Parteiensystem im Wandel?

Bundestagswahl 2017 Wie wird die kommende Parlamentswahl wohl ausgehen?

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Spekulationen über Spekulationen. Wird der designierte SPD-Vorsitzende, der unter anderem bereits leicht ironisch als heiliger „Sankt Martin“ bezeichnet wurde, seine derzeit beeindruckenden Umfrageergebnisse auch in Wählerstimmen für die Sozialdemokraten umsetzen können? Wird der von manchen Medien als „Schulz-Effekt“ bezeichnete Hype um die neue Führung der Sozialdemokratie bis zur Bundestagswahl im September anhalten? Werden wir durch einen Wiedereinzug der FDP und einen vergleichsweise leichten Hüpfer der AfD über die Prozenthürde den Wandel zu einem Sechsparteien-System erleben? Vorausgesetzt man zählt CDU und CSU hierfür einmal zusammen. Fragen über Fragen.

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Doch um eine gewisse Einschätzung zu diesen Fragen des Parteiensystemwandels abgeben zu können, sollte man sich zunächst die folgende grundlegende Frage stellen: Was ist ein Parteiensystem überhaupt?

Nach einer wohl vorherrschenden Auffassung bezeichnet das Parteiensystem „die Gesamtheit der Parteien in einem politischen System sowie deren Beziehungsgeflecht“, wie es einst der Politikwissenschaftler Niedermayer formulierte. Manche Wissenschaftler betonen dabei noch deutlicher das Moment des Wettbewerbs. So bezeichnet Sartori das Parteiensystem als „system of interactions resulting from inter-party competition“. Andere verstehen dieses System in einem „weiteren“ Sinne als bloße „Form und Art der Koexistenz“ verschiedener Parteien, so Duverger.

Ausgehend von dieser Begriffsbestimmung weist ein Parteiensystem verschiedene Systemeigenschaften auf, mit dem sich die Parteien an sich sowie im Verhältnis zueinander analysieren lassen. Zu nennen sind

  • das Format, als bloße Anzahl relevanter Parteien im System,
  • die Fragmentierung, als Bezeichnung der Größenverhältnisse der Parteien zueinander und als Gradmesser für Parteienzersplitterung oder -konzentration,
  • die Asymmetrie bei Parteiensystemen, die durch zwei Großparteien dominiert werden, als das Ausmaß der Dominanz sowohl der einen Großpartei über die andere als auch im Verhältnis zu den anderen Parteien,
  • die Segmentierung, als Ausdruck der Abschottung der jeweiligen Parteien zueinander und
  • die Polarisierung, als Kennzeichen der inhaltlichen Differenzen zwischen den Parteien.

Diese Systemeigenschaften lassen sich mehr oder minder auf zwei Ebenen unterscheiden: Zum einen mit Blick auf die Wähler und Milieus beziehungsweise allgemeiner die Gesellschaft (elektoral-gesellschaftlich), zum anderen hinsichtlich der Stellung der Parteien im Parlament respektive in der Regierung (parlamentarisch-gouvernemental).

Wenn man nun das Format des bundesdeutschen Parteiensystems betrachtet, so kam es in dessen Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg bis heute zu einigen Veränderungen. Ausgehend von einer Vielzahl an Parteien nach den Wahlen 1949 (CDU/CSU, SPD, FDP/DVP, DP, BP, KPD, WAV, ZP, DKP/DRP etc. ) – über zehn Parteien gelangten ins Parlament – kam es in den fünfziger Jahren auch durch die Einführung der Fünf-Prozent-Hürde zu einer Konzentration zu dem sogenannten „Zweieinhalb-Parteiensystem“ (CDU/CSU, SPD, FDP). Die schon vormals starke Union, die SPD, und die FDP konnten sich etablieren, wobei in der Folgezeit den Liberalen die Rolle eines „Züngleins an der Waage“ zukam. Es gab somit vor allem christlich-liberale[1], große und schließlich auch sozialliberale Koalitionen.

Mit dem Aufstieg der Grünen in den siebziger Jahren fächerte sich das Parteiensystem weiter auf. Es bildeten sich parteipolitische Lager heraus, die man polarisierend als „bürgerlich“ (CDU/CSU, FDP) und „links“ (SPD, Bündnis90/Die Grünen) bezeichnen konnte. Mit dem Fall der Berliner Mauer kam vor allem in den neuen Bundesländern als Nachfolgepartei der SED die PDS als stabile politische Kraft hinzu.

