Bildung als vermeintlicher Glücksbringer

Standortpolitik Bildungspolitik wird zumeist aus der Sicht des Staates gemacht, der eine Verwaltung betrachtet und dabei an die Privatwirtschaft denkt

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Bildung als vermeintlicher Glücksbringer

Foto: Ulrich Baumgarten / AFP / Getty Images

Darmstadt bezeichnet sich selbst als Wissenschaftsstadt, 1997 verlieh das hessische Innenministerium der Stadt diesen Titel. Mit fast 40.000 Studenten, Hochschulen, dutzenden Forschungseinrichtungen und zahlreichen Firmen mit hohem Forschungsbudget sehen sich die Stadtoberen mit dem Anteil an Beschäftigten im Bereich der Forschung selbst an der Spitze Deutschlands, man nehme deutschlandweit eine „Spitzenposition“ ein. Die Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen und die forschenden Unternehmen sorgten dafür, dass „die Stadt und ihre Region auch in Zukunft im Wettbewerb europäischer Zentren bestehen“ könne. Der tägliche Wissenstransfer spiele „im Zeichen der Europäisierung und Globalisierung eine immer größere Rolle“.

Die These ist folgende: Das durch technische Voraussetzungen stärker werdende Phänomen der Globalisierung führt zu einer zunehmenden Vernetzung multipler Ebenen, die im Ergebnis Chancen auf neuen Märkten aber auch Risiken auf den Arbeitsmärkten mit sich bringen. Früher entlegene Gebiete konkurrieren nun direkt auf allen Märkten und Ebenen miteinander: Immer mehr Menschen wollen am Handelserfolg teilhaben, aufgrund einer ungleichen Wirtschafts- und Steuerpolitik der unterschiedlichen Nationen sieht sich die Politik und sehen sich Wirtschaftsunternehmen aber in einem ständigen Kampf um den Erhalt des eigenen Wohlstands. Und auch in einem Bemühen darüber, die Marktposition zu verteidigen oder die eigenen Bürger überhaupt aus der Armut zu befreien.

In nahezu allen Ländern der Welt gilt das Credo, dass Bildung zu Chancen führt: In Industrienationen für das Individuum, sich auf den Arbeitsmärkten vor dem Hintergrund eines zunehmenden Wettbewerbs zu positionieren und zu bestehen. In Dritte Welt Ländern, überhaupt gegen herrschende Machteliten politisch aufzubegehren. Für Unternehmen ist die Bildung der eigenen Mitarbeiter Voraussetzung dafür, Produkte zu entwickeln, die einen Marktvorteil generieren helfen. Und durch Zustrom vermeintlicher Bildungszertifikate-Träger aus allen Himmelsrichtungen hilft das eigene Zertifikat, sich in diesem Wettbewerb zu behaupten - quasi als Schutzschild gegen berufliche Konkurrenz.

Vorteil gegenüber dem Rest der Welt

Für eine Stadt wie Darmstadt gilt: Exzellente Bildungseinrichtungen bereiten die eigenen oder verbundenen Bürger vor, in Unternehmen Arbeit zu erhalten und vor Ort an Produkten zu forschen, die konkurrenzfähige Unternehmen im nationalen und globalen Wettbewerb bestehen lässt. Die Vernetzung zwischen staatlich (mit-) finanzierten Bildungs- und Forschungseinrichtungen lassen die Unternehmen vor Ort bleiben. In Folge bestehen die gutbezahlten Arbeitsplätze weiter, vielleicht wächst der Wohlstand, zumindest kann dieser erhalten werden. Nur, so wird verbreitet, wer nach Bildung strebt, kann sich den entscheidenden Vorteil gegenüber dem Rest der Welt sichern.

Städte und Gemeinden, die keine Forschungseinrichtungen haben und auch keine Universität wie Darmstadt oder auch keine Fachhochschulen, legen ihre Hoffnungen selbst auf die noch so kleinste Stadtbibliothek als Keim dieser Logik, die folgendermaßen aufgebaut ist: „Bildung=Heilsbringer im Leben durch Steigerung der Konkurrenzfähigkeit, Konkurrenzfähigkeit = größerer wirtschaftlicher Erfolg = höheres Einkommen und höhere Haushaltseinnahmen auf staatlicher bzw. kommunaler Seite“.

