Im Namen der Humanität

KOSOVO Milosevic ist gestürzt, im UN-Protektorat wird gewählt - den Krieg gegen Jugoslawien legitimiert das auch postum nicht

Im Kosovo finden die ersten Kommunalwahlen seit 1988 statt. Gern würden sich die westlichen Mächte diesen Sieg der Demokratie und den Sturz des Milosevic-Regimes in Belgrad als einzig mögliche Konsequenz ihres Waffenganges im Vorjahr schönreden. Die Geschichte macht ihnen dabei einen Strich durch die Rechnung - in Gestalt des "gemäßigten" Nationalisten Vojislav Kostunica, der seinen Vorgänger, den zynischen Opportunisten Milosevic, wegen seiner zu laschen Vorgangsweise gegenüber Irredentisten nie zu kritisieren müde wurde. Nun sieht sich der Westen mit der ebenso peinlichen wie brisanten Paradoxie konfrontiert, serbische und albanische Nationalisten, deren Auffassungen in der Kosovo-Frage konträrer nicht sein könnten, gleichermaßen zu unterstützen. Die Revolutionsromantik wird bald verpufft sein, und es werden jene Probleme aufbrechen, welche der NATO-Krieg, anstatt sie zu lösen, erst geschaffen hatte. Bereits die unrühmliche Bilanz von einem Jahr "Protektorat Kosova" gebietet es, die Frage nach der Legitimität dieses Krieges immer wieder aufs Neue zu stellen.

Die Kritik des NATO-Angriffs gegen Jugoslawien entzündete sich zumeist an der Unverhältnismäßigkeit von humanitärem Anspruch und politischer Praxis. Wenn es der westlichen Wertegemeinschaft tatsächlich um die Menschenrechte ginge, wie könne sie es zulassen - so das Argument -, dass der NATO-Partner Türkei zwölf Millionen Kurden unterdrücke und 4.000 ihrer Dörfer zerstört hätte. Doch wieso immer nur die Kurden? Dutzende Beispiele der jüngeren Geschichte ließen sich aufzählen, bei denen Menschenrechtsverletzungen von der westlichen Wertegemeinschaft nicht nur nicht geahndet, sondern aktiv unterstützt wurden. Kolumbien, Indonesien oder der Irak in Zeiten, als Saddam Hussein noch als verlässlicher Partner des Westens Schiiten und Kurden massakrieren ließ. Als Journalisten US-Außenministerin Madeleine Albright 1996 auf die halbe Million infolge der Sanktionspolitik umgekommenen irakischen Kinder aufmerksam machten, gab sie mit ihrer Antwort ein eindrucksvolles Beispiel für die Beugung unteilbaren Menschenrechts: "We think the price is worth it."

Nüchterne Beobachter internationaler Machtpolitik der vergangenen 50 Jahre konnte die Naivität besagter Kritiker nur verblüffen. Für sie war klar, dass die größte Gang der Welt (USA/NATO) ihren Kontrahenten (China, Russland und - uneingestandenerweise - die EU) mit einem beeindruckenden Manöver, bei dem sie zugunsten einer Kleingang (UÇK) einer mittleren Gang Regierung Milosevic) eins auf die Nase gab, ihre Allmacht demonstrieren musste. Legitimierten die zwei kleineren Gangs ihre Geschäftsinteressen mit nationalistischem Säbelrasseln - der beliebtesten und wohlfeilsten Ideologie unter niedrigeren Chargen -, so konnte sich die "Big Gang" die Rechte auf die Menschenrechte sichern. Das war nicht besonders neu. Seine Geschäfte im Namen der Menschenrechte zu verrichten, das ist bloß die säkularisierte Version des einstigen Gottesgnadentums. Die Krönung zum Kaiser durch den Papst verlieh jedem Landraub, jedem Massaker die höchsten nur denkbaren Weihen. Als der aufgeklärte Napoleon Papst Pius VII. die Kaiserkrone entriss und sich selbst aufsetzte, bekundete er, was er von der Kirche als Autorität hielt. Und als die NATO ohne UN-Mandat Jugoslawien bombardierte, bekundete sie, was ihr die UN-Charta und verbrieftes Völkerrecht bedeuteten, nämlich nichts. Sie bombte im Namen einer höheren Autorität: der Menschenrechte.