Den letzten einschneidenden Wandel hat das deutsche Parteiensystem im Nachklang der Agenda-Reformen Schröders mit der Abspaltung eines Teils der SPD und der Fusion mit der WASG 2007 zur Partei „Die Linke“ erfahren. Das sogenannte „Parteienlagersystem“ hat somit einen Wandel zu einem „fluiden Fünfparteiensystem“ vollzogen. Dieses besteht im Parlament wegen des katastrophalen Abschneidens der FDP bei der Bundestagswahl 2013 im Moment nicht. Allerdings werden auch die freien Demokraten, wenn sie ihre Umfrageergebnisse mit derzeit sechs bis sieben Prozent halten, voraussichtlich wieder in den Bundestag einziehen.

Ob sich nun bei der kommenden Wahl die rechte Flanke weiter auffächert, gilt als einigermaßen sicher. Die AfD, die zwar gerade wieder in den Umfragen teilweise unter zehn Prozent fällt, war bereits schon bei annäherungsweise 20 Prozent. Auch wenn es bis zur Bundestagswahl im September noch ein längerer Zeitraum ist, wird die AfD voraussichtlich, auch wenn sie nur um die 9 Prozent an Stimmen bekommen würde, sicher in den Bundestag einziehen.

Mit Blick auf die Fragmentierung werden die Großparteien CDU/CSU wohl deutlich stärker abschneiden, als die kleineren Parteien, wobei der AfD eine mittelstarke Position zwischen Union und SPD auf der einen und FDP, Linken und Grünen auf der anderen Seite zukommen kann.

Gerade im Hinblick auf die Asymmetrie kann die SPD mit ihrem neuen Parteivorsitzenden die seit den letzten Wahlen entstandene Dominanz der Union gegenüber der SPD wieder zugunsten der Sozialdemokraten kippen. Insofern ist die Bundestagswahl dieses Jahr auch deshalb spannender, weil derzeit das gesellschaftliche Gefühl besteht, dass die Union anders als bei den vorangegangenen Wahlen 2009 und 2013 wieder von der SPD zu schlagen ist.

In Anbetracht der Segmentierung haben die für das Parteiensystem maßgeblichen Parteien (CDU/CSU, SPD, Grüne, Linke und bis 2013 auch die FDP) recht deutlich zu verstehen gegeben, dass sie einen Wahlkampf ohne Koalitionsaussage führen werden. Aber eines bleibt einigermaßen klar: All diese Parteien haben eine Koalition mit der AfD im Grunde kategorisch ausgeschlossen, auch wenn man in manchen Kreisen der CDU etwas anderes hört (beispielsweise Winkler[2] oder Haumann[3]). Jedoch ist dies derzeit jedenfalls nicht die offizielle Linie der CDU. Ob die Union zukünftig Koalitionen mit der AfD eingehen wird ist schwer abzuschätzen. Es hängt beträchtlich von der AfD selbst ab, inwieweit sie noch im Rahmen der Maßstäbe agiert, die das Grundgesetz den Parteien auferlegt und inwieweit nicht nur ihre Mitglieder, sondern auch ihre Sympathisanten dem Rechtsextremismus zuneigen und in dieser Szene agieren. Ob beispielsweise das kürzlich angesetzte Ausschlussverfahren gegen den Thüringischen Landesvorsitzenden dazu dient, vertretene rechtsradikale bis -extreme Positionen in der Partei zu dezimieren bleibt ernsthaft zu bezweifeln, zumal ein solches Verfahren nicht nur juristisch auf wackligen Füßen steht, sondern der Parteichefin auch dazu dienen könnte, sich eines innerparteilichen Widersachers zu entledigen. Außerdem wird das Verfahren voraussichtlich nicht vor der Bundestagswahl enden. Es könnte lediglich den strategischen Zweck verfolgen zumindest den Anschein zu erwecken als distanziere sich die AfD von radikaleren politischen Positionen. Ähnliches ist auch in Bezug auf etwaige Maßnahmen gegen den Landesvorsitzenden Sachen-Anhalts’ anzunehmen, über die der DLF vor einigen Tagen berichtete.[4]