Theorie und Realität

In der Theorie klingt die Sache mit der Wissenschaftsstadt Darmstadt daher logisch und charmant, da gesellschaftspolitisch so positiv wirkend. Die Realitäten sind sicherlich nicht verheerend, aber irritieren demgegenüber: Die Stadt gehört zu den am höchsten verschuldeten Städten Hessens. Betrachtet man die Beschäftigtenstruktur laut aktueller Veröffentlichung der Stadt, so gibt es bei knapp 150.000 Einwohnern 2011 etwa 50.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, die in Darmstadt wohnen (bei knapp 90.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten insgesamt). Eine Aussage, wie viele davon Vollbeschäftigte sind, liegt nicht vor: Im Jahr 2007 gab es eine Quote von ca. 80 % von Vollzeitbeschäftigten an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die ihren Arbeitsort in Darmstadt hatten. Nimmt man diese Quote auch für Bewohner Darmstadts an, so wären dies etwa 40.000 Vollbeschäftigte, die in Darmstadt wohnen. Unter Berücksichtigung von 70% der Bevölkerung, die zwischen 15 und 65 Jahren sind, ergibt sich eine „authentische Beschäftigten-Quote“ von annähernd 40 %. Im Klartext: 40 % der erwerbsfähigen Einwohner Darmstadts haben einen vollwertigen Job. Das größte ansässige Unternehmen ist Merck mit etwa 9.000 Mitarbeitern. An der TU Darmstadt arbeiten mehr als 4.000 Menschen, an der Hochschule Darmstadt über 800, also viele Staatsangestellte. Die Arbeitslosenquote liegt offiziell bei etwas über 6 %.

Fata Morgana

Die Zahlen sind demnach weniger beeindruckend, wie der Slogan von der erfolgreichen Zukunft durch Bildung verspricht – gesellschaftlich betrachtet. Wie viele dieser paar tausend verbliebenen Vollzeitbeschäftigten im „Forschungssektor“ arbeitet wirklich daran, dass der Wirtschafts- und Forschungsstandort im globalen Wettbewerb „exzellent“ ist und den Standort Darmstadt und den Rest der Republik voranbringt? Reichen diese Arbeitsplätze aus, um einen Speckmantel auch für eine Stadt oder Gemeinde zu erzeugen, an dem sich der Rest der städtischen Bevölkerung laben und dadurch gut überleben kann?

So ist – gesellschaftlich betrachtet – die Frage zu stellen, ob die verbreiteten Thesen von der Bildung als nationalem Glücklichmacher den Realitäten entspricht oder doch nur eine Speziallösung für einige Wenige ist und für den überwiegenden Rest eine Fata Morgana darstellt. Und es stellt sich die Frage, weshalb Städte und Gemeinden wie Darmstadt auf dieser These reiten.

Eines dieser Teile hin zu einer möglichen Fata Morgana könnte das Problem sein und zugleich als anschauliches Beispiel dienen, dass Bildungspolitik aus der Sicht des Staates gemacht wird, der eine Verwaltung betrachtet und dabei an die Privatwirtschaft denkt: Eine Verwaltung in Deutschland ist ein Gebilde, welches immer noch bestimmten Grundmustern und bestimmten Prinzipien folgt und mit Beamten besetzt ist: Behördenkompetenz, Amtshierarchie, Büros, Fachschulung, Inanspruchnahme der gesamten Arbeitskraft, Regelgebundenheit, es gibt Laufbahnen, lebenslange Stellungen, fest vorgeschriebene Bildungsgänge und immer noch das Gefühl einer Art technischen Überlegenheit, sprich: Effizienz. Es dominieren formelle Prozesse, formale Strukturen, Bildungsabschlussfetischismen.