Was weiter auffällt, ist zum einen der Umstand, dass die moralisierende "Kurdenfraktion" weniger die Legitimation der "Big Gang" als Träger des Menschenrechtsbanners kritisiert als deren mangelnde Konsequenz ("Warum Kosovo, wenn nicht Kurdistan?"), und zum anderen die Verwechslung von Ideologie und Interesse. Die Aufgabe der Ideologiekritik zog in praxi eine intellektuelle Selbstentwaffnung nach sich, bei der alle selbst in Ideologie zurückkippten, ohne den reflektorischen Vorteil jedoch, es auch zu wissen. Doch weshalb auch sollten die Kritiker des humanitären Interventionismus klüger sein als die erschreckende Mehrzahl ihrer intellektuellen Befürworter?

Besonders beliebt bei ehemals linken Intellektuellen, die über den Zusammenhang von Barbarei und ökonomischem Widerspruch nicht mehr nachdenken konnten, weil sie es über letzteren nicht mehr wollten, war die Regression von Marx auf Hegel, die Vorstellung, im NATO-Waffengang käme der Weltgeist zu sich (wie einst in Napoleons Feldzügen), offenbare sich eine Art List der Vernunft, welche mit dem enthusiastisch bejubelten Feuerwerk des Bombardements, mit der Bestrafung der Barbaren die Geschichte ihrem teleologischen Ende - der Weltzivilisation - zuführe. Das höchste militärisch-technische Niveau verbürge automatisch das höchste zivilisatorische. An die Spitze des kollektiven Realitätsverlustes positionierte sich Jürgen Habermas mit der Wahnidee, in den Kratern der NATO-Bomben würde das "Weltbürgertum" sprießen: "Nach dieser westlichen Interpretation könnte der Kosovo-Krieg einen Sprung auf dem kosmopolitischen Recht einer Weltbürgergesellschaft bedeuten."

Der humanitäre Interventionismus kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Den spezifischen Versuch jedoch, unter Berufung auf Menschenrechte das Völkerrecht auszuhebeln, wagten - wie der US-Rechts professor John Murphy darlegte - erst Mussolini mit seinem Überfall auf Äthiopien, die japanische Regierung mit dem Einmarsch in der Mandschurei und schließlich Hitler mit der Annexion der Tschechoslowakei.

Wer das Bombardement Jugoslawiens als ultima ratio sah, dem muss heute beim Blick auf die Zustände im "Protektorat Kosova" das Schaudern kommen. Fakten und Zahlen über die Ausmaße der menschlichen Tragödien vor und nach dem Krieg, der angeblich keiner war, sind im Rahmen von UNO- und OSZE-Berichten öffentlich zugänglich. Dennoch scheuen die Medien davor zurück, diese gegen die Lügen und Selbsttäuschungen der Verantwortlichen ins Felde zu führen.

Anfang Juni 1999 schätzte die deutsche Gesellschaft für bedrohte Völker die Zahl der bis dato getöteten albanischen Kosovaren auf 30.000. Ein Jahr später legte der UN-Menschenrechtsbeauftragte Jirí Dienstbier die Anzahl der von März 1998 bis März 1999 getöteten Kosovaren (also Serben und Albaner sowie Türken, Roma, Ashkali, slawische Muslime, Kroaten und Goranci) auf etwa 1.800 (!) fest. Nach Berichten der OSZE soll die UÇK in diesem Zeitraum mehr Albaner als Serben ermordet haben.

Als die OSZE-Verifikateure und mit ihnen alle humanitären Organisationen am Vorabend des Krieges aus dem Kosovo abgezogen wurden, wuchsen die jugoslawischen Militärs und Sicherheitskräfte - flankiert von paramilitärischen Mörder- und Plündererbanden - in jene Rolle, welche ihnen bislang nur zugeschrieben worden war - in die der "ethnischen Säuberer". Im Wissen, dass das Kosovo verloren war, galt es der Belgrader Regierung zumindest den rohstoffreichen Norden zu halten und diesen ein für alle mal ethnisch homogen zu machen. Somit trat die weltgeschichtlich einzigartige Konstellation ein, dass eine Regierung für etwas bestraft wurde, was sie erst als Folge der Bestrafung tun würde.

