Als die Stach Herta gegen Hitler kämpfte

Heim ins Reich Im Oktober 1938 marschierten deutsche Soldaten in das Sudetenland ein. Die Henlein-Bewegung empfing sie begeistert - doch es gab auch Widerstand unter den Deutschen

Mit dem Münchener Abkommen am 30. September 1938 versuchten die europäischen Garantiemächte England und Frankreich, Hitler zu befrieden und einen Krieg zu verhindern. Opfer war zunächst das Sudetenland. Faktisch jedoch bedeutete der in Abwesenheit der tschechoslowakischen Delegation geschlossene Vertrag das Ende des 1919 gegründeten multikulturellen Staates.

Den feierlichen Einzug der Wehrmacht in Odrau am 10. Oktober 1938 verfolgte die 15-jährige Herta Stach nicht aus unmittelbarer Nähe, sondern zusammen mit ihrer Familie vom Abhang des nahen Wessiedelberges über der Stadt. "Wir hatten dort einen Grund und machten Heu für unsere Kaninchen. Wir sahen, was geschah, und weinten." Die Jubelnden unten in der Stadt feierten dagegen die Befreiung vom "Tschechenjoch" und überreichten den Soldaten "Bratlekuchen". Es waren die Völkischen vom Deutschen Turnerbund, Anhänger der Sudetendeutschen Partei des Konrad Henlein und viele andere, die sich den Siegern anschlossen.

Was sich in diesen Oktobertagen abspielte, war das Schaustück einer historischen Niederlage. Denn ähnlich wie viele andere Gebiete der deutschsprachigen Teile Böhmens war Odrau sozialdemokratischer Mutterboden. Das Ende des 19. Jahrhunderts errichtete Gummiwerk Optimit, das größte der Branche im Habsburgerreich, gab vielen Bewohnern Arbeit. Mit ihm erhielt der Ort, der sich bis dahin mit einigen Handwerksbetrieben, zwei kleinen Textilfabriken und eine kleinbäuerliche Landwirtschaft ausgewiesen hatte, das Gepräge eines Industriestädtchens und verlor dennoch nicht seinen malerischen Reiz. Bis aus Wien fanden Sommerfrischler den Weg zur jungen Oder, die zur offenen Seite des Tales, vorbei an den letzten Ausläufern des Odergebirges, in die sanft hügelige Landschaft der Mährischen Pforte strömt. Wie überall, wo im alten Österreich Arbeiter lebten, etablierten sich auch in dieser Gegend sozialdemokratische Bildungs- und Kulturvereine. Tschechisch galt in Odrau als Fremdsprache, doch die nur wenige Kilometer entfernte Sprachgrenze verhinderte kantige Abschottungen, sorgte vielmehr für kulturelle Ausfransung. In Odrau selbst wurde ein kerniger, schwer verständlicher schlesischer Dialekt gesprochen, durchsetzt mit Austrizismem und tschechischen Begriffen wie Kolatschen oder Powidln.


Das begann sich zu ändern, als die deutsche Bevölkerungsgruppe - beinahe ein Drittel der Bewohner der böhmischen Länder - nach 1918 unter den Assimilationsdruck der zwar demokratischen, aber streng tschechisch-national orientierten Masaryk-Republik geriet. Mitte der dreißiger Jahre fanden Hitlers Lockrufe vom Böhmerwald bis zum Altvatergebirge dann zunehmend Widerhall, nicht nur unter den Bürgerlichen. In dieser Zeit blieb Odrau seinem politischen Ruf als "rote Burg" jedoch noch treu. Bis zum Anschluss 1938 hielt sich im Gemeinderat eine pragmatische Koalition aus Sozialdemokraten, Kommunisten und Christsozialen.

In den Tagen des Münchener Abkommens dachten die Stachs jedoch an Flucht. Vater Hermann fuhr nach Prag, um die Lage zu erkunden. "In der Nacht vor dem Einmarsch kam er zurück und sagte: Koffer auspacken, wir bleiben!" Er berichtete über das Chaos und die Hoffnungslosigkeit in den Prager Sammellagern, in denen Tausende sudetendeutsche Flüchtlinge zusammengepfercht hausten. Damals war Herta über die Entscheidung ihres Vaters wütend. "Ich wollt´ sogar allein weg, mit einer anderen befreundeten Familie, die nach Belgien ging. Ich wollte nichts wie weg von hier."