Natürlich: In einer Verwaltung entscheiden selbstverständlich auch zwischenmenschliche Faktoren über ein Vorankommen, aber hier sind Mechanismen implementiert, die mehr objektive Kriterien wie Abschluss, Fort- und Weiterbildung oder Zeitkriterien als Dauer der Anteilnahme an dem Organismus mitberücksichtigen. Diese spielen in der freien Wirtschaft und im globalen Wettbewerb aber keinerlei oder nur geringfügige Rollen.

Vertrauen erzeugen

Die heutige Bildungspolitik basiert konkret auf dieser verwaltungsorientierten Logik: Man wollte und will durch die Inflation an Bildungs- und Ausbildungsabschlüssen die jeweiligen Arbeiter und Angestellten aufwerten, weil man von der Verwaltungslogik ausgegangen ist, nach der objektive Kriterien maßgeblich über Wohl und Wehe des eigenen Fortgangs entscheiden. In vielen kleinen und mittelständischen Betrieben herrscht aber Monarchie vor und Absolutismus. Hier entscheiden, wie eine Fülle an Studien belegt, die Herkunft, eigene Verbindungen zu Bildungsstätten, Netzwerke und eine Art „Vertrauen“. Dieses „Vertrauen“ erscheint als Schlüssel zur Habhaftwerdung eines Arbeitsplatzes.

In der Verwaltung wird dieses Vertrauen durch das Zertifikat angestrebt, welches unter anderem Intellekt, Expertise und Nachhaltigkeit dokumentieren soll. Wer aber weiß, dass solche Bildungsabschlüsse keinerlei objektiven Betrachtungen beim zumeist kleinen und mittelständischen potentiellen Arbeitgeber unterzogen werden, der ist sich auch bewusst, auf welche Art dieses „Vertrauen“ wirklich hergestellt wird: Durch vertrauensbildende Maßnahmen, die in den jeweiligen Privatwirtschaften zentral sind - Herkunft, Sprache, Habitus, Netzwerk, Ort des Abschlusses.

Dieses Beispiel zeigt: Es gibt keine Chancengleichheit in einem angenommenen globalen Wettbewerb für die Masse, auch wenn eine Stadt oder Gemeinde noch so viele Bildungseinrichtungen als zielführend und allgemeinen Standort- und Attraktivitätsfaktor angibt.

Wesensfremdheit zwischen öffentlichem Bereich und Privatwirtschaft

Das Beispiel geht aber noch tiefer: Bereits Anfang der 1970er Jahre hat der französische Philosoph Pierre Bourdieu diese Illusion der Chancengleichheit beschrieben. Bildung zu erlernen und Zertifikate und Abschlüsse zu erreichen bedeutet noch nicht, in einer bestimmten Wirtschaftskultur auch erfolgreich Fuß zu fassen und angenommen zu werden. Er konstatierte, dass es eine Wesensverwandtschaft der Kultur der Schule und der der oberen sozialen Klassen zum Privileg geben würde. Dies mag in Frankreich vollständig der Fall sein, in Deutschland wohl nur teilweise. Hier herrscht eine Wesensfremdheit zwischen öffentlichem Bereich und Privatwirtschaft vor. Da dies auch immer mehr Eltern wissen, blüht seit Beginn der 90er Jahre das Phänomen von Bildungsträgern, die nicht staatlich sind. Vor 3 Jahren gab es bereits mehr als 5.000 Privatschulen in Deutschland und 2011 etwa 100 staatlich anerkannte Hochschulen in privater Trägerschaft, davon 13 Universitäten und gleichgestellte Hochschulen. Hier kommt es weniger auf die Zertifikate inhaltlich an als auf Netzwerke und die Erlangung von Netzwerkvermögen als oberster Prämisse. Die Konzentration auf die reine Erlangung von Zertifikaten in öffentlichen Bildungsanstalten und die weit verbreitete Tendenz zur Verschulung nimmt den Schülern und Studenten an staatlichen Einrichtungen zudem die Fähigkeit, Kompetenzen in Bereichen aufzubauen, die zumindest einen Ausgleich zu den Netzwerken der Privatwirtschaft bieten und die verwaltungsorientierte Logik staatlicher Abschlussfindung zumindest teilweise abfedern könnten.