Wäre die menschliche Katastrophe, welche die "militärischen Mittel" anstatt zu verhindern erst auslösten, in irgendeiner Weise gerechtfertigt gewesen, hätten dann die Kriegs treiber hernach im Kosovo nicht für geordnete und zivile Zustände sorgen können? Diese Frage erübrigt sich in Anbetracht dessen, was sich seit dem Einmarsch der KFOR-Truppen, seit der Umwandlung des Kosovo in ein UN-Protektorat mit dem albanischen Namen Kosova ereignet hat. Allein der Begriff "Protektorat" ist ein Hohn. "Es ist unfassbar: Kein einziges der über tausend Tötungsdelikte seit dem Einmarsch der NATO ist bisher gesühnt", resümierte die >Irish Times Anfang Juli.

Die NATO hatte ihre Party - hernach die Sintflut. Nach Schätzungen der Carnegie-Stiftung kostete sie das Abenteuer etwa 125 Milliarden US-Dollar. 125 Milliarden, um die Lebensgrundlagen eines ganzen Staates binnen 78 Tagen auf Jahrzehnte hin zu zerstören, um so viele potenzielle Weltbürger der Welt zu entreißen. Wie lächerlich wenig lässt es sich die westliche Wertegemeinschaft heute kosten, um jene Lebensgrundlagen wieder herzustellen, die allein den Terminus "zivile Gesellschaft" der Phrase entheben. könnten. Der einstige Vorschlag, man hätte Milosevic um einen Bruchteil dieser Summe Kosovo abkaufen können, verliert in Anbetracht dessen an Ironie.

Der NATO-Feldzug war von jener Art, bei der "wir uns mit einem Siege begnügen wollen, um das Gefühl der Sicherheit beim Gegner zu brechen, ihm das Gefühl unserer Überlegenheit zu geben und ihm also für die Zukunft Besorgnisse einzuflößen" (Clausewitz). Die serbischen Militärs indes zogen sich völlig unbesorgt aus dem Kosovo zurück, Milosevic fühlte sich damals sicherer denn je und die UÇK nützte das Fehlen einer funktionierenden Judikative und Legislative, die völlige Ahnungslosigkeit, Parteilichkeit und Ohnmacht der KFOR, ihrer bewährten Mischung aus nationalistischem Terror und kriminellen Geschäften nachzugehen. Bereits Anfang August 1999 waren an die 90.000 Roma vertrieben. Nicht nur Serben wurden systematisch schikaniert, bedroht, gefoltert und ermordet. Bereits die Hälfte der gesamten Minderheitenbevölkerung ist vor den Augen der UN-Verwaltung und der KFOR verjagt worden. Die jüdische Gemeinde Pristinas, die über 500 Jahre floriert hatte, existiert nicht mehr. Kroaten und bosnische Muslime sind sich ihrer Haut ebenso wenig sicher wie gemäßigte Politiker von Rugovas LDK (Demokratische Liga) oder die 100.000 albanischen Katholiken, deren Gottesdienste von der KFOR geschützt werden müssen.

Ein Gutes aber hat die Tragödie vielleicht. Musste zuvor befürchtet werden, das unglückliche NATO-Abenteuer könnte von jedem befreiungsnationalistischen Desperado dieser Welt als Einladung verstanden werden, seinen Claim mit militärischer Rückendeckung der Menschenrechtspolizei abzustecken, so dürfte ihm ein Blick darauf, wie sehr diese das Kosovo vor die Hunde gehen lässt, vor dergleichen Eifer abschrecken.

Die Welt hat einen einzigartigen Präzedenzfall serviert bekommen. Eine seiner ernüchternden Lehren ist, dass die wenigen zivilisatorischen Werte, die nicht allein als ideologische Vorwände für Machtansprüche taugen, auf Generationen mit dem Blut unschuldiger Menschen besudelt sein werden. Nichtsdestoweniger: Gibt es so etwas wie eine Evolution der Humanität, so kann diese nur im Grundsatz beschlossen sein, keine militärischen Mitteln anzuwenden, ehe nicht alle, alle friedlichen ausgeschöpft sind. Wann sie das sind? Nie!

Hätte Habermas seinen Kant bei der Apologie eines dem Kantschen Ideenkatalog entnommenen Weltbürgertums sorgfältiger gelesen, wäre ihm sicher nicht der zeitlos gültige Imperativ aus der Schrift Zum ewigen Frieden entgangen: "Es soll kein Frieden für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffes zu einem künftigen Krieg gemacht worden."

Unser Autor lebt als Schriftsteller in Wien.

Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden