-Holstein oder Hamburg weniger stark?

Dazu muss man sich fragen, warum Menschen bereit sind, die AfD zu wählen. Das hat sicher auch viel mit Angst zu tun. Angst etwas zu verlieren, Angst vor Veränderung. Dass die Sorgen der Bürger auch gerade in der Zeit des hohen Flüchtlingsstroms gerade dort besonders ausgeprägt waren, wo gar nicht so viele Flüchtlinge untergebracht wurden, ist schon bemerkenswert. Die Ängste der Menschen, etwas zu verlieren, sind wohl deutlich größer als wir Politiker das wahrnehmen. Das war in der Phase der Wahlen, auch in Ostdeutschland schon ein sehr bestimmendes Thema. Mit der nun auch veränderten Wahrnehmung der AfD in der öffentlichen Meinung, bin ich guter Dinge, dass auch die prognostizierten 8% für die AfD in Niedersachsen ein Umfragewert waren und wir es schaffen, die Bürger mit unserer Politik zu überzeugen, sodass die AfD nicht in den niedersächsichen Landtag einzieht.

Ist der Protest der Niedersachsen gegen eine solche politische Kraft stärker, wie er sich exemplarisch gegen eine Veranstaltung der AfD und des „Compact“-Magazins in Northeim zeigte, an dem der niedersächsische AfD-Chef Hampel und Jürgen Elsässer teilnahmen?

Zumindest ist er sehr ausgeprägt. Wir haben das auch schon bei anderen Veranstaltungen gesehen. Auch gegen NPD-Kundgebungen

Man könnte ja auch sagen: „Ignorier die Aussagen der AfD. Die sind halt so.“ Oder man sagt: „Wir verbieten ja nicht, was ihr macht. Aber wir zeigen deutlich, dass wir anderer Meinung sind.“ Und das ist schon eine Haltung hier in Niedersachsen, dass wir nicht wegschauen, dass wir nichts schönreden – auch nicht unsere eigenen Schwächen – sondern, dass wir deutlich unsere eigene Position vertreten.

Wie halten Sie persönlich den Umgang mit der AfD?

Den Kontakt mit der AfD zu meiden, funktioniert nicht. Ich bin auch Mitglied im Kreistag Friesland und dort sind auch Vertreter der AfD. Ich kann doch nicht sagen: „Ich gehe nicht mehr in den Kreistag, nur weil dort auch Mitglieder der AfD sind.“ Wir leben in einer Demokratie. Wenn eine Partei nicht verboten ist, kann sie gewählt werden. Und es ist Aufgabe aller anderen Parteien so attraktiv zu sein, dass die vermeintliche „Alternative“ keinen Erfolg hat.

Wir müssen der AfD im politischen Wettstreit in der Sache auch konfrontativer gegenübertreten. Wenn wir das so machen, überzeugen wir die Bürger, da bin ich mir sicher.

Welche eigenen Ambitionen haben Sie mit Blick auf die niedersächsische Landtagswahl 2018? Bundespolitik?

Ich würde gerne nach der niedersächsischen Landtagswahl Anfang 2018 weiter Wirtschaftsminister in einem Kabinett Stephan Weil sein. Bundespolitik kommt für mich derzeit nicht in Frage.

Herr Lies, ich bedanke mich für das Gespräch.

Gerne.

(Das Interview wurde am 10. März gegen 8 Uhr im Wahlkreisbüro in Jever geführt.)

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