Um nochmal auf die Abgrenzung der Union zur vermeintlichen „Alternative“ zurückzukommen: Auf der Parlaments- und Regierungs-Ebene ist diese mit dem kategorischen Koalitionsverbot zwar recht deutlich, was man allerdings nicht für die elektoral-gesellschaftliche Analyseebene behaupten kann. Die Union, insbesondere die CDU, büßt mit ihrer programmatisch mittigen Positionierung Stimmen ihrer traditionell konservativen Stammwähler ein, die sich vielleicht weniger von der marktwirtschaftlichen Positionierung als vielmehr von der sozio-kulturellen Neuverordnung der CDU abgeschreckt fühlen (zum Beispiel teilweises Abrücken vom klassischen Familienbild). Obwohl sich die Wählerschaft der AfD teils aus ehemaligen entmutigten Unionswählern speist, so gibt es auch enttäuschte ehemalige Sympathisanten und Parteiangehörge der SPD und der Linken, wie das mäßig prominente Beispiel Guido Reil[5] zeigt, die zur „Alternative“ gewechselt sind. Wie gut die AfD bei der kommenden Parlamentswahl abschneiden wird, hängt auch maßgeblich davon ab, wie viele Nichtwähler die Partei mobilisieren kann. Insofern lässt sich auf der elektoralen Ebene kein eindeutiges Milieu der AfD identifizieren. Auch mit ihrer strukturellen Verwobenheit zu rechtsnationalen, -populistischen bis -extremen Gruppierungen, beispielsweise durch doppelte Mitgliedschaften (Identitäre Bewegung, „EINPROZENT“), gemeinsamen Aktionen und Auftritten, schafft die AfD jedenfalls hinsichtlich ihrer Anhänger den fließenden Übergang bis ins rechtsextreme Milieu.

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Wenn man weiter die Struktureigenschaft Polarisierung mit einbezieht, so ergeben sich bei den drei Parteien links der Mitte, vor allem den roten, innenpolitisch viele Schnittmengen. Auf der anderen Seite ist die FDP für die Union vor allem auf sozio-ökonomischen Ebene wohl immer noch der bevorzugte Partner, wobei die Grünen auch mit Blick auf ihr „Realo-Spitzenduo“ programmatisch mit der Union koalieren könnten.

Schließlich sind bei der Bundestagswahl sowohl Zweier- als auch Dreierkoalitionen denkbar, abhängig davon wie stark die großen und kleineren Parteien abschneiden. Mit einzubeziehen ist der Aspekt, dass das Wahlverhalten einer Vielzahl von Bürgern deutlich volatiler geworden ist. Das hat damit zu tun, dass sich vor allem die Großparteien mit ihrer Ausrichtung als Volksparteien ihrer Ursprungswählerschaft als einziger Zielgruppe entledigten, so die SPD beispielsweise mit dem Godesberger Programm. Mangels geringerer Parteiidentifikation und dem medialen Hang zur Personalisierung und Emotionalisierung werden Personen und einzelne auch irrelevante Themen zunehmend wichtiger. Der „Veggie-day“ lässt grüßen. In dem sogenannten „funnel of causality“ nach dem Michigan-Modell werden diese zwei Aspekte umso wichtiger je näher der Wahltermin rückt. Insofern hatte der „Sankt Martin“ Recht, als er sagte, dass sich eine Vielzahl von Bürgern erst kurz vor der Wahl entscheiden würde, welchem Kandidaten und welcher Partei sie ihre Stimme geben. Nicht zuletzt dieser Umstand wird darüber entscheiden, ob und welchen Wandel des Parteiensystems wir erleben werden.

Festzuhalten bleibt: Das Parteiensystem kann zersplitterter werden, muss es aber nicht zwangsläufig. Es kann somit zu Dreierkoalitionen kommen, dies ist aber noch lange kein Fakt, gleich welches Medium dies auch immer behaupten mag. Aus dem Unmut vieler unzufriedener kann die AfD profitieren, muss sie aber nicht. Diesen banalen Erkenntnissen folgernd ist im Wahlkampf nun Glaubwürdigkeit und höchster Einsatz der Parteien gefragt. Wenn er nicht schon längst begonnen hat, dann ist es jetzt allerhöchste Zeit der Parteien den Bürgern ein glaubhaftes Narrativ zu geben. Zu hoffen bleibt nur, dass lautstarke Parolen bei den Wählern nicht zu einfach verfangen und, dass sie nicht aus einem Akt der Wut heraus die vermeintlich einfachsten Lösungen wählen (siehe „Brexit“).

Niedermayer, Oskar (2007): Parteiensystem, in: Fuchs, Dieter/Roller, Edeltraud (Hrsg.): Lexikon Politik. Stuttgart: Reclam, S. 197-201.

Sartori, Giovanni (1976): Parties and Party Systems. A Framework for Analysis. Cambridge: Cambridge University Press.

Duverger, Maurice (1959): Die politischen Parteien. Tübingen: Mohr Siehbeck (franz. Erstaufl. 1951).

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