Soziale Ungleichheit wird zementiert

Immerhin scheint Bourdieu recht zu haben, wenn er in einem Aufsatz von 2008 betont: Die Sicherheit, im Besitz des wahren kulturellen Kapitals zu sein, befähigt den Lernenden der privilegierten Klasse zu einem souveränen, fast schon arroganten Umgang mit der Kultur. Die Leichtigkeit des Umgangs mit der Kultur wird so als Begabung gedeutet. Dass dies überhaupt möglich ist, wird von staatlicher Seite unterstützt, ganz im Geiste Bourdieus: Die angeblich formale Chancengleichheit führt zu der Illusion, dass davon ausgegangen werden kann, dass alle Lernenden gleiche Bedingungen haben, wodurch die ungleichen Bildungs- und Karriereerfolge zur Begabung stilisiert werden können. Die formale Gleichheit des Bildungswesens führt zu einer verschleierten Reproduktion sozialer Ungleichheiten und legitimiert Statusunterschiede durch Bildung.

Für Städte wie Darmstadt bedeutet dies, dass die Anpreisung der Ideologie der befreienden Schule, die Bildung als Lösung für gesellschaftliche Probleme wie Erwerbslosigkeit, Armut und Ausgrenzung umso zynischer wirkt, wenn der Zugang zu gesellschaftlichen Positionen dermaßen stark durch die soziale Herkunft und den vorgegebenen Weg bestimmt ist. Und eben nicht von Zertifikaten öffentlicher Bildungsanstalten.

Glücksversprechen für Wenige

Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Bildungspolitik als Glücksversprechen kann für verwaltungsorientierte Bereiche gelten und sinnvoll sein, auch in Darmstadt. Weshalb? In den 16 deutschen Landesverwaltungen arbeiten 2,3 Millionen Menschen, für die unmittelbare Bundesverwaltung über 300.000 Menschen, dazu Soldaten und THW-Angehörige usw. Aber für den Rest der Millionen privatwirtschaftlich organisierten Arbeitsplätze spielen diese Ansätze nicht die Rolle, die die (Stadt-) Politik gerne hätte. Und im Ausland ohne deutsche Bürokratie schon gar nicht. Und dies ist das Problem. Daher ist eine Standortpolitik einer Stadt oder Gemeinde á la „Wissenschaftsstadt“, die den eigenen Bürgern suggeriert, dass sich die örtliche Gemeinschaft durch Bildungs- und Forschungseinrichtungen in irgend einer Weise weiterentwickelt, wettbewerbsfähiger wird, zu einem lebenswerteren und wirtschaftlich prosperierenden und daher sichereren Ort werden kann, obsolet. Und im eigentlichen Sinne insofern auch gefährlich, da dadurch die Gefahr besteht, dass gesellschaftliche Rückentwicklungen nur noch weiter gefördert werden und die kommunalen Finanzen durch falsche Schwerpunktsetzungen in Schieflage geraten. Und ist, wenn überhaupt, nur ein Mittel, um in einer deutschen Bürokratie Karriere zu machen oder Fuß zu fassen.

Gefährlicher Weg oder nicht

Darmstadt als Wissenschaftsstadt im globalen Wettbewerb hat insofern auf einen gefährlichen Weg gesetzt. Gegen die jährlich Millionen schwer zu klassifizierenden Bildungsabschlüsse alleine in China sind ein paar tausend Bildungszertifikate deutscher Provenienz und die Abhängigkeit von einigen wenigen Unternehmen ein honoriges Streben, im Konzert der Welt mitzuspielen. Wenngleich auch mit den falschen, da untauglichen Mitteln. Denn Darmstadt ist eine deutsche Stadt, die sich mit deutschen, einer Verwaltungslogik folgenden (Aus-) Bildungszertifikaten eine exzellente und herausragende Insel im Meer der Globalisierung verschaffen will und dies fleißig auch so propagiert. Die Frage bleibt, ob mit solch einer Fata Morgana aber geworben werden sollte oder nicht.

Artikel aus aktuellem HessenHORN, Ausgabe Juni/Juli, Edition 2013. http://www.hessenhorn.de

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Geschrieben von

Richard Hörner

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