Mai-Parade

STRASSENKAMPF IN ECHTZEIT Berlin und der revolutionäre erste Mai

Macht kaputt, was euch kaputt macht!", der Schlachtruf von Ton Steine Scherben, der am vergangenen Freitagabend in der Berliner Volksbühne die Walpurgisnacht eingeläutet hatte, lag irgendwie Lichtjahre entfernt. Die alte Parole war auch der einzige Satz, der in dieser nostalgiegetränkten Konzertnacht die dumpfe Akustik in dem Haus am Rosa-Luxemburg-Platz überhaupt zu durchdringen vermochte. Aber wer hätte noch verstehen müssen, was er oder sie seit jeher auswendig intus hatte?

Tags drauf, nachmittags um vier, konnte der traditionsbewusste Maifestspielbesucher am Kreuzberger Oranienplatz glatt auf die Idee verfallen, dass die Berliner Autonomen geschlossen nach Wien gepilgert sein mussten, wo angeblich hunderttausend Demonstranten - die in österreichischen Medien dann für gewöhnlich als die "Chaoten aus dem Norden" identifiziert werden - gegen das aktuelle rechtskonservative Regime protestiert haben sollen.

Ansonsten herrschte am Mariannenplatz die gewohnte Open-Air-Grill-Party-Stimmung mit kurdischer Folklore. Christian Ströbele bellte Antikriegsparolen, an den Antifa- und PDS-Ständen konnte man Demo-Material sammeln und die Jungs mit den roten Halstüchern von der KPI schmauchten an ihren Fidel-Castro-Zigarren. Nur der verschärfte Helikopter-Verkehr am sommerlichen Berliner Himmel bildete das altbekannte Störgeräusch im Hintergrund zur ansonsten völlig entspannten Kulisse.

Man war darauf vorbereitet, dass es im Schaltjahr zum Dritten Jahrtausend - ein Jahr, nachdem das rotgrün regierte Deutschland wieder aktiv an einem Krieg teilgenommen hat, und sich in mehreren EU-Ländern eine beängstigende politische Akzeptanz rechter Kräfte bemerkbar macht - wieder einmal zugehen würde, wie in Rio Reisers (un)seligen Zeiten. Gegen acht Uhr abends, als die ersten Pflastersteine und Sektflaschen flogen, konnte man sich nach Jahren wieder der Illusion hingeben, dass der 1. Mai doch noch mehr sei, als nur ein Feiertagsvergnügen für angereiste Westtouristen. Auffallend war nämlich, wieviel junge Türken in diesem Jahr an dem Umzug teilnahmen. Dementsprechend gereizt dann die Reaktionen, als auf der Kottbusser-Brücke ein türkischer Pressefotograf von der Polizei schwer verletzt wurde. Doch im übrigen war die Gewaltbereitschaft der Polizei angesichts einer massiven Medienpräsenz recht gezügelt.

Ein wesentliches Merkmal der Demonstrationskultur dieser Tage im Gegensatz zur golden era der 80er Jahre ist denn auch die Dominanz der audiovisuellen Medien. Der Camcorder gehört mittlerweile zur Grundausstattung des Straßenkämpfers, bisweilen werden die Aufnahmen in Echtzeit im Internet übertragen. Vom Tieflader erschallen fette Bässe - fast wie auf der Love-Parade. Nur die tanzenden Volxmassen waren zu Hause geblieben. Vielleicht wars die falsche Musik...

Dafür hat man zunehmend den Eindruck, dass die obligaten Straßengefechte auch Medienschlachten sind, in denen jeder jeden filmt, und jeder auch ein Darsteller seiner je persönlichen politischen Ideale, Ideen oder Flausen ist. Die Selbstinszenierung zu politischen, kombattanten Körpern hat längst auch eine ironische Verspieltheit erhalten, die den kämpferischen Impuls vergangener Tage zwar beibehalten hat, aber weit entfernt ist von der altlinken Theorielastigkeit.

Zwar kommen die alten Parolen nach wie vor zum Einsatz - die Internationale wird immer noch angestimmt - aber diese Rituale sind doch vor allem symbolische Kampf-Instrumente im Schalgabtausch mit der wachsenden Rechten, als dass sie an hart abgefederte Ideologeme geknüpft wäre. Das "Neue Glas aus alten Scherben", mit dem durchaus würdigen Rio-Reiser-Nachfolger Michael Kiessling als Frontmann, signalisiert so auch, dass Punk nicht totzukriegen ist. Auch wenn es sich hier um einen geschlossenen Rohstoffkreislauf handelt. Es lebe der Grüne Punkt!

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