Im Gegensatz zu den anderen Deutschen aus Odrau wohnt die 85-Jährige heute noch immer im Haus ihrer Eltern. Nur die Adresse hat sich geändert, weil die Obergasse heute einen tschechischen Namen hat, so wie Odrau, das nun Odry heißt. Und Herta Stach, die bei den Ehemaligen bis heute als die "Stach Herta" bekannt ist, trägt den Namen Sedlácková, nach dem tschechischen Mann, den sie nach dem Krieg geheiratet und mit dem sie zwei Kinder bekommen hat.

Kurz nach Kriegsende wurde Herta Stach von ihrem Arbeitsplatz ins Café Urban in der Schulgasse geholt, in dem sich tschechische Revolutionsgardisten einen Standort eingerichtet hatten. "Ich wurde in die Männertoilette geführt. Dort sah ich einen Mann, der hatte von den vielen Schlägen einen Kopf wie ein Kürbis. Sie fragten mich, ob ich ihn kenne. So wie der zugerichtet war, konnte ich nichts Bestimmtes sagen. ›Sie sehen doch, das ist der Fadle. Dem haben Sie zu verdanken, was Ihnen die Gestapo angetan hat.‹"

Fadle war der Waldhüter, der noch während des Krieges maßgeblich an der Festnahme flüchtiger Russen und Hertas Mutter Elsa beteiligt gewesen war. "Dann haben sie mir einen Knüppel in die Hand gedrückt und sagten, ich soll zuschlagen. So könne ich mich dafür rächen, was man mir angetan hat. Das habe ich abgelehnt und gesagt, sie sollen ihn in Ruhe lassen. Der hat doch genug gelitten." Die Tortur im Café Urban überlebte Fadle noch, aus dem berüchtigten "Hanke-Lager" in Mährisch-Ostrau­ kam er nicht mehr lebendig zurück. "Er hat mit seinem Leben bezahlt. Wozu? Davon wurde meine Mutter auch nicht lebendig."


Nach dem Einmarsch der Wehrmacht gaben sich die neuen Machthaber zunächst weniger drakonisch als befürchtet. Zwar wurde im Zuge der "Aktion Gitter" Mutter Elsa festgenommen und in die Troppauer Haftanstalt verbracht, doch nach sechs Wochen wieder freigelassen. "Sie wollten damit sagen, dass sie uns beobachten und wir uns hüten sollten aufzumucken." Mit Hermann Stach, der als Betriebsratsvorsitzender und Kommunist der ersten Stunde weit über die Grenzen der Stadt bekannt und beliebt war, hatten die Nationalsozialisten sogar Pläne. Sie boten ihm an, für ihn eine Rundreise durch das Großdeutsche Reich zu organisieren, damit er nach seiner Rückkehr von seinen Eindrücken öffentlich berichte. Hermann Stach verstand die Absicht und lehnte ab.

Nach Kriegsbeginn nahmen die Stachs und andere gleichgesinnte Familien Kontakt zu britischen Kriegsgefangenen auf, die bei Optimit arbeiteten. Wenn es nur irgendwie ging, schlichen sich die Engländer nachts aus ihrem Lager, um für ein paar Stunden bei den Stachs familiäre Atmosphäre zu genießen und BBC zu hören. Als 1943 Hermann Stach zur Marine einberufen wurde, nahm er seiner Frau das Versprechen ab, sich nicht zu unbedachten Aktionen hinreißen zu lassen. Doch Elsa hielt sich nicht daran, sondern handelte nach der Maxime, es müssten Opfer erbracht werden.

Im Sommer entschloss sich Elsa, vier russischen Kriegsgefangenen bei der Flucht zu helfen. Zusammen mit Herta und anderen Bewohnern stattete sie die Männer mit Zivilkleidung und Proviant aus - und mit einer Pistole. In die Beskiden schaffte man es in einem langen Tagesmarsch oder zwei Nachtwanderungen. Dort sollten die Flüchtlinge versuchen, sich einer Partisanengruppe anzuschließen. Doch so weit dachten die einfachen russischen Dorfjungen nicht und blieben in den Wäldern der Umgebung. Bei ihrer Festnahme kam es zu einem Schusswechsel. In der Gefangenschaft verrieten die jungen Russen ihre Helfer.


Sie wird beschuldigt, im Jahre 1944 im Inlande während des Krieges einer feindlichen Macht (Sowjet-Russland) Vorschub geleistet zu haben ... Verbrechen des Landesverrats durch Feindbegünstigung nach § 91b StGB". So stand es in sperrigem Deutsch im Haftbefehl gegen Herta. Sie wurde zusammen mit ihrer Mutter inhaftiert. Elsa Stach überlebte die Gestapo-Haft nicht. War ihr Tod wirklich Folge eines Selbstmordes, wie es offiziell hieß? Einmal durfte Herta ihre Mutter sehen, kurz vor deren Tod. "So gemartert wie sie aussah, halte ich einen Selbstmord für möglich. Vielleicht hatte sie Angst, sie könnte bei fortgesetzter Folter Namen von Gesinnungsgenossen preisgeben."

Am 5. Mai 1945 kam Herta frei. Doch die gerade 22 Jahre alte Frau wurde nicht von der Sowjetarmee befreit, sondern von den Gefängniswärtern "mit Entlassungsschein" nach Hause geschickt. Sollte die Front halten, wurde ihr bei der Aushändigung eindringlich nahegelegt, müsse sie sich wieder zum Haftantritt melden. Später Realitätssinn, gar ein wenig Menschlichkeit des Gefängnispersonals, das sich nun auf sein eigenes Überleben konzentrierte und das Weite suchte?

Als drei Tage später die Front über Odrau schwappte, begann das Leid der derer, die 1938 gejubelt oder sich nicht getraut hatten aufzubegehren. Nun rechtlos, waren sie den Verfügungen und der brutalen Willkür der neuen Behörden ausgesetzt, oft auch seitens der zuströmenden tschechischen Neusiedler. Nach der Definition der Beneš-Dekrete als "feindliche Bevölkerung" zur Vertreibung bestimmt.

"Ich bin gegen die Beneš-Dekrete", sagt Herta Sedlácková. "Sie standen in Widerspruch zum Geist des Internationalismus, an den wir geglaubt haben." Und auch im Gegensatz zur pädagogischen Haltung der deutsch-böhmischen Kommunisten und Sozialdemokraten. Für sie wären die besiegten Anhänger der Henlein-Bewegung, all die Mitläufer und Indifferenten, ein fruchtbares Feld für politische Überzeugungsarbeit gewesen.


Eine zweite Chance gab es nicht. Im Sommer 1946 verließen zwei "Antifatransporte" mit Kommunisten Odrau in Richtung Sachsen, der andere mit Sozialdemokraten ging nach Bayern. Sie mussten nach Deutschland gehen, "um zu helfen, weil dort alles braun war", sagt Herta. Man spürt in diesem Satz etwas vom Gefühl der Aufopferung, das den Betroffenen den Verlust der Heimat versüßte. 120.000 waren es aus der gesamten Tschechoslowakei, "Kadertransfer nach Deutschland" werden es später Historiker nennen.

Vater Hermann kehrte im April 1946 aus der britischen Gefangenschaft nach Hause zurück. 1974, kurz vor seinem 80. Geburtstag, starb er. Obwohl ihn nach dem Krieg und verstärkt nach dem sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 kaum noch etwas mit der KP verband, brachte er es nicht fertig, aus der Partei auszutreten. "Dafür hätte er sich eingestehen müssen, dass er sich in allen wichtigen Fragen geirrt hat. Dazu hatte er die Kraft nicht mehr", sagt seine Tochter. Sie selbst war nie Mitglied der Partei. "Die KP der Nachkriegszeit hatte nichts mit dem zu tun, was ich von früher her kannte. Viele Mitglieder waren antideutsch eingestellt und nur wegen der Vorteile dabei, die es brachte."

Dafür ist die "Stach Herta" Anlaufstelle für all jene geworden, die ihrer alten Heimat eine Stippvisite abstatten. Darunter auch solche, die beim Einzug der Wehrmacht jubelten. "Die Euphorie von damals auf Links ist verschwunden und auf Rechts auch. Sie hat nichts Gutes gebracht."

Ihr Leben lang war Herta als Arbeiterin oder kleine Angestellte in der Gummifabrik beschäftigt, hat aber immer viel für ihre Bildung getan. Ihr Bildungshunger steht ganz in der Tradition der Arbeitervereine der Vorkriegszeit. Heute gestattet sie sich, über den Dingen zu stehen, begnügt sich mit der Rolle der aufmerksamen, manchmal ironischen Beobachterin am Rande.

Richard Szklorz stammt aus Odrau, dem heutigen Odry